Der renommierte Maler Velimir Ilišević über seine Zeit in Berlin

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Velimir Ilišević ist seit vielen Jahren in Schaffhausen als renommierter Maler bekannt. Aber dass er auch schreibt, wussten nur wenige. Wir publizieren hier in loser Folge seine Bilder und Beobachtungen, die in Berlin entstanden sind.

von Velimir Ilišević

Karte der Welt

In vielen Berliner Kneipen ist die Wandfläche vollständig oder teilweise abgekratzt. Es gelingt mir nicht, einen richtigen Grund für diese Gestaltung des Raumes zu finden, ausser dass ich annehme, dass dem, was einmal abfallen sollte, so das Warten verkürzt wurde. Auf solchen teilweise freigelegten Wänden lassen sich an den Resten des Putzes für uns unbekannte Weltkarten und Kontinente erkennen, die zufällig oder durch die Entscheidung des verantwortlichen Handwerkers entstanden sind. Diese gesprenkelten Flächen strahlen eine gewisse Lässigkeit und Gleichgültigkeit aus, die beruhigt und nichts verlangt. Vielleicht hätte die Welt auch so erschaffen und eingezeichnet werden können. Augen

Ich beobachte die Tauben.

Sie sind ruhige und gleichberechtigte Bewohner dieser Adresse. In ihren grauen Körpern und verteilt auf den Fensterbänken sehen sie aus wie Soldaten, wie Wächter dieses Innenhofs.

So dicht und schweigsam, als ob sie auf etwas warten, von dem wir noch nichts wissen oder ahnen, etwas, das schon längst vorbereitet wurde und auf uns zukommt.

Nur sie sehen es in ihren wasserhellen Augen.

Langsamkeit

Ein grosser Teil meines Tages ist ruhig. Es sind sanfte Bewegungen, die sich fast unbemerkt nacheinander fügen. Die Gedanken sind ebenso zurückhaltend, und nur einige wagen es, sich bemerkbar zu machen, sich anzukündigen, mit denen von gestern in Verbindung zu treten, etwas Gemeinsames zu schaffen, wenigstens zu versuchen, ob am Ende doch etwas gelingt, ob sich am Ende doch etwas ergibt.

«Die Strasse scheint mich zu wecken. Das gleichmässige, immer schneller werdende Bewegen der Beine im Gang, als ob allmählich, über den Atem, meine kreativen Zentren aktiviert werden.»

 

Das Gespräch, nebensächlich. Es will einfach nicht richtig beginnen, sich nicht entfalten, nicht von selbst weiterentwickeln, sodass Wort auf Wort folgt, die Musik der Stimmen ertönt, eine Pause zwischen den wichtigen Sätzen grollt, das neue Wort ersehnt wird und immer wiederkehrt. Nichts davon!

Die Strasse scheint mich zu wecken. Das gleichmässige, immer schneller werdende Bewegen der Beine im Gang, als ob allmählich, über den Atem, meine kreativen Zentren aktiviert werden.

Wann immer in diesem Wechsel von links-rechts, so denke ich zumindest, die Antriebsräder irgendwo im Bauch in Gang gesetzt werden, dies wiederum treibt die anderen an – und so wird alles über das Herz mit dem Gehirn verbunden.

Zur Person

Velimir Ilišević ist in Prijedor (Bosnien und Herzegowina) aufgewachsen. Mit 24 Jahren übersiedelt er in die Schweiz. Macht Bekanntschaft mit dem Künstler Josef Gnädinger aus Ramsen im Kanton Schaffhausen. Seit 1990 beteiligt sich Ilišević an zahlreichen Ausstellungen.

In diesem Gehen, während ich mich von der Seite betrachte, komme ich mir vor wie eine schöne und wertvolle Uhr, um die sich jemand gestern Nacht, da er mit etwas beschäftigt war, was wir jetzt nicht im Detail wissen müssen, nicht gekümmert hat und es versäumte, die Räder für den morgigen Tag, der bereits schon längst begonnen hat, aufzudrehen, und es jetzt schnell nachholt.

Und wenn ich in diesem Rhythmus, schon ein wenig ausser Atem und von etwas Schönem erleuchtet, vor dem roten Ampellicht halte, spüre ich beim Warten, dass die Gedanken fliessen, dass dieser seltsame Mechanismus sie in Ordnung bringt und dass in mir allmählich eine Geschichte aufgebaut und erzählt wird. Die Märzensonne ist angenehm und voll einer Hoffnung, die diese schüchterne Wärme bringt, durchzogen von einem kühlen Wind, der sich über die Kreuzung verbreitet.

Die Jugend weiss das noch nicht, spürt es nicht. Als ob der Winter nie existiert hätte, tragen sie bereits bunte T-Shirts mit Aufschriften und sind bereit für den Sommer.

«Die Jugend hat nichts zu verlieren, die Jugend scheint ewig zu sein.»

 

Die Jugend hat nichts zu verlieren, die Jugend scheint ewig zu sein.

Wir, bereits gealtert und weit entfernt von unserem Frühling, bewahren unser eigenes Alter, damit es uns nicht überholt, indem wir die Mäntel bis zum Hals zuknöpfen, als würden wir vor dem Wind auch die Erinnerungen an unsere einst ebenso ewige und ähnlich gefrorene und abgenutzte Jugend schützen. Grün ist das Symbol der Bewegung. Man muss, also, weitergehen, den verstreuten Spuren auf dem Weg folgen.

Sonntagnachmittag

In einem gemütlichen italienischen Restaurant in Lichterfelder Ring, besonders sonntags, treffen sich Gäste aus dem nahe gelegenen Altenheim. In kleinen Gruppen mit ihren Familien, manchmal zu zweit, geniessen sie ihren Sonntagsausgang.

Italien weiss, wie man die Jugend in das alternde Blut zurückbringt. Interessant sind die Tische, an denen Familien und mehrere Generationen zusammen sitzen. Das Gespräch über familiäre Beziehungen, die nur den Ältesten am Tisch bekannt sind, belebt schnell die Gesichter der Alten und verleiht ihnen wieder Bedeutung und Wichtigkeit, als seltene oder alleinige Besitzer dieser Informationen. Aus manch verstaubten Ecken des Gedächtnisses werden Namen und Blutsverwandtschaft von längst verstorbenen Vorfahren hervorgeholt sowie ihre Verbindung zu diesem Tisch. So erblühen an diesem regnerischen Sonntagnachmittag aus den Erinnerungen erneut frische Zweige dieses, durch die verflossene Zeit schon etwas vertrockneten, Familienbaums.

Zur Person

Velimir Ilišević

Velimir Ilišević ist in Prijedor (Bosnien und Herzegowina) aufgewachsen. Mit 24 Jahren übersiedelt er in die Schweiz. Macht Bekanntschaft mit dem Künstler Josef Gnädinger aus Ramsen im Kanton Schaffhausen. Seit 1990 beteiligt sich Ilišević an zahlreichen Ausstellungen.

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