«Ich bin einfach neugierig»

Alfred Wüger | 
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Die Schaffhauser Literatur- Dioskuren der knappen Form: Volker Mohr (links) und Erwin Beyeler. Bild: Janette Vogel

Praktisch gleichzeitig legen sie neue Bücher vor. Und das erst noch im selben Verlag: Volker Mohr die Novellensammlung «Der verlorene Himmel» und Erwin Beyeler einen neuen Kurzkrimi mit dem Titel «Kreuzer».

Herr Beyeler, Ihre Kurzkrimis erschienen bislang in der Edition Vogelfrei von Georg Freivogel. Nach dessen Übertritt in den Ruhestand gibt es diesen Kleinverlag nicht mehr. Ihr aktuelles Buch, «Kreuzer», erscheint nun im Loco-Verlag, unter dessen Dach seit vielen Jahren die Bücher von Volker Mohr erscheinen. Wie kam es dazu?

Erwin Beyeler: Das geht zurück auf einen Hinweis von Georg Freivogel. Er meinte, ich solle doch mal die Verlegerin Anne Seiterle, die Ehefrau von Volker Mohr, fragen. Und das habe ich getan.

Herr Mohr, was ist der Loco-Verlag?

Volker Mohr: Das ist schwierig zu sagen. Ich sag’s mit einer Anekdote. Vor langer Zeit war ich bei Egon Ammann, wir sprachen über Max Piccard. Da merkte ich, was ein Verleger ist. Er hat ein weltmännisches Auftreten. Von da an wusste ich, ein Verleger bin ich nicht. Das war ein Schlüsselerlebnis. Seither mache ich verlegerisch nichts. Ich schreibe einfach meine Texte. Die Verlagsarbeit macht Anne Seiterle in Zusammenarbeit mit dem Schaffhauser Dichterpfad. Gerade bei der Herausgabe von zwei Büchern mit Texten der lange vergessenen Erna Heller war das so.

Wenn man das Verlagsprogramm anschaut, scheint es, dass Sie doch wohl der Hauptautor des Loco-Verlages sind.

Mohr: (lacht) Rein quantitativ schon, ja.

Wurde der Loco-Verlag gegründet, um Ihre Bücher zu verlegen?

Mohr: Ganz am Anfang stand die Gailinger Rabbinersfrau Bohrer zusammen mit dem damaligen Gailinger Buchhändler Horst Reichhardt. Das haben wir herausgebracht. Das war der Anfang. Die Idee war: Wir wollen etwas im Bereich Literatur machen. Regional, aber auch anderes. Dann kam das Werk von Max Piccard dazu. Der hat mit der Region nichts zu tun.

Waren Sie auch involviert, Herr Mohr, um Erwin Beyeler den Weg in den Loco-Verlag zu ebnen?

Mohr: Nicht, dass ich Nein gesagt hätte. Aber das war der Entscheid von Anne Seiterle.

Sie hat das Buch auch lektoriert?

Mohr: Nein, es war bereits lektoriert. Das Lektorat des Loco-Verlags liegt im Übrigen schon seit Langem in den Händen von ­Miriam Waldvogel vom Saatgut-Verlag in Frauenfeld.

Wie geht es nun weiter? Werden Sie Erwin Beyeler wieder verlegen?

Mohr: Ja, absolut. Man fängt ja nicht etwas an, um später wieder damit aufzuhören.

Beyeler: Ich habe zurzeit allerdings nichts Grösseres in Arbeit. Nur Kleinigkeiten.

Was wäre denn das Grössere, das Ihnen vorschwebt?

Beyeler: Etwas Grösseres wäre ein Wunsch. Aber ich weiss nicht genau, in welche Richtung das gehen könnte. Als Schaffhauser in meiner Situation ist man zu satt. Ich kann nicht über ein Flüchtlingsdrama schreiben, und ich habe keine Vorfahren, die Nazis waren. Alle diese dramatischen Konstellationen fehlen bei mir. Ich bin ein glücklicher, biederer Schaffhauser.

Wie wär’s denn mit dem Tagebuch eines glücklichen, biederen Schaffhausers?

Beyeler: (lacht) Ich habe viel Fantasie und kann mir wahnsinnige Abläufe und Geschichten vorstellen, aber ob das dann auch ein Buch gibt, das ist dann eine ganz andere Frage.

Wann haben Sie den «Kreuzer» geschrieben?

Beyeler: Schon lange. Dann habe ich ihn wieder weggelegt. Es war damals, als der «Keller» herauskam, eine Doppelausgabe mit dem «Kreuzer» geplant, aber man fand, das Buch würde dann zu dick. Dabei würde ich gerne mal ein dickes Buch veröffentlichen.

Bedeutet das, dass Sie im Grunde schon seit Längerem nichts mehr geschrieben haben?

Beyeler: Nein, nicht nichts. Aber nur wenig. Ich habe den «Kreuzer» noch einmal überarbeitet und fand, das tut ganz gut, wenn ein Text eine Weile gelegen hat. Du schaust es an und denkst: «Was, das habe ich ­geschrieben?»

Und wie sind Sie auf den «Kreuzer» mit der rätselhaften Iranerin Nazenin gekommen?

Beyeler: Das war einfach eine Fantasiegeburt. Das ergibt sich dann mal so.

Herr Mohr, in Ihrem neuen Buch sieht man eindeutig, dass die Corona-Mass­nahmen Pate gestanden haben. Von einer Nasenpflicht ist die Rede, von Ansteck­rauten, die alle haben müssen. Haben Sie während des Lockdowns geschrieben? Hat Sie die Pandemie beflügelt?

Mohr: Beflügelt vielleicht nicht gerade. Sondern eher beängstigt. Von der Motivik her ist mein Buch ja nichts Neues. Das Dystopische ist mein Markenzeichen.

Eine Dystopie ist eine Art gesellschafts­kritisches Gegenbild zur oft positiv gedachten Utopie. Dystopische Geschichten wollen warnen. Man denkt zurück an Ihr Buch «Die Staubdämonen». Darin konkretisierten Sie schon vor der Pandemie dystopischen Verhältnisse.

Mohr: Genau. Das hat mich ja selber überrascht. Es geht in jenem Buch um ein Virus, das den Zement zersetzt. Und später ist das Virus in anderer Form dann ja tatsächlich erschienen. Ein Leser schrieb mir, die ­Realität sei in meinen Geschichten ange­kommen. Das hat etwas. Plötzlich war eine Thematik ganz nahe, die vorher weit weg geschienen hatte.

«Als ein Schaffhauser in meiner Situation ist man zu satt. Ich bin ein glücklicher, biederer Schaffhauser.»

Erwin Beyeler, Autor

Haben Sie das Gefühl, Sie hätten etwas vorausgeahnt, oder denken Sie, das sei einfach eine Koinzidenz?

Mohr: Eine seherische Kraft schreibe ich mir nicht zu. Das wäre vermessen. Die Idee war einfach da.

Und die neuen Kurzgeschichten?

Mohr: Das war natürlich schon während der Coronazeit, dass ich die geschrieben habe. Gewisse Ereignisse stehen denn auch hinter den Handlungssträngen, nicht real zwar, aber von den Eindrücken her und vom Austausch her.

Wie kommen Sie zu Ihren Ideen? Träumen Sie kräftig und stehen Sie am Morgen früh auf und eilen zum Computer? Oder geht es eher nüchtern her und zu?

Mohr: Ich glaube, letztlich ist es eine nüchterne Angelegenheit. Und es ist auch Arbeit. Man muss sich hinsetzen und die Arbeit leisten. Dabei gäbe es andere Dinge, die man tun müsste.

Warum erledigen Sie die anderen Dinge denn nicht?

Mohr: Ich mache das andere schon auch. Aber schreiben tue ich lieber.

Und das Schreiben ist auch vordringlicher?

Mohr: Absolut vordringlicher. Bei diesem Bereich geht es nicht um die Existenz, bei anderem geht es um die Existenz. Die Existenz bewältigt sich leichter, wenn ich schreibe.

Herr Beyeler, wie schreiben Sie? Wenn man Ihnen auf der Strasse begegnet, scheinen Sie oft in Gedanken weit weg zu sein. Sind da Prozesse im Gang, die sich zu einer Idee verdichten? Haben Sie immer einen Notizblock dabei?

Beyeler: Ich habe schon immer Notizzeug bei mir, aber es kommt selten vor, dass ich stehen bleiben muss, um etwas aufzuschreiben. Aber der Eindruck ist schon richtig: Ich träume vor mich hin, fantasiere herum und versuche das zu verdichten und zu konkretisieren und zu fassen, sodass es einen glaubwürdigen Ablauf gibt.

Sie haben den «Kreuzer» noch einmal überarbeitet. Wie viele Fassungen gibt es denn in etwa?

Beyeler: Es sind mehrere Fassungen. Oft habe ich nur Teile geändert. Ich schreibe eigentlich am Computer, aber manchmal schreibe ich die Dinge zuerst von Hand. Der Gedanke kommt mir auf diese Weise besser zu Papier. Der Computer ist für mich etwas Flüchtiges, etwas Unbeständiges. Wenn ich von Hand auf Papier geschrieben habe, dann ist es auch da. Eine Computerdatei muss ich erst ausdrucken, bis es vorliegt. Allerdings ist das Schreiben am Compi inzwischen auch etwas Währschaftes.

Und Sie, Herr Mohr, haben Sie ständig einen Notizblock bei sich? Streifen Sie überhaupt je in Musse durch die Gegend?

Mohr: Es ist nicht ganz so idyllisch, wie man sich das vielleicht vorstellt. Klar kommt einem ab und zu eine Idee. Dann nehme ich mein Handy und schreibe mir selbst eine SMS. Das ist zwar selten, aber das kann passieren. Aber ich marschiere nicht mit Notizblöcken herum. Wenn ich am Computer sitze, dann schreibe ich das, was dann kommt, ohne Vorarbeit, ohne Recherche. Ich schreibe sehr aus dem Bauch heraus.

Schnell, im Zehnfingersystem?

Mohr: (lacht) Nein, das kann ich nicht, aber schnell schreiben kann ich durchaus. Schnell und kurz, zehn Minuten. Ich könnte nicht zwei Stunden dran sitzen. Ich arbeite kurz und konzentriert. Und dann ist es wieder vorbei. Und es kommt etwas anderes.

Aber in zehn Minuten schreiben Sie vermutlich kein ganzes Buch?

Mohr: Ich weiss nicht, wie die Geschichte ausgeht. Irgendwann zeichnet sich das dann ab. Aber ich muss dranbleiben, sonst wäre die Geschichte wieder weg. Aber es geht in diesen kurzen Sequenzen weiter. Wenn ich an einer Geschichte dran bin, dann muss sie auch zu Ende erzählt werden. Dann kann ich nicht eine Woche lang nichts machen. Es gibt jeweils eine Eigendynamik.

Und bei Ihnen, Herr Beyeler? Herr Mohr hat von Eigendynamik gesprochen. Ab wann wussten Sie, dass der «Kreuzer» etwas wird?

Beyeler: Ich muss eine Idee haben. Der Anfangskeim ist oft sehr klein. Manche sagen, man müsse wissen, wo man endet, sonst kommt man nicht an. Das trifft für mich nur bedingt zu. Wenn ich merke, das könnte etwas geben, dann fange ich an. Nachher ist es eine Frage des Rhythmus. Der Körper stellt sich darauf ein: Jetzt wird geschrieben. Dann ist auch die Stimmung gut zum Schreiben.

Sie ordnen also alles dem Schreibprozess unter?

Beyeler: Ja. Das kann am Ende des Morgens sein oder in der Mitte des Nachmittags. In letzter Zeit habe ich nachts geschrieben.

Mohr: Ich bin ein Morgenmensch. Bei mir kann es schon morgens um fünf losgehen.

Beyeler: Ich bin überhaupt kein Morgenmensch.

Wie erleben Sie den Kontrast zwischen Innenwelt und Aussenwelt? Wie stark sind Sie beide in der Realität verhaftet?

Beyeler: Ich bin oft stärker in der Fantasie als in der Realität.

Mohr: Für mich ist die Fantasie fast wichtiger als die Realität, ich gebe ihr dieser eigenen Welt den Vorzug. Allerdings ist diese eigene Welt nicht etwas total anderes. Sie ist einfach stärker angereichert mit eigenen Dingen. Und es gibt mehr Möglichkeiten. Zwar ist auch die Fantasie beschränkt, aber durch andere Dinge als die Realität. Und für mich ist das eine stimmigere Welt als die andere. Aber ich weiss natürlich: Der Realität kann ich nicht entfliehen. Das Leben muss man leben und bestehen. Aber es tut gut, in die eigene Welt gehen zu können.

Was würde Ihnen, Herr Beyeler, fehlen, wenn Sie nicht schreiben könnten?

Beyeler: Sehr viel würde fehlen. Ich schreibe gern. Der Schreibvorgang fasziniert mich. Ich schreibe viele Briefe, Tagebuch. Wäre ich auf dem Weg auf eine einsame Insel, würde ich Stift und Papier mitnehmen. Es ist eine Frage des Sich-Äusserns oder eine Art, mit sich selber zurande zu kommen, dass man Dinge aufschreibt.

Hat das einen therapeutischen Effekt, oder ist das zu viel gesagt?

Mohr: Für mich wäre das zu viel gesagt. Meine Geschichten haben mit mir selber gar nicht so viel zu tun. Nur insofern, dass ich sie geschrieben habe. Aber mit meinem Lebensalltag haben sie nichts zu tun. Es tut gut, die Geschichten zu schreiben. Es geht darum, zu merken und zu spüren, dass man mehr beim Eigenen ist.

«Es tut gut, die Geschichten zu schreiben. Es geht darum, zu merken und zu spüren, dass man mehr beim Eigenen ist.»

Volker Mohr, Autor

Wie geht Ihr Schreiben mit dem Alltag als Familienvater zusammen? Haben Sie an der Tür zum Arbeitszimmer ein Schild mit der Aufschrift «Bitte nicht stören»?

Mohr: Nein, gar nicht. Mich stört es nicht, wenn man mich stört. Ich falle auch nicht aus der Geschichte und aus meinen Gedanken heraus, wenn während des Schreibens jemand an mich herantritt. Mittlerweile liest der ältere Sohn Nietzsche, und es ist sehr bereichernd, wenn wir darüber reden können.

Und Sie, Herr Beyeler, haben auch Sie schon während des Berufslebens als Anwalt angefangen zu schreiben?

Beyeler: Ja.

Dann gibt es wohl einen Tresor mit unveröffentlichten Manuskripten?

Beyeler: Nein. Es ist auch nicht so, dass ich wirkliche Fälle verarbeite wie Ferdinand von Schirach. Zwar verwende ich Kenntnisse aus dem Berufsleben, ich weiss natürlich, wie eine Einvernahme verläuft, aber reale Fälle kommen nicht vor.

Etwas Prosaisches? Wie finanziert sich der Loco-Verlag?

Mohr: Der Verlag muss sich selber tragen. Natürlich versucht man, die Produktion der Bücher sehr günstig zu halten. Es gibt keine Zuschüsse. Und der Verlag trägt sich auch tatsächlich selber, sonst würde er ja nicht mehr existieren. Wir machen keinen Gewinn, aber auch keinen Verlust.

Und wie gross ist Ihre Backlist, Ihr Bücherlager?

Mohr: Max Piccards Werk haben wir vom Amman-Verlag übernommen. Von diesen Werken aus den 1950er- und 1960er-Jahren gibt es ein Lager, zum Teil noch mit ori­ginalverpackten Büchern. «Die Welt des Schweigens» wird immer wieder verlangt. Bei den andern Werken ist die Nachfrage kleiner. Leider gerät der Autor Max Piccard immer mehr in Vergessenheit. Er beschreibt seine Themen auf ganz eigene Art. Bei den anderen Büchern gibt es nur ganz kleine Lagerbestände.

Volker Mohr, Seltsame Clowns und die Freiheit

Volker Mohr wurde 1962 geboren in der Nähe von Schaffhausen, wo er auch heute lebt. Er schloss seine Ausbildung als Architekt ab. In den 1990er-Jahren wandte er sich der Literatur zu. Zuletzt ist von ihm im Loco-Verlag der Novellenband «Unter Menschen» erschienen. Volker Mohr lebt mit seiner Familie in Schaffhausen.

«Das Dystopische ist mein Markenzeichen.» Dies sagt der Schaffhauser Autor und Literaturvermittler Volker Mohr im Interview auf dieser Seite. Eine Dystopie ist eine Art negativer Utopie mit einem Touch Gesellschaftskritik. Wer das Werk von Volker Mohr ein wenig kennt – und es ist inzwischen umfangreich –, der erkennt, dass es darin immer um Verborgenes, nicht Augen­fälliges geht. Die Protagonistinnen und Protagonisten sehen sich Prozessen gegenüber, die sie nicht beherrschen können. Das ist auch im neusten Werk «Der verlorene Himmel» so. Fragt sich nur, wo der Himmel, der jetzt verloren ist, einst war. Im neuen Band haben die Ereignisse der Coronakrise wie zum Beispiel die Maskenpflicht deutliche Spuren hinterlassen. Ganz offensichtlich sind die Menschen in den sechs eigenständigen Geschichten in diesem Band nach den Dingen, die sie erlebt haben, nicht mehr dieselben wie ehdem. Ihr Leben ist beschnitten. Volker Mohr pflegt einen knappen, flüssigen Schreibstil ohne Schnörkel.

 

Es geht beim Loco-Verlag also auch um ein kulturpolitisches Anliegen. Könnte das Programm wachsen?

Mohr: Ich will mit diesen Fragen gar nicht so viel zu tun haben. Vielleicht, dass ich einmal eine Empfehlung ausspreche. Aber ich sehe natürlich, mit wie viel Arbeit der Verlag verbunden ist. Würde das Programm wachsen, müsste auch die Infrastruktur wachsen. Wir werden sicher nie zehn oder mehr Titel pro Jahr herausgeben.

Herr Beyeler schreibt gegenwärtig nur sehr wenig. Machen Sie, Herr Mohr, auch mal schöpferische Pausen?

Mohr: Nein. Bei mir geht es nahtlos weiter. Allerdings kommt es immer mehr zur kleineren Form. Darin sehe ich meine stilistische Entwicklung. Der grosse Roman steht bei mir nicht im Vordergrund. Es sind stattdessen Novellen und Miniaturen. Ich bin ein absoluter Fan von Märchen. Dort ist in wenigen Sätzen das Wichtigste gesagt. Es gibt kaum Adjektive. Es wird einfach gesagt: So ist es, und nichts wird erklärt.

Schreibende sind oft grosse Leser. Trifft das auch auf Sie beide zu?

Beyeler: Ich lese sehr viel. Gegenwärtig habe ich den «Leoparden» von Giuseppe Tomasi di Lampedusa in Arbeit. Ich kam darauf wegen eines Interviews mit Ferdinand von Schirach. Da kamen ein paar Bücher zur Sprache. Jetzt will ich dann «Graue Bienen» von Andrej Kurkow lesen. Von Ralf Rothmann habe ich einiges gelesen und auch «Die Rückkehr der Gewohnheiten» von Jürgen Becker. Das sind ganz kurze Betrachtungen ohne grosse Handlung, eher Gedanken, Erinnerungen. Du siehst etwas, und du erinnerst dich an etwas. Einfach so darauflos fabulieren könnte ich nicht. Schreibtechnisch interessiert es mich, die Menschen zu beschreiben durch das, was sie tun, nicht dadurch, wie sie aussehen. Darüber hinaus lese ich spanische Literatur im Original zusammen mit einem Kollegen.

Mohr: Ich nehme mir viel Zeit zum Lesen: Erzählungen, immer wieder auch Sachtexte. Bei Erzählungen kann ich eintauchen in eine andere Welt. Das sagt mir zu. Wenn mir etwas zusagt, dann muss ich immer gleich das Gesamtwerk lesen.

Das kann aber aufwendig sein!

Mohr: (lacht) Ja! Ich habe das Gesamtwerk ­gelesen von Dino Buzatti. Er hat Kurzgeschichten geschrieben und arbeitete bei einer Zeitung. Ein anderer ist Leo Perutz. Da bin ich auch durch das Ganze hindurch. Ich lese eher ältere Autoren, weniger zeitgenössische. Die ganzen Magazine zum Literaturherbst nehme ich nur punktuell zur Kenntnis.

Gibt es sonst noch Lieblingsautoren?

Mohr: Eine Lieblingsautorin ist Ilse Aichinger. Sie hat gar nicht viel geschrieben, einen Roman und dann Kurzgeschichten. Sie ging bis zur absoluten Verdichtung. Das entspricht mir sehr.

Und Lyrik?

Mohr: Ich bin kein grosser Lyrikliebhaber. Die «Duineser Elegien» von Rilke liebe ich allerdings sehr. Für mich muss Lyrik nicht logisch aufgehen, sondern ich will eine Stimmung herausholen. In diese Elegien gehe ich immer wieder hinein.

Und Sie, Herr Beyeler, wäre Gedichteschreiben etwas für Sie?

Beyeler: Das habe ich auch schon versucht. Mein Lieblingsautor ist eindeutig Max Frisch. Auch Pascal Mercier lese ich gern. Sonst habe ich keine absoluten Lieblingsautoren. Ich bin einfach neugierig. Gegenwärtig auf «Lektionen» von Ian McEwan. Auch «Crossroads» von Jonathan Franzen fand ich sehr gut, weiss aber nicht, ob das einfach eine Mode ist. Der Umgang dieser Autoren mit der Sprache gefällt mir. Mir geht es beim Schreiben auch um den präzisen Umgang mit der Sprache.

Schlussfrage an beide: Warum soll man Ihr Buch lesen?

Mohr: Mein Buch soll man lesen, weil es ­literarisch verfremdet die Zeitqualität charakterisiert, unterhält und gleichzeitig, so hoffe ich, zum Nachdenken anregt.

Beyeler: Meine neue Geschichte ist die Antwort an die vielen Leserinnen und Leser, die mich bei Begegnungen jeweils fragen, ob ich wieder am Schreiben sei. Voilà. 

​​​​​​​Erwin Beyeler, Im Banne der schönen Nazenin

Erwin Beyeler wurde 1952 geboren und lebt in Schaffhausen. Er ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Töchter. Sein juristisches Berufsleben begann er als Gerichtsschreiber, war Rechtsanwalt, Polizeioffizier und Staatsanwalt.

«Kreuzer», schlicht erzählt, kunstvoll gebaut: Die Rhybadi spielt eine Rolle, ein Café im Wiener Stil, und was mit der Lebensstimmung eines Pensionärs recht beschaulich beginnt, entwickelt nach und nach einen Sog, sodass man das Buch in einem Zug durchlesen kann, aber danach Lust hat, noch einmal hineinzuschauen. Natürlich nicht zuletzt wegen der iranischen Schönheit Nazenin, rätselhaft, heimatlos, in die Jan, ein Junge aus Kreuzers Nachbarschaft, verliebt ist. Kreuzer wiederum ist in Jans Mutter verliebt. Und plötzlich schiessen die Ereignisse voran. International vernetzte Schlepper tauchen auf und benutzen Nazenin als Lockvogel. Aber Kreuzer ist zu schlau. Er geht nicht ins Netz. Dafür muss der pensionierte Kriminalkommisär Grob büssen, den Kreuzer vor den dramatischen Entwicklungen jeden Morgen im Café getroffen hatte. Auch jetzt, am Schluss, trifft er ihn dort: allerdings tot, mit durchschnittener Kehle.

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