Millionen Menschen starben in Konzentrationslagern, diese beiden Männer konnten nach Schaffhausen fliehen

Vor 80 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Millionen Menschen hatten in den Jahren der Naziherrschaft ihren Tod in solchen Lagern gefunden. Zwei Männer wollten sich nicht dem Schicksal ergeben und flohen aus einem Lager am Bodensee – bis sie endlich in Schaffhausen Sicherheit fanden.
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Was für ein Anblick sich den Soldaten der Roten Armee vor 80 Jahren geboten haben muss, lässt sich wohl kaum in Worte fassen. Leichen, halb verhungerte Menschen, die zum Sterben zurückgelassen waren, tonnenweise Kleider und die Krematorien, in denen noch die Überreste von verbrannten Opfern des Nationalsozialismus lagen.
Am 27. Januar 1945 Jahren erreichten die sowjetischen Truppen Auschwitz-Birkenau und befreiten das Lager. Das Menschheitsverbrechen, welches in seiner ganzen Grausamkeit bis heute kaum zu begreifen ist.
Das System Konzentrationslager war die perverse Manifestation des Herrenmenschenglaubens der Nazis. «Untermenschen» wurden dort zusammengepfercht und wenn sie nicht sofort ermordet wurden, zu Zwangsarbeit gezwungen, die in vielen Fällen ebenfalls tödlich endete.
Flucht aus diesen Höllen auf Erden war selten möglich, egal, in welchem Lager. Trotzdem gab es immer wieder Fälle, in denen es gelang. So auch zwei KZ-Insassen, die ihre lebensgefährliche Flucht aus einem KZ am Bodensee in Schaffhausen beendeten.
Das vergessene KZ-Aussenlager
Ab 1944 wurde das KZ-Aussenlager Überlingen-Aufkirch in Betrieb genommen. 800 Häftlinge sassen dort unter menschenunwürdigen Bedingungen ein. Der Auftrag der Männer: Sie sollten einen Stollen bauen, in dem die Rüstungsanstrengungen fortgeführt werden konnten. Unter Tage sollte es schwieriger für die Alliierten sein, diese mit Bombardements zu zerstören.
Allesamt kamen sie aus dem gefürchteten KZ Dachau bei München. Wer zuerst dachte, dass er mit dieser Verlegung Glück gehabt hatte, wurde schnell eines Besseren belehrt.
Ein Lagerinsasse erinnerte sich an die Ankunft in dieser Hölle: «Etwa eine Stunde dauerte der Marsch bergauf in das Lager, das aus grossen, neu erbauten Holzblöcken bestand. Nebenan befanden sich die Hundezwinger. Postentürme umgaben das Lager. Die erste Baracke längs der Verkehrsstrasse nahm die Küche, die Kleiderkammer und die Lagerschreibstube auf, eine zweite war als Revier eingerichtet und drei weitere für uns.»
Der Marsch zu den Stollen führte die Häftlinge regelmässig durch Villenviertel. Wer denkt, dass ihnen dort Mitleid entgegengebracht wurde, irrt: Ein anderer Lagerinsasse erinnerte sich, wie Kinder Steine nach den armen Seelen warfen.
Die Arbeit war brutal: In den ungesicherten Stollen gab es praktisch keine Entlüftung, und der Sauerstoffmangel sowie der ewige Gasgestank durch die Tag und Nacht stattfindenden Sprengungen taten das Übrige.
«Morgens eine Schale schwarzen, bitteren Kaffees und ein Fünftel Brot, 1945 aber nur noch ein Zehntel Brot und eine halbe Suppe.»
Gearbeitet wurde in Zwölf-Stunden-Schichten, jeweils Tag und Nacht. «Schon nach einigen Monaten waren diese Schichtarbeiter derart erschöpft, dass bei jeder Schicht mehr als ein Dutzend Häftlinge auf Tragbahren, aus Ästen gezimmert, von ihren Kameraden, die oft selbst kaum noch gehen konnten, abwechselnd unter unsäglichen Mühen hinaufgeschleppt werden mussten», so Alfred Hübsch, der ebenfalls in dem Lager einsitzen musste.

