Historische Fotos neu entdeckt: Schaffhauser prägen das visuelle Gedächtnis der Schweiz

Till Burgherr (tbu) | 
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Schaffhauser Revierjäger bei der Rast nach einer Treibjagd um 1890. Bild: Stadtarchiv Schaffhausen

Ein neuer Fotoband eröffnet eindrucksvolle Einblicke in die Geschichte der Schweiz. Historische Aufnahmen zeigen unter anderem die Rhybadi und das Leben der Schaffhauser Bauern in Merishausen – Momentaufnahmen, die den Alltag vergangener Zeiten lebendig werden lassen. Eine visuelle Zeitreise beginnt.

Es sind verwinkelte Gänge am Institut für Sozialanthropologie und empirische Kulturwissenschaft in Oerlikon. Einige Hundert Meter durch die Wirren des Gebäudes zurückgelegt, findet man Professor Alfred Messerli. Dieser hat mit seinem Kollegen Bernhard Tschofen ein Buch herausgegeben, welches Einblicke in die Schaffhauser Geschichte ermöglicht. Es geht dabei um Fotogeschichten, um das visuelle Gedächtnis der Schweiz. Es ist der Erste von vier Bänden mit historischen Fotografien aus der Schweiz, die das Leben der vergangenen Jahrzehnte dokumentieren.

Wir sitzen in der Cafeteria, und Alfred Messerli blättert im Buch – auch hier kann man sich verlieren, wie in den Gängen des Campus. Über die Fotografien finden wir einen Zugang zu vergangenen Zeiten, tauchen ein in die Welt der Bilder. Es sind rund 600 Fotos aus über 30 Archiven und Sammlungen der Nordostschweiz, die im Band vereint sind.

Zur Person

Alfred Messerli ist Titularprofessor der Universität Zürich und lehrte und forschte nach Stationen in Bremen, Pavia und Genf von 2001 bis 2019 am ISEK – Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft. Er arbeitete u.a. zur Kinderfolklore und zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz. Weitere Schwerpunkte seiner zahlreichen Veröffentlichungen sind Erzählforschung, Selbstzeugnisse, Massenbilderforschung und Lesergeschichte.

In der heutigen Zeit sind wir es uns durch die sozialen Medien gewohnt, eine Flut von Bildern zu verarbeiten, wir kennen schrille und laute Bilder. Eigentlich kann uns nichts mehr überraschen. Warum sollten wir also gerade diesen Bildern unsere Zeit widmen? Die Antwort ist kurz: Es lohnt sich.

«Die Fotos werden durch die Betrachtung aus ihrem Korsett befreit.»

Alfred Messerli, Autor

Hier geht es um ausgewählte Exemplare aus einer anderen Zeit. Sie sind anders als die Bilder, die wir täglich verarbeiten. Viele dieser Fotos wirken inszeniert und trotzdem authentisch, für jene Zeit. Sie erzählen von Menschen und Orten und geben Einblick in den Alltag einer Gesellschaft im Wandel. «Die Mehrheit der Bilder sind funktionale Fotos», sagt Messerli. Damit meint er zum Beispiel dokumentierende Fotografien aus der Industrie, Röntgenbilder, Fotos, die Maschinen zeigen, wie etwa ein Flugschiff oder ein Fesselballon der Schweizer Armee.

Auch Polizeifotos von Verkehrsunfällen und Fahndungsbilder gehören zu den Funktionsbildern. Wenn wir nun Jahre später diese Fotografien betrachten, passiert etwas zwischen uns und den Bildern, sagt Messerli. «Die Fotos werden durch die Betrachtung aus ihrem Korsett befreit.» Die Betrachterin, der Betrachter schaut mit einem andern Blick, einem anderen Wissen auf die Fotografie. Plötzlich steht nicht mehr die Funktion des Gegenstandes auf dem Bild im Vordergrund, sondern die Stimmung einer vergangenen Zeit, die das Bild vermittelt. «Die Fotografien verlieren beim Betrachten ihren ursprünglichen Auftrag. Sie werden dekontextualisiert», sagt der Professor.

Messerli blättert weiter, auf Seite 60 hält er inne. Ein Foto zeigt zwei Arbeiter. Es sind Männer in Hosenträgern, die mit der Sense einen Hang in Merishausen mähen.

