Zum Todestag von Mahsa Amini: Eine Aktivistin erzählt über das Leben im Iran
Vor genau einem Jahr starb die 22-jährige Mahsa Amini im Iran in Polizeigewahrsam. Die Sittenpolizei hatte sie festgenommen, weil Amini zu viel Haar gezeigt hatte. Ihr gewaltsamer Tod löste heftige Proteste aus, die Regierung beendete die Unruhen mit Gewalt. Die SN sprachen im März mit Roya Ashrafabadi über ihre Erfahrungen mit dem totalitären Regime.
«Ich kann das nicht ertragen. Das ist ein Schlag ins Gesicht», sagt Roya Ashrafabadi. Die iranische Aktivistin aus Zürich ist wütend, weil die Schweizer Botschafterin in Teheran im Tschador, einem Ganzkörperschleier, eine Moschee besucht. «Im Iran sterben täglich Menschen, die für ihre Rechte einstehen auf der Strasse, und sie geht verschleiert in eine Moschee und lässt sich lächelnd fotografieren.» Das vermittle Gleichgültigkeit.
Der Auftritt der Schweizer Botschafterin löst national und international Kritik aus. Das Aussendepartement (EDA) rechtfertigt den Auftritt: Es sei besser, einen Dialog zu führen, als ihn abzubrechen. Für Ashrafabadi ist das keine Entschuldigung. Ihr sei bewusst, dass die Schweiz eine wichtige Rolle als Vermittlerin innehabe, sagt sie. «Ich verstehe einfach nicht, was ein Moscheebesuch damit zu tun hat. Und dann macht das Regime damit auch noch Propaganda.» Das Bild der lächelnden Diplomatin wurde über eine staatsnahe Nachrichtenagentur verbreitet.
«Wie gestern. Oder noch schlimmer»
Der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini am 14. September 2022 löste heftige Proteste gegen das Mullah-Regime aus. Amini war von der Sittenpolizei verhaftet worden, weil ihr ein Verstoss gegen die Kleiderordnung des Landes vorgeworfen wurde, sie starb kurz nach der gewaltsamen Verhaftung.
Die Reaktion des Regimes auf die Proteste ist kompromisslos: Immer wieder kommt es zu Massenverhaftungen und Hinrichtungen. Mittlerweile sind die Proteste abgeflacht, Expertinnen und Experten rechnen aber damit, dass sie wieder auflodern. Für kurze Zeit war auch die Sittenpolizei inaktiv, nun greift sie wieder durch.
«Nach der Hinrichtung meiner Schwester ein normales Leben zu führen, war nicht mehr möglich.»
Für Ashrafabadi ist diese Situation nicht neu. «Es ist wie gestern. Oder noch schlimmer als gestern», sagt sie. Die Iranerin wird 1956 geboren, in eine Familie, die nicht religiös ist, aber politisch aktiv. Das war zu Zeiten des Schahs (siehe Box). Ashrafabadi beschreibt die Zeit unter dem Schah als weniger brutal als jene unter Khomeini, aber gleichermassen schlimm. «Immerhin durften Frauen studieren.» Aber viele Bücher seien verboten gewesen. So auch jene, die Khomeini geschrieben hatte. «Hätten die Menschen damals seine Bücher lesen können, hätten sie seine Ideen gekannt. Ich glaube, er wäre nicht an die Macht gekommen.»
Ashrafabadi arbeitet in einem Kulturzentrum für Kinder und Jugendliche in der Stadt Abadan im Südwesten des Irans, die bekannt ist für ihre grosse Erdölraffinerie, als die ersten Aufstände gegen den Schah beginnen. Die junge Frau wird verhaftet und beschuldigt, an den Protesten teilgenommen zu haben. «Mit Glück und mangels Beweisen kam ich kurz darauf wieder frei», so Ashrafabadi. Es ist die erste von mehreren Verhaftungen, die über die Jahre erfolgen. Nach dem Sturz des Schahs am 11. Februar 1979 ruft Khomeini den Gottesstaat aus. Zwei Wochen später wird das Kopftuch obligatorisch. Frauen und Mädchen bleibt die Wahl: Trage das Kopftuch oder bleib zu Hause. Es folgen Proteste, diese werden gewaltsam niedergeschlagen. Frauen verlieren ihren Job, weil sie sich weigern, ein Kopftuch zu tragen. «Auch ich wurde verhaftet und bekam nach einer Scheinverhandlung ein lebenslanges Arbeitsverbot mit Kindern und Jugendlichen», sagt Ashrafabadi.
Beobachtung und Verhaftungen
Im Folgejahr bricht der Erste Golfkrieg aus. Ashrafabadis jüngere Schwester protestiert wie viele andere auch gegen den Krieg. 1982 verschwindet sie plötzlich. Zwei Monate sucht die Familie nach ihr, bis sich herausstellt, dass sie verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Alle zwei Wochen darf die Familie sie kurz besuchen. Dann ändert sich alles. Ein normaler Nachmittag, Ashrafabadis Mutter ist allein zu Hause. Plötzlich stehen Mitglieder der iranischen Revolutionsgarde vor der Tür. Die Familie dürfe die Schwester heute besuchen. Nur heute. Ashrafabadis Mutter steigt voller Angst um ihre Tochter in ein Taxi und fährt zum Gefängnis. Dort heisst es, die Schwester würde umplatziert. Ashrafabadis Mutter will später wissen, wohin die Schwester gebracht wurde. Ihr wird eine Adresse gegeben. Die Adresse der Gerichtsmedizin. Ashrafabadis Schwester war hingerichtet worden, mit 23 Jahren. Eine Gedenkfeier wird der Familie verboten. «Nach der Hinrichtung meiner Schwester ein normales Leben zu führen, war nicht mehr möglich», sagt Ashrafabadi. «Mit dem werde ich mich nie abfinden.»
Die Familie steht nach der Hinrichtung unter Beobachtung, ihre anderen Geschwister dürfen nicht weiterstudieren. Ashrafabadi wird in der Folgezeit mehrmals verhaftet. Ihre Kleidung entspricht nicht dem islamischen Gesetz. So wie bei Mahsa Amini und vielen weiteren heute. «Mir wurden 80 Peitschenschläge angedroht, falls ich nochmals falsch gekleidet sein sollte.» Schliesslich flüchtet Ashrafabadi mit ihrem Mann in die Schweiz und lebt nun seit 36 Jahren in Zürich.
Ashrafabadi setzt sich auch im Exil weiter gegen das Regime ein. Dabei arbeitet sie eng mit der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zusammen und organisiert Demonstrationen. «Ich kann nicht anders.» Angst um ihre Angehörigen spiele natürlich mit, «aber ich kann nicht ruhig bleiben». Sie könne an nichts anderes denken. Wenn sie die Bilder der heutigen Proteste sieht, erinnert sie sich an ihre eigenen Erfahrungen. «Ich träume noch immer von damals, ich schreie, weine» Sie hat regelmässig Kontakt zu Menschen im Iran, über Whatsapp, Telegram, per Telefon. Gespräche seien sicherer als Textnachrichten, auch wenn Gefahr bestehe, abgehört zu werden. «Am besten benutzt man Wegwerfhandys.»
Proteste flammen wieder auf
Im März, als die Bewegung abzuflachen beginnt, sagt Ashrafabadi, dass sie hoffe, dass die Proteste neuen Schwung erhalten. Und tatsächlich berichten einige Medien zurzeit von einer angespannten Lage, jetzt am Todestag Aminis. «Die Menschen halten mehr zusammen als bei früheren Aufständen. Das Leid ist nicht an Einzelschicksale gebunden, es betrifft alle», sagt Ashrafabadi.
«Die Menschen halten mehr zusammen als bei früheren Aufständen. Das Leid ist nicht an Einzelschicksale gebunden, es betrifft alle.»
Sie hat in ihrem Büro zwei Fotos aufgestellt. Eines ihrer Mutter und eines ihrer verstorbenen Schwester. «Jedes Mal, wenn im Iran etwas passiert, schaue ich diese Fotos an und sage: ‹Mama, dieses Mal wird das Regime stürzen.› Nur leider passierte es bis jetzt nicht.»