Dazu kam eine katastrophale Ernährung, die den Namen eigentlich nicht verdient. «Morgens eine Schale schwarzen, bitteren Kaffees und ein Fünftel Brot, 1945 aber nur noch ein Zehntel Brot, abends nur die Hälfte der Suppe und einige Kartoffeln in der Schale.»
Leben oder Tod
Besonders hart war die Arbeit für die russischen Gefangenen, etwa Wassili Sklarenko. Als «Untermenschen», wie die Nazis Russen betrachteten, war deren Behandlung oft noch grausamer und härter.
Sklarenko kam ursprünglich aus der Ukraine und war bereits früh in Kriegsgefangenschaft geraten. Über Umwege war er später in Dachau bei München gelandet und einer der Insassen, die nach Überlingen gebracht wurden. Ein anderer war der Österreicher Adam Puntschart.
Beide hatten Erfahrungen mit Fluchten. Sowohl Sklarenko als auch Puntschart waren den Häschern der SS und der Nazis bereits zuvor entkommen. Vielleicht war das der Grund, dass sie auch im Lager in Überlingen den Entschluss zur Flucht fassten.
Beide wussten: Fluchtversuche wurden in der Regel mit dem Tode bestraft. So gaben beide später an, erlebt zu haben, dass ein russischer Gefangener nach seiner gescheiterten Flucht von den Lagerhunden zu Tode gebissen wurde.
Für Sklarenko und Puntschart war das keine Option. Für den Fall, dass sie gefangen genommen werden sollten, hatten sie vorgesorgt. In alten Konservendosen hatten sie mit Dieselbenzin kleine Bomben gebaut. Sollten sie gefasst werden, wollten sie diese zünden. Zurück ins Lager war keine Option.
Aufbruch bei Nacht
In der Nacht vom 21. auf den 22. März 1945 war es dann soweit. Mithilfe ihrer Mithäftlinge versteckten sie sich in einer Lore, ihre Kameraden bedeckten sie mit Steinen und schütteten Diesel darauf, dass die Wachhunde nicht den Geruch der beiden aufnehmen konnten. Diese wurde aus dem Lager gefahren, wo die beiden ihre Flucht begannen.
Tagsüber versteckten sie sich in Wäldern, nachts ging es weiter, immer in Richtung Norden. Da sie keinen Kompass oder Karte hatten, folgten sie den Sternen und orientierten sich am Moss auf den Bäumen auf ihrem Weg.
«Wo chömmed Ihr denn her, Ihr cheibe Sieche mit denne Pischama?»
Fünf Tage und Nächte dauerte ihre Flucht. Essen konnten die beiden nur das, was sie am Wegesrand finden konnten. Meistens waren dies vertrocknete Äpfel, die noch von der Herbsternte übrig geblieben waren. Kontakt zu Menschen hatten sie in dieser Zeit keine. Was, wenn jemand ihre Häftlingskleidung erkennen würde? Sie an die SS verpfiffen würden und man sie zurück ins Lager brächte?
Zwei Männer in «Pischamas»
Es war der 26. März 1945, als die beiden die Schweizer Grenze übertreten – ihr Ziel: Schaffhausen. Damals war die Stadt gefüllt mit Flüchtlingen, die von überall herkam, trotzdem fielen die beiden doch besonders auf. Als die beiden die Feuerthaler Brücke überquerten, wurden sie von einem Polizisten mit den Worten «Halt. Wo chömmed Ihr denn her, Ihr cheibe Sieche mit denne Pischama?» angehalten.

Beide wurden erkennungsdienstlich registriert und versorgt.
Dabei entstand auch ein Foto, welches bis heute im Stadtarchiv zu finden ist. Es zeigt die beiden Männer vor dem Kantonsgefängnis. Wassili blickt ernst und müde in die Kamera, sein Kamerad Puntschart schaffte es sogar noch zu lächeln. Auch die Schuhe der beiden wurden dokumentiert – vielleicht auch, weil keiner glauben konnte, dass man mit diesem Flickwerk eine solch lange Strecke laufen hatte können.

Puntschart war zu diesem Zeitpunkt schon völlig entkräftet. Auf der Flucht hatte er sich eine Lungenentzündung zugezogen und wurde direkt ins Kantonsspital gebracht, wo er sich erholen konnte.
Die beiden Männer sollten die Einzigen sein, denen die Flucht aus dem KZ bei Überlingen gelang. Einen Monat später sollte das Lager befreit werden. Mindestens 243 Personen fanden dort den Tod.
Adam Puntschart kehrte nach seiner Genesung nach Überlingen zurück, arbeitete dort bei einer Familie, die ihm während seiner Zeit im Lager geholfen hatte. Jahre später schrieb er ein Buch über seine Erlebnisse im KZ.
Sklarenko schlug sich auf eigene Faust in die sowjetische Besatzungszone durch, wo er sich wieder einer Einheit der Roten Armee anschloss. So kehrte er nicht als befreiter Häftling, sondern als Reservist der Roten Armee in seine Heimat zurück.
1992 besuchte er erneut Schaffhausen, den Ort, der für ihn die Rettung war. Bis zu seinem Tod lebte er danach in der Ukraine als Bauer.