«Ich will nicht mehr nach Hause gehen»
Sie werden geschlagen, gedemütigt und sexuell missbraucht: An die Fachstelle für Gewaltbetroffene gelangen deutlich mehr Minderjährige als in Vorjahren. Die Kesb bestätigt, dass sie vermehrt Polizeiberichte, in denen es um Gewalt an Kindern und Jugendlichen geht, erreichen.
Sara ist oft blass, fast ein wenig gelb im Gesicht. Sie habe keinen Glanz in den Augen, sagt ihre Lehrerin. Als sie die Gymi-Schülerin ein paar Wochen kennt, fragt sie sie nach dem Unterricht, ob alles okay sei. Sara nickt nur, hat es plötzlich eilig. Doch eines Tages sieht die Lehrerin kleine blaue Flecken an Saras Arm, als ihr Dreiviertelärmel hochrutscht. In einer Austauschrunde zu Gewalt an Schülerinnen und Schülern in Zürich erzählt die Lehrerin von Sara. Die Lehrpersonen besprechen: keine drängenden Fragen an Sara. Eine unterstützende Atmosphäre schaffen. Zeigen, dass man da ist, wenn sie etwas braucht. Mit ihr reden, aber zuerst unverfänglich. Die junge Frau braucht Monate, bis sie der Lehrerin sagt: «Ich will nicht mehr nach Hause gehen.»
«Ich will nicht mehr nach Hause gehen.»
Sara, Gymi-Schülerin
Später erfährt die Lehrerin, dass Sara von ihrem Vater sexuell missbraucht wird. Dieser Fall hat sich zwar in einem anderen Kanton zugetragen, doch Caroline Tresch, Leiterin der Fachstelle für Gewaltbetroffene in Schaffhausen, kennt ähnliche Geschichten.
Die genauen Zahlen des Kantons werden zwar noch ausgewertet und können erst im Frühling kommuniziert werden, doch sicher ist: Es gibt mehr Fälle von schwerer häuslicher und sexueller Gewalt. Und es sind deutlich öfter Jugendliche – vor allem junge Frauen – und Kinder betroffen.
Tresch berichtet von zwei aktuellen Fällen schwerer häuslicher Gewalt, in denen je eine Jugendliche involviert ist. Jahrelang schon werden sie geschlagen, missbraucht und erleben Psychoterror. «Sie werden schlechtgemacht, es wird ihnen gesagt, sie wüssten nichts, könnten nichts, seien die Dümmsten. Sie glauben, dass sie es nicht verdient haben, dass man sie unterstützt», sagt die Fachstellenleiterin. «Aber sie möchten bleiben, wo sie sind, obwohl sie es kaum aushalten.» Es sei nicht selten, dass Jugendliche den Wohnort und damit die Freunde oder die Nähe zum Verein behalten wollen. «Erschreckenderweise kennen sie die Gewalt und können diese einschätzen.» Sie wollen das Einzige, was ihnen Sicherheit gibt, nicht verlieren. «Das ist ein unglaubliches Spannungsfeld, auch für die Fachpersonen.»
Mehr Vermittlungen
Zugenommen haben die Vermittlungen Betroffener durch Fachpersonen, sagt Tresch. Es sind Lehrpersonen, Schulsozialarbeiterinnen oder Turnvereine, die die Fachstelle um Hilfe bitten. «So können wir Beratungen anbieten – auch vor Ort.» Und zwar nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Menschen, die mit diesen Geschichten konfrontiert sind. Was können sie tun, was gibt es für Angebote, wie sollen sie sich verhalten? Eine sorgfältige Planung weiterer Schritte sei notwendig. «Man muss darüber reden können, wie schrecklich man die Situation findet. Oder wie man damit umgeht, dass man das Kind oder die Jugendliche nicht einfach mit nach Hause nehmen kann, um sie zu beschützen.»
Es ist häufig so, dass die Jugendlichen, die an die Fachstelle für Gewaltbetroffene gelangen, schon sehr lang unter massiver Gewalt zu Hause leiden. «Die Betroffenen brauchen viel Beratung und das braucht Zeit», sagt Tresch. Wichtig sei, dass sie merken, dass man sie nicht allein lässt. «Das Schlimmste ist, wenn sie sich jemandem anvertrauen – und dann nicht ernst genommen werden.»
«Nie genug Prävention»
Zwei bis drei Gespräche pro Tag führt eine Beraterin auf der Fachstelle mit Betroffenen. «Und wir sind häufig ein später Schritt – bis jemand zu uns gelangt, ist meist schon viel passiert.» Als ein Grund für die Zunahme der Personen, die sich melden, werden immer wieder die Sensibilisierung und die offenere Kommunikation über das Thema genannt. «Ich möchte glauben, dass das stimmt», sagt Tresch. So oder so: Prävention gebe es nie genug.
«Sexualisierte Gewalt fängt bei der Sprache, bei der Werbung, beim vermittelten Frauenbild an.»
Caroline Tresch, Leiterin Fachstelle für Gewaltbetroffene
«Vor allem beim Thema sexuelle Übergriffe hinken wir hinterher», sagt die Fachstellenleiterin. Sexualisierte Gewalt fange bei der Sprache, bei der Werbung, beim vermittelten Frauenbild an. Es sind weibliche Jugendliche, die sich an die Fachstelle für Gewaltbetroffene wenden. «Das heisst nicht, dass es keine Übergriffe auf männliche Jugendliche gibt. Weniger sind es zwar, aber die Hürde für junge Männer, sich bei uns zu melden, ist nochmals höher.»
Verschiedene Jugendberatungsstellen versuchen, die Jugendlichen über Social Media zu erreichen. Immer häufiger gibt es in Bars und Clubs auch Hinweise, wohin man sich wenden kann, wenn man belästigt wird, zum Beispiel auf Toilettentüren. «Solche Kampagnen sind wichtig zur Sensibilisierung und damit Betroffene sofort Unterstützung zur Hand haben.» Vermehrt nämlich melden sich junge Frauen bei der Fachstelle, die im Ausgang sexuell missbraucht wurden. «Oft ist das Gefühl der Schuld bei der Frau, sie fragt sich: Warum habe ich ihn angelächelt? Warum habe ich ihn geküsst? Warum habe ich ihn mit nach Hause genommen?» Die Schuld sei ausnahmslos bei demjenigen, der die Grenzüberschreitung begeht, sagt Tresch. «Es braucht viele Beratungsstunden, bis die Betroffene das, was passiert ist, als sexuelle Gewalt benennen kann. Und noch mehr, bis sie begreift, dass sie den Täter anzeigen darf.»
«Ich will, dass eine Frau im Ausgang mit einem Typen knutschen kann und nachher sagen kann, dass sie nicht mehr will.»
Caroline Tresch, Leiterin Fachstelle für Gewaltbetroffene
Die betroffenen Frauen haben sich alle richtig verhalten, sagt Caroline Tresch. «Ich will, dass eine Frau sich aufreizend anziehen kann. Dass sie im Ausgang mit einem Typen knutschen kann, in einer dunklen Ecke, weil sie es toll findet, und nachher sagen kann, dass sie nicht mehr will. Nicht sie muss ihr Verhalten anpassen, sondern die Gesellschaft und die Täter.»