«Wie gaat’s?» – Die Floskel, die Franz nervt

Martin Edlin | 
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«Ein Realist hadert nicht mit der Realität»: Franz wird zum Tagesausflug in den Bus «eingeladen». Bild: Roberta Fele

An einem Tagesausflug der Regionalgruppe Schaffhausen der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft wird eigentlich nicht über die Krankheit gesprochen. Wir sind mitgereist … und haben doch erfahren, was diese «Krankheit mit tausend Gesichtern» bedeutet.

«Nei, scho nöd guet», antwortet Franz lapidar auf die Frage, wie es war, als er vor vierzig Jahren vom Neurologen – sechs Wochen, nachdem ihm Rückenmarksflüssigkeit entnommen und laborchemisch untersucht worden war – die unumstössliche Diagnose erhielt: «Multiple Sklerose». Damals («Es gab ja noch kein Internet») habe er gar nicht so recht gewusst, was die Krankheit «MS» ist und bedeutet.

Jetzt weiss er es, wie alle – Betroffene, Angehörige und Helferinnen und Helfer –, die fröhlich und guter Stimmung im modernen und speziell ausgerüsteten Car der «Thurtal-Reisen» sitzen, einem kleinen Unternehmen, das sich auf Fahrten mit Gruppen von Rollstuhlpatienten und handicapierten Menschen spezialisiert hat. Es geht ins Appenzellerland zum «Hohen Hirschberg», dem Ziel eines ganz besonderen Tagesausfluges, den die Regionalgruppe Schaffhausen der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft umsichtig und minutiös organisiert hat. Es gibt nämlich etwas zu feiern: Vor 40 Jahren, also zufälligerweise just, als Franz von seiner Erkrankung erfuhr, wurde die MS-Regionalgruppe gegründet.

Eines von tausend Gesichtern

«Wir sind wie eine Familie», sagen Regionalgruppen-Leiterinnen Vroni Vetsch und Brita Wehren. Rund fünfzig Mitglieder zählt diese Familie, etwa je zur Hälfte Betroffene und freiwillig Helfende, wobei Letztere zum Teil Angehörige sind. Die Zahl von MS-Patientinnen und -Patienten in unserer Region sei jedoch wohl doppelt so hoch, mutmasst Vroni Vetsch. Aber viele möchten wohl, gerade wenn sie jünger sind, ihre Erkrankung für sich behalten, «versuchen, mit ihrem Elend selbst fertig zu werden» und meiden die Gesellschaft, weswegen sie die Mitgliedschaft scheuten.

Krankheit mit tausend Gesichtern

Multiple Sklerose (MS) ist eine fortschreitende chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, zu dem Rückenmark und Gehirn zählen, und gehört zu den Autoimmunerkrankungen. Man unterscheidet drei unterschiedlich verlaufende Formen. Bei allen wird das Immunsystem fehlgeleitet und reagiert zu stark. Die sogenannten T-Zellen werden so aktiviert, dass sie körpereigenes Gewebe als schädlich einstufen und es angreifen. Zum ­anderen stossen sie entzündungsfördernde Botenstoffe aus.

MS macht sich meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr bemerkbar und ist damit die häufigste Nervenerkrankung im jungen Erwachsenenalter. Bei einer grossen Mehrzahl der Patientinnen und Patienten entwickelt sich die MS über lange Zeit hinweg in sogenannten Schüben: Längere ruhige Phasen ohne grosse Beschwerden werden von akuten Phasen mit neuen oder stärkeren Symptomen unterbrochen, die bleibende Schäden am Nervensystem zur Folge haben können.

MS ist nicht heilbar. Da sie sehr unterschiedlich verläuft («Krankheit mit tausend Gesichtern»), ist eine allgemeine Prognose zum Krankheitsverlauf schwierig. Manche Betroffene bemerken zwischen den Schüben jahrelang keine Verschlechterung oder kaum oder nur wenige Beeinträchtigungen und können ein normales Leben führen. In anderen Fällen führt die Erkrankung schon innerhalb weniger Jahre zu schweren Behinderungen, aber – dank der heutigen Medizin – kaum zu einer Verkürzung der ­Lebensdauer. (M.E.)

«Dabei reden wir nie über die Krankheit, wenn wir zusammen sind», schüttelt Franz den Kopf. Er schätzt den Zusammenhalt, den er in der Regionalgruppe erfährt, die Veranstaltungen und besonders die Ferienwochen als Abwechslung für die Betroffenen und oft herbeigesehnte Auszeit für pflegende Angehörigen. «Wir sind keine therapeutische Selbsthilfegruppe», betont denn auch Brita Wehren, «aber Ansprechstation, Kontaktvermittler und vor allem mit unseren Anlässen Anbieter von Abwechslung im Alltag.» Und so sprechen wir mit Franz während dieses Ausflugs auch nicht über die Krankheit, sondern über ihn. Allerdings: Man nennt Multiple Sklerose auch eine «Krankheit mit tausend Gesichtern» (alle Verläufe sind sehr individuell) … und Franz ist untrennbar eines dieser Gesichter.

MS