Männer beim Mähen mit der Sense im Juni 1957. Foto: Hans Walter / Staatsarchiv Schaffhausen

Was sehen Sie auf der Fotografie? «Die Sensen bringen Bewegung in das Bild, obwohl es sich natürlich nicht bewegt», sagt Messerli. Der Aufbau der Fotografie sei fast identisch mit dem eines Gemäldes des berühmten Schweizer Malers Ferdinand Hodler. Wir schauen leicht von oben auf die Arbeiter, im Hintergrund ist die Landschaft zu sehen. «Die körperliche Arbeit wird auf dem Bild gefeiert.» Man spürt die Idee der wirtschaftlichen Autarkie, sagt Messerli.

Der Kanton Schaffhausen ist in dem neuen Fotoband mit 20 historischen Aufnahmen vertreten. Die Bilder zeigen Szenen des Alltags – von der «Wümmet» (Weinlese) bis zum Holzfräsen. Sie stammen aus den Staats- und Stadtarchiven und sind thematisch geordnet, sodass sie spannende Vergleiche mit ähnlichen Aufnahmen aus anderen Kantonen ermöglichen, etwa dem Thurgau.

Eindrucksvoll sind die Gegenüberstellungen: Neben einem Bild der «Sensemänner» aus Merishausen findet sich eine Fotografie von 1918 aus dem Stadtarchiv Frauenfeld, die einen Traktor beim Pflügen zeigt. «Hier steht das technische Interesse im Mittelpunkt», erklärt Messerli. Die Aufnahme hebt die technischen Details der Maschine hervor und verdeutlicht den Wandel der Landwirtschaft.

Auf Seite 157 springt dem Betrachter ein Stück Schaffhauser Geschichte buchstäblich ins Auge: eine Dame, die sich beim 3-Meter-Sprung in der Rhybadi die Nase zuhält. Im Hintergrund ist der Munot zu erkennen. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1961.

Neben einem Schwinger, aufgenommen 1913 aus dem Stadtarchiv Frauenfeld, spielt der junge Roberto Di Matteo einen Pass.

Roberto Di Matteo, aufgenommen im Juni 1992. Bild: Stadtarchiv Schaffhausen

Unvermittelt trifft der Betrachter auf den eindringlichen Blick eines Schaffhauser Revierjägers. Die Aufnahme zeigt eine Gruppe von Revierjägern, die 1890 nach einer Treibjagd bei der Rast fotografiert wurde. Direkt darunter befindet sich eine Aufnahme des Skiclubs Schaffhausen vom Februar 1934 – ein Kontrast zwischen Jagdtradition und Wintersport.

Bilder ohne Quelle lesen

Die Fotografien in diesem Band sprechen für sich – ohne einen erklärenden Text. Historische Texte, wie etwa zu Themen der Industrie und Arbeitswelt, ergänzen die Bilder, doch eine detaillierte Erklärung zu jedem einzelnen Bild bleibt aus. Diese Entscheidung ist bewusst getroffen. «Den Begriff des Bildlesens lehne ich ab», sagt Messerli. Während ein Rezept klar und eindeutig zu lesen ist, sei es bei Bildern ganz anders. Es gebe keine feste Grammatik, und Bilder rufen oft neue, eigene Assoziationen hervor. «Ein Bild ist komplexer und weniger eindeutig als ein Text», so Messerli weiter. Jeder Betrachter habe einen individuellen Zugang zum Bild, und jedes Bild rege neue Gedanken und Bilder an.

Den beliebten Spruch «Ein Bild sagt mehr als tausend Worte» hält der Professor für eine Plattitüde. Vielmehr sei es interessant, ein Bild losgelöst vom ursprünglichen Kontext zu betrachten. «Ich blende bei der Bildbetrachtung die Bildquelle bewusst aus», erklärt er.


Fotogeschichten. Das visuelle Gedächtnis der Schweiz; Herausgeber: Alfred Messerli, Bernhard Tschofen; ISBN: 978-3-7165-1832-8; Seiten: 304; Bindung: Hardcover mit Schutzumschlag; Erschienen: 6/2024; Abbildungen: Durchgehend illustriert; Masse: 23,5 x 23,5 cm; Preis: 48 CHF

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