«Viele Menschen sagen später: Ich danke für den Krebs»

Ralph Denzel | 
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Denn auch aus Krisen kann eine Chance erwachsen, so ist Strasser überzeugt. Symbolbild: Pexels

Mein Vater starb vor vier Jahren an einem Hirntumor. Für die Tumortage machte ich mich auf die Suche nach Antworten auf Fragen, die mich seitdem beschäftigen - und auf die ich endlich eine Antwort bekommen habe.

Bevor mein Vater seinen Kampf gegen sein Glioblastoma multiforme, einen Hirntumor, verlor, hatte er noch einen klaren Moment. Diese wurden mit der Zeit immer seltener, je grösser das Geschwür in seinem Schädel wurde. Irgendwann erkannte er weder mich noch seine Frau. Aber damals, als klar wurde, dass er ins Krankenhaus musste, weil wir ihn Zuhause in Jestetten nicht mehr betreuen können, blitze noch einmal der Mensch durch, den ich und meine Familie kannten. Die Notfallsanitäter wollten ihn gerade in den Rettungswagen einladen. Es regnete leicht aus einem grauen Himmel auf uns herunter. Ich stand mit meiner Mutter an der Tür, schaute dabei zu und wusste, dass dies wohl das letzte Mal gewesen war, dass mein Vater Zuhause gewesen war. Einer der beiden Sanitäter wandte sich an mich und fragte: «Wir bringen Ihren Vater nach Waldshut, oder?»

In diesem Moment richtete er sich auf, so krank wie er war, so schwach wie er war und sagte mit fester und bestimmter Stimme. «Auf gar keinen Fall! Ich gehe nur nach Singen.» Es war der letzte Satz, den ich von meinem Vater hören sollte und muss bis heute lächeln, wenn ich daran denke. Geboren in Singen, gestorben in Singen und sein ganzes Leben immer ein «Singemer» geblieben, wie er stets stolz betonte.

Ein Glioblastoma multiforme, ein Hirntumor. Bild: Wikimedia

Eine Woche später gewann der Tumor den ungleichen Kampf - und seitdem verfolgen mich viele Fragen. Hätten wir was anders machen können? Hätte ich mich ab und an anders verhalten müssen? Hatte ich genug Geduld mit ihm? Hätte ich die Zeit besser nutzen müssen? Krebs ist eine Schockdiagnose, aber nicht nur für die Menschen, die unter der Krankheit leiden. Auch für die nächsten Personen im Umfeld bedeutet so eine Diagnose, massive Veränderungen, Einschnitte und viele Fragen.

Auf der Suche nach Antworten

Mit diesen im Gepäck habe ich mich für die Tumortage aufgemacht in die Onkologische Praxis in Schaffhausen. Diese findet man in der Rheinstrasse. Wer sie betritt, kommt in eine moderne Praxis, die in schlichter Architektur gehalten ist. Die hohen Räume wirken hell und beruhigend, ebenso wie die Grünpflanzen, die überall verteilt sind. An der Tür bittet ein Schild darum, eine Maske zu tragen – wenig verwunderlich, denkt man an den Zustand, in dem die meisten Personen dort sind.

Was erwarte ich hier? Antworten auch für mich selbst. Ich wollte nach all der Zeit verstehen, was damals passierte und ob ich wenigstens mit meinen bescheidenen Mitteln alles richtiggemacht habe. Hätte ich meinem Vater besser helfen können?

Zuerst spreche ich mit dem Onkologen Florian Strasser, der mich im Wartebereich abholt und in sein Arztzimmer führt. Von dort hat man einen wunderbaren Blick auf den Rhein. Die warmen Sonnenstrahlen der langsam untergehenden Sonne erfüllen den Raum mit Wärme. «Sie haben ja bereits Erfahrung machen müssen mit Krebs?», beginnt der Mediziner unser Gespräch. Freundliche, aber auch sehr wache Augen blicken mit durch eine gestelllose Brille über einer Maske an. Ich erzähle in kurzen Zügen, was mit meinem Vater passiert ist. Als er hört, was für eine Art von Krebs er hatte, verzieht er kurz das Gesicht. «Das tut mir sehr leid», sagt er.

«Unsichtbare Behinderungen»

Florian Strasser ist nicht nur Onkologe, er ist auch Experte für «Cancer Fatigue» - Krebsermüdung. Ein Phänomen, welches ich nur zu gut kenne. Ich erinnere mich an die bleierne Müdigkeit meines Vaters, der oft auch alltägliche Dinge nur schwer ausführen konnte, weil er zu müde war. Strasser nennt es eine «unsichtbare Behinderung», der man sich im Klaren sein muss, auch als Angehöriger. «Diese Menschen haben Aufgrund ihrer Schädigung, sei es durch den Tumor, die Behandlung oder auch die emotionale Belastungen, eingeschränkte Energiereserven.»

Manchmal haben sie normale Energie, aber nur kurz. Bei meinem Vater war das meistens, wenn seine Enkel da waren. Dann war er wieder der Opa, der mit ihnen Blödsinn machte, der sie kitzelte, oder sie einfach in den Arm nahm. «Wichtig ist, dass die Menschen eine Motivation finden», erklärt Strasser. Bei meinem Vater war dies oft genug die fünf Kinder, die ihren «Opa» wollten.

strasser
«Viele Menschen sagen später sogar: Ich danke für den Krebs.»
Dr. Florian Strasser, Onkologe

Florian Strasser und ich sprechen über Motivation, Ängste und Gefühle, die während der Behandlung meines Vaters immer wieder aufkamen. Oft genug fällt dabei von meiner Seite der Satz: «Bei uns war das damals so…» Strasser hört zu, ordnet ein – und ich spüre, dass so ein Gespräch schon lange überfällig war. Manche Menschen neigen dazu, den Krebs totzuschweigen. «Dabei ist aber auch wichtig, dass man als Familie sich nicht scheut, die Gefühle, wie Liebe, Dankbarkeit oder auch Angst, offen auszusprechen», sagt der Experte. Sonst droht eine «Conspiracy of Silence», auf Deutsch: Totschweigen. Meine Familie und ich sprachen oft mit meinem Vater, aber nur selten über die Krankheit. Es dauerte eine ganze Weile, ehe wir uns auch darüber austauschten. Rückblickend vielleicht zu lange, bedenkt man, wie gut uns das allen tat.

Positive Gefühle stärken

Überhaupt sind die positiven Gefühle die, die Strasser immer wieder hervorhebt und die er auch öfter in der Arbeit mit seinen Patienten erfahren darf. «Meine Erfahrung ist, und da bin ich in Demut, von den vielen Menschen, die mir begegnet sind und die ich begleite: wenn es gelingt in einer Form von Dankbarkeit, Freude, Liebe, und zwar im Hier und Jetzt zu kommen, dann findet man einen Sinn in der Krankheit. Viele Menschen sagen später sogar: Ich danke für den Krebs.» Der Satz wirkt auf mich befremdlich, aber der Experte kann es weiter erklären. Die Intensität der Gefühle und des Erlebens sei es, die diesem Satz eine Wahrheit geben.

Ich gehe im Kopf zurück, versuche mich an besondere Momente mit meinem Vater zu erinnern. Schnell merke ich, dass jeder Moment, der mir einfällt, in der Zeit liegt, als er krank war. Gespräche, Erlebnisse, Momente – alles war, wie Strasser es so richtig beschreibt, intensiver. Wir wussten, dass mein Vater nur sehr wenig Energie hat, die er sich gut einteilen musste. Aber diese hat «gereicht», auf ihre Art und Weise, um Freude, Liebe und Dankbarkeit zu empfinden. «Manche sagen: Das Jahr, was ich noch hatte, war so intensiv, das war intensiver als die letzten 20 Jahre», so Strasser. Für mich zumindest stimmt es, denke ich an die letzten Monate mit meinem Vater zurück.

Die positive Sicht auf die schreckliche Krankheit und alles, was damit zu tun hat – das ist schwierig, aber möglich. Ich habe es selbst erlebt. Aber auch die Schattenseiten. Denn nicht nur die positiven Gefühle waren in dieser Zeit intensiver – auch die negativen. Das grösste Thema ist da natürlich die Angst. Wie nimmt man diese an? Für Strasser ist es dabei wichtig, auch einen Fokus auf positive Gefühle zu legen: «Die Intensivpflege ist auch die Frage der Stärkung von positiven Gefühlen.»

Er geht für die Antwort auf diese Frage auch in die Neuropsychologie. «Es spielt wahrscheinlich eine Rolle, welche Gefühle ich nähre und welche nicht. Als Beispiel: Ich habe Rückschmerzen und denke, dass mein Rücken nicht mehr gesund wird. Dann wird der Rücken ‹lernen›, ‹ich bin kaputt und werde nicht mehr gesund›. Wenn ich meinen Körper liebe, auch meine Gefühle annehme und zulasse, kann ich auch mich wieder viel besser erfahren und mehr Kraft sammeln.»

Krisen als Chance

Denn auch aus Krisen kann eine Chance erwachsen, so ist Strasser überzeugt, auch wenn «Krisen per Definition Phasen der Ohnmacht und Hilflosigkeit». Aber daraus kann laut dem Mediziner etwas Neues entstehen. Dabei sind alle Menschen gefordert, auch wenn das teils sehr schwer ist. «So braucht es manchmal auch einfach die Kraft des Zuhörens und hilflos Aushalten», erklärt er. Zuhören, Aushalten – beides Dinge, die Angehörigen schwerfallen können. Man möchte dem geliebten Menschen helfen, beistehen, aber kann es manchmal einfach nicht. Aber auch das kann so viel helfen: «Wenn man negative Energien abgebaut hat, hat man auch wieder Ressourcen für positive Dinge», so der Experte.

Jemand zum Reden – und Erklären

Weiter geht das Gespräch mit Cornelia Ehrat. Sie ist Psychoonkologin, spezialisiert für die psychologische Behandlung von Krebspatienten und ihren Angehörigen. Selbst durch ihre Maske sieht man das freundliche Lächeln, als sie nach Florian Strasser mit mir spricht. Wir müssen dafür das Behandlungszimmer wechseln, denn Florian Strasser erwartet bereits eine Patientin. Dort gibt es keinen Kleiderhaken, also bittet Ehrat mich, meine Jacke an einen Infusionsständer zu hängen. «Das ist typisch in der Onkopsychologie: Man muss immer wieder kreative Lösungswege suchen», kommentiert sie dies und muss lachen.

Auch hier beginne ich mit einer kurzen Einleitung über meinen Vater und die Geschichte, die mich heute auch hierher gebracht hat. Umso überraschter ist sie dann, als ich ihr eröffne, dass ich an diesem Tag das erste Mal mit einem Psychoonkologen spreche. «Normalerweise sollte, speziell bei so einem Tumor, eine psychologische Betreuung für die Angehörigen und den Patienten permanent gegeben sein.» Das war bei uns nicht der Fall. Desto mehr sie aber über ihre Arbeit spricht, desto mehr spüre ich, wie gut uns das getan hätte.

Ehrat nimmt eine sehr wichtige Rolle in dem Konstrukt, welches Florian Strasser als «ganzheitliche Krebsbehandlung» bezeichnete, ein. Sie ist Ansprechpartnerin für Patienten und Angehörige, Vermittlerin, wenn ein Patient etwa weitergehende Hilfe braucht, wie eine Ernährungsberatung, oder eine Massagetherapie, Kummerkasten, Zuhörerin, Erklärerin.

ehrat
«Manche Patienten wollen auch ganz konkret wissen: Wie läuft das Sterben ab?»
Cornelia Ehrat, Psychoonkologin

Erklären muss sie dabei manchmal auch Dinge, die einen stocken lassen. «Manche Patienten wollen auch ganz konkret wissen: Wie läuft das Sterben ab?» Dann kann sie die Stadien erklären, die mittlerweile auch durch Forschungen in der Palliativmedizin immer genauer erklärt sind. Die Müdigkeit, die immer stärker wird, der Puls, der abnimmt und schwächer wird, der langsame Prozess, wenn der Körper seine Funktionen nacheinander abstellt – bis irgendwann das Herz aufhört zu schlagen.

Manchmal muss sie aber auch erklären, was eine Diagnose bedeutet. Im Fachbegriff-Dschungel in Arztbriefen oder Berichten ist es manchmal auch sehr hilfreich, einen «Guide» zu haben, der dies einordnen, erklären und auch rüberbringen kann. Jemanden, der da ist.

Da sein und aushalten

Oft ist Ehrat auch Ansprechpartnerin für Menschen, die sonst niemanden haben. «Ich hatte zum Beispiel erst vor kurzem eine Patientin, die einfach nur weinen wollte. Das tat sie hier auch», erinnert sie sich. Diese Frau leidet ebenfalls an Krebs, aber versuche für ihre Familie stark zu sein und die Erkrankung nicht zu sehr an sich und die anderen heranzulassen. Hier hat sie dann einen Hafen, in dem sie mal herauslassen kann, was sonst eher «eingepackt» bleibt.

Ehrat hilft also einen Umgang mit der Krankheit zu finden und dabei auch auf die Bedürfnisse des Gegenübers einzugehen. Auch bei ihr ist die Angst und die Unsicherheit eines der Hauptthemen, mit der sie sich beschäftigen muss. «Wichtig ist dabei, dass die Menschen die Angst verstehen», so Ehrat. Wann tritt diese auf, gibt es einen Auslöser, gibt es vielleicht sogar was, das ganz konkret hilft? «Ich lasse dann die Patientinnen und Patienten beschreiben, wie sie es empfinden.»

Angst ist immer eine Anspannung – dagegen hilft eine Entspannung. Ablenkung, vielleicht sogar ein Medikament, oder Sport. «Es ist wichtig, dass die Leute das Gefühl bekommen, sie können etwas gegen die negativen Gefühle machen, denn dann merken sie, dass sie die Kontrolle haben», erklärt Ehrat.

Wieder sehe ich meinen Vater. Er vergrub sich in Arbeit, schrieb an der Jestetter Dorfchronik weiter. Wie sehr ihm das half, sah man vor allem daran, dass er eine Woche ehe er gestorben ist, seinen letzten Eintrag verfasst hatte.

Begleiterin auf dem letzten Weg

«Ich will herausfinden, wie diese Menschen manchmal ihren letzten Weg, gestalten wollen», sagt Ehrat. Auch dort ist sie wichtig, denn für viele Menschen ist der Tod, auch in solchen Momenten, ein Tabuthema. «Viele können dann mit niemandem sonst sprechen», so Ehrat. Dabei kann es auch sehr emotional werden, wie sie aus eigener Erfahrung weiss. «Es berührt mich jedes Mal erleben zu dürfen, wie diese Menschen diesen Weg, der vor ihnen liegt, gehen», sagt sie. Die Gespräche, die dort wohl ebenfalls intensiver sind als normal, die Offenheit – und auch letztlich, wie ihr Kollege Florian Strasser sagte, die Ruhe, die ein Patient am Ende finden kann.

Ruhig war auch mein Vater, als er am 15. Mai 2019 verstarb, sieben Monate nach seiner Diagnose.

Nach den Gesprächen mit den beiden Experten hat sich mein Blick auf diese kurze Zeit aber verändert. Das spüre ich, als ich aus der Praxis trete, meine Maske abziehe und tief einatme. Die Luft ist frisch und klar. Intensiv. Wie die Zeit, die meine Familie am Ende mit meinem Vater hatte.

Die Gedanken an ihn spielen sich meistens in diesen sieben Monaten ab, die wir noch hatten. Nicht an die Zeit davor. Das ist jedoch nichts Schlimmes. Vielmehr ist es ein intensives Gefühl der Dankbarkeit und der Liebe für ihn. Wahrscheinlich habe ich Fehler gemacht, wahrscheinlich hätte ich ab und an Dinge anders tun können, mehr Geduld haben und mir vielleicht auch mehr Zeit mit ihm nehmen sollen. Aber bereuen tue ich nichts.

Mir fällt wieder der Satz von Florian Strasser ein, dass viele sagen würden, «ich danke für den Krebs» - das tue ich nicht. Aber ich bin dankbar, dass ich am Ende so intensiv die Zeit mit meinem Vater erleben konnte und ich diese in meiner Erinnerung habe.

Mehr Artikel zu diesem Thema finden Sie in unserem Dossier.

Was tun im Erkrankungsfall?

Falls Sie oder Angehörige von Ihnen von einer Krebs- oder Tumorerkrankung betroffen sind, bietet die Krebsliga Schaffhausen eine mögliche Anlaufstelle.

Zu den Tätigkeiten der Krebsliga gehören unter anderem:

  • Beratungen für krebskranke Patienten und ihre Angehörigen im psychischen, sozialen und finanziellen Bereich
  • Finanzielle Unterstützung
  • Vermittlungen von Dienstleistungen anderer Fachstellen

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