«Ich war saumässig stolz auf mich»

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Eigentlich suchte die Beringerin Jessica Lörcher nur nach einer Möglichkeit, ihr Baby ohne Rückenschmerzen zu tragen. Dann entdeckte sie Tragetücher und ein altes Handwerk für sich: das Weben. Heute färbt sie auch ihr Garn selbst.

von Jurga Wüger

Vor 22 Monaten wurde die Beringerin Jessica Lörcher Mutter. Weil ihre kleine Tochter Corina am Anfang viel weinte, wollte die heute 26-Jährige sie oft bei sich tragen. Anfangs nutzte sie dafür eine Tragehilfe – bis sie Rückenschmerzen bekam. Als sie in der Trageberatung von den Vorteilen eines Tragtuches erfuhr, probierte sie ein solches kurzerhand aus. Schon bald konnte die gelernte Hochbauzeichnerin ihrer Tochter ohne Rückenschmerzen Geborgenheit und Wärme vermitteln.

Die Tante des Ehemannes gab Tipps

Doch die maschinell gefertigten Tücher gefielen Jessica Lörcher nicht besonders. Und die Handgewobenen haben mit bis zu 1500 Franken einen stattlichen Preis. «Ein solches Tragetuch war für mich unvorstellbar teuer», sagt sie. Allein schon der Gedanke, dass das teure Gewebe schmutzig werden könnte, war ein Ausschlusskriterium. Da sei ihr plötzlich die Idee gekommen, das benötigte Tuch selbst zu weben. Wochenlang sah sich Jessica Lörcher Videos im Internet an, sie besorgte sich eine «Web-Bibel» und versuchte, alle Kniffe und Kniffligkeiten des alten Handwerks zu verstehen. Ihr Mann war anfangs skeptisch. «Er konnte sich nicht vorstellen, dass Weben Spass machen könnte», erinnert sich Lörcher. Nach und nach steckte ihre Begeisterung aber auch ihn an. Und es kam ihr sehr gelegen, dass die Tante ihres Mannes früher im Berufsbildungszentrum als Weblehrerin unterrichtet hatte und ihr mit nützlichen Tipps zur Seite stehen konnte.

«Ohne das Weben kann ich mir mein Leben nur noch schwer vorstellen.»

Jessica Lörcher, Hobby-Weberin

Nach einer rund zweimonatigen Phase, in der sie sich informiert und orientiert hatte, machte sich Lörcher auf die Suche nach einem passenden Webstuhl und wurde im Internet fündig. Bald nannte sie einen gut erhaltenen Webstuhl für 500 Franken ihr Eigen. «Das war mein Startkapital», sagt sie heute lächelnd.

Der Webstuhl steht im Wohnzimmer

Als das Möbel zu Hause im Wohnzimmer stand, sei sie «ganz naiv ans Werk» gegangen und habe sich Seite für Seite durch ihr Handbuch gekämpft. Ein Tischläufer sollte ihr erstes Werk werden. Es fiel, wie die junge Weberin sagt «krumm und schief» aus. Aber: «Ich war saumässig stolz auf mich.» Das erste Ziel war erreicht. Zeit für die junge Mutter, sich an ein Tragetuch zu wagen. Dafür habe sie einen Monat gebraucht, erzählt sie, weil vieles nicht so gelaufen sei, wie sie es sich vorgestellt hatte. Auch das Endprodukt sei nur mässig zufriedenstellend gewesen. Sie recherchierte erneut. Und fand heraus, dass erfahrene Weberinnen ihr Garn selbst färben.

«Plötzlich war noch ein Thema mehr da. Das Färben», sagt Lörcher. Der Ehrgeiz packte sie, sie brachte sich das nötige Wissen selbst bei. «Das Färben ist eine perfekte Ergänzung zum Handwerk des Webens.» Indem sie die Grundfarben Gelb, Blau und Rot mischt, ist die Farbpalette für ihre Garne fast unbegrenzt. Inzwischen webt Jessica Lörcher Tragetücher, Tischläufer und Loops für Freunde. Jedes Tragetuch ist ein Unikat. Im Ordner auf dem Tisch sind Garnreste abgelegt, passend zum jeweiligen Tuch, sollte eines kaputt gehen. Viele ihrer Kolleginnen trügen ihre Kinder inzwischen in Tüchern.

Gedanken und Gefühle sortieren

Ihr Hobby, das Jessica Lörcher zugleich als eine Art Berufung sieht, ist ein perfekter Ausgleich zu ihrem Dasein als Mutter. «Ich brauche genau so viel Zeit für mich, wie ich tagsüber mit den anderen verbringe. Abends sortiere ich meine Gedanken und Gefühle.» Das monotone Geräusch des Webstuhls und die immer gleichen Bewegungen seien für sie wie Meditation, während ihr Mann für seine Weiterbildung büffle und die kleine Tochter friedlich im Bettchen schlummere.

Wenn Jessica Lörcher nicht webt, dann bereitet sie Farben vor, macht sich Gedanken über mögliche Muster und lässt sich von der eigenen Kreativität überraschen. Inzwischen hat sie den alten Webstuhl durch einen neuen ersetzt. Dieser habe 9000 Franken gekostet, die grosse Investition sei aber jeden Rappen wert gewesen. Für Jessica Lörcher steht fest: «Ich muss noch viele Tragetücher weben, bis dieser Betrag wieder reinkommt. Aber ohne das Weben kann ich mir mein Leben nur noch schwer vorstellen.»

Der neue Webstuhl steht zentral im Wohnzimmer, damit Jessica Lörcher weben kann, während Corina auf der Spielmatte verweilt. Ob sie das Weben gewerblich aufziehen möchte, ist ihr noch nicht ganz klar. Ihr noch junges Label trägt den Namen «loewe.art». Er sei ein persönliches Statement zum Leben, sagt Jessica Lörcher und lächelt.

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