Es schreibt Sonette und löst Hausaufgaben

Tobias Bolli | 
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Man darf davon ausgehen, dass die junge Generation das Potenzial der neuen Technologie schnell begreifen wird. Bild: Roberta Fele

Das Gesprächsprogramm ChatGPT ist in aller Munde. Stadtbibliothekar Oliver Thiele sieht darin die Zukunft der Informationsrecherche, mahnt aber auch einen kritischen Umgang damit an. Das Erziehungsdepartement hat sich derweil noch kaum damit beschäftigt.

Es kann ein Gedicht über die Schönheit des Rheinfalls schreiben, Zürchern einen Umzug nach Schaffhausen nahelegen oder ein Märchen über ausgebrochene Damhirsche erzählen. Damit nicht genug; entsprechend instruiert, argumentiert ChatGPT für die Existenz Gottes oder beklagt sich als Donald Trump darüber, dass es in den USA zu wenige Fastfood-Buden gebe. ChatGPT ist ein Gesprächsprogramm, das sich zu fast beliebigen Themen befragen lässt und diese auf Wunsch in verschiedene Textformen und Stile überträgt. Ende 2022 wurde ChatGPT von der US-amerikanischen Firma OpenAI als Prototyp lanciert und hat seither viele Reaktionen ausgelöst. Manche sehen darin einen Quantensprung für die künstliche Intelligenz, andere eine bedenkliche Entwicklung.

Für Oliver Thiele, Stadtbibliothekar von Schaffhausen, zeichnet sich mit dem Programm schlechterdings die Zukunft der Informationsrecherche ab. Thiele hat schon lange Gespräche mit dem Programm geführt, es etwa – mit gemischten Resultaten – über die Sehenswürdigkeiten in der Region befragt. Sein Zwischenfazit: «Es hat eine ganz andere Qualität als Google, wo man sich über Links und mehrere Mausklicks Informationen zusammensuchen muss.» Das Gesprächsprogramm sei viel bequemer, schneller und zielgerichteter; eine Frage genüge, und man bekomme eine einschlägige Antwort präsentiert. Noch variiere natürlich die Qualität der nach etwa fünf Sekunden generierten Texte. «Je weniger originell etwas sein muss, desto bessere Antworten liefert das Programm, ein Kündigungsschreiben kann es zum Beispiel perfekt aufsetzen.»

Klassische Recherche bleibt wichtig

Gleichzeitig warnt Thiele vor Gefahren, die von der Benutzerfreundlichkeit des Programms und von seinen kompetent wirkenden Antworten herrührten. Unter Umständen werde man dazu verleitet, dem Programm Vertrauen zu schenken – auch wenn nicht klar ist, woher die Informationen stammen und wie die verwendeten Quellentexte von der Maschine zur Antwort zusammengesetzt wurden. «Die Schwierigkeit besteht darin, dass niemand weiss, woher die Informationen kommen, ob es sich dabei um Fake News handelt oder ob sie auf einem veralteten Wissensstand beruhen.» Um hier Gewissheit zu erlangen, müsse man dann wieder ganz klassisch selbst Recherchearbeit leisten.

Thiele wünscht sich, dass die Frage «wo hast du das her?» künftig auch vom Chatprogramm beantwortet werden kann, zumindest wenn es Informationen nicht nach eigenem Gutdünken vermischt und neu zusammensetzt. «Man müsste es dazu bringen können, die eigenen Quellen offenzulegen, ansonsten taugt es nur für den faulen Nutzer.» Weiter gelte es zu bedenken, dass ChatGPT durch viele schlecht bezahlte Menschen gleichsam salonfähig gemacht wurde – dem Programm Hass und Diskriminierung manuell abtrainiert wurden. «Genauso gut liesse sich die Maschine so programmieren, dass in einer Diktatur gewisse Informationen unterdrückt werden.»

«Es ist wichtig, dass Schüler ihre eigenen Aufsätze schreiben, und nicht einfach meine generierten Texte verwenden.»

ChatGPT, Gesprächsprogramm

Insgesamt mache ihm die Interaktion mit dem Programm Spass, so viel wie mit älteren Versionen noch nie. Gelegentliche Falschaussagen taten dem Gesprächsvergnügen keinen Abbruch. In seiner Konversation mit Thiele hat ihm das Programm beispielsweise empfohlen, auf einer Tour durch Schaffhausen per Schiff nach Hallau zu reisen (Immerhin hat es sich darauf auch von ihm korrigieren lassen). Thiele wird das Thema sicher weiterbeschäftigen. Er plant interne Weiterbildungen und später vielleicht, am Beispiel von ChatGPT aufgehängt, einen Workshop zum Thema Informationskompetenz. Denn: «In unserer Gesellschaft gehört Informationsbeschaffung zu den wichtigsten Fähigkeiten überhaupt.»

Das Programm beschafft freilich nicht nur Informationen, sondern kann mit den verarbeiteten Textmengen – aus Zeitungen, sozialen Medien, Internetforen und anderen Quellen – auch scheinbar kreativ umgehen und damit neue Texte zusammenwürfeln. So betrachtet, bietet sich ChatGPT auch für Schülerinnen und Schüler an, denen Zeitersparnis wichtiger ist als Lerneffekte – die sich zum Beispiel nicht lange mit einem Aufsatz über ein «Wochenenderlebnis» oder über die «Bedeutung von Freunden in ihrem Leben» herumschlagen möchten.

Jedenfalls werden sich nicht alle die Empfehlung des Programms zu Herzen nehmen, angesprochen auf diese Problematik mahnt ChatGPT: «Es ist wichtig, dass Schüler ihre eigenen Aufsätze schreiben, und nicht einfach meine generierten Texte verwenden, da dies als Plagiat angesehen werden kann.» Gleichzeitig räumt es ein: «Es ist möglich, dass Schüler, die auf mich oder andere automatisierte Tools zur Unterstützung bei ihren Hausaufgaben zugreifen, weniger Zeit damit verbringen, ihre Aufgaben selbstständig zu lösen und sich dadurch weniger anstrengen müssen.» Im Übrigen löst das Programm auch mathematische Textaufgaben meist souverän, inklusive Angabe des verwendeten Lösungswegs.

Noch kein Thema

Das Erziehungsdepartement hat sich mit der künstlichen Intelligenz derweil noch nicht eingehend auseinandergesetzt. Instruktionen für Lehrpersonen, wie mit dem neuen Programm umzugehen ist, existierten nicht. «Wir gehen davon aus, dass sich die Lehrpersonen als Interessierte in aktuellen Entwicklungen, insbesondere im Bereich Medien und Informatik, der Herausforderungen durchaus bewusst sind», schreibt Ruth Marxer, Leiterin der Dienststelle Primar- und Sekundarstufe I. Und: «Wir werden selbstverständlich die Entwicklungen aufmerksam verfolgen.» Das Verfassen von Texten bleibe eine zentrale Kompetenz für Schülerinnen und Schüler, daran ändere das Gesprächsprogramm nichts; es gelte aber, die Rahmenbedingungen und Hilfsmittel dafür zu thematisieren.

Marxer illustriert die Wichtigkeit des fortgesetzten Schreibens und Rechnens mit einer Metapher: «Obwohl uns für die schnelle Fortbewegung ein Fahrrad zur Verfügung stehen würde, fördern wir das Rennen, die Koordination bei Bewegungsabläufen. Nur weil wir mit dem Fahrrad schneller am Ziel sind, verzichten wir nicht auf das andere Lernen.»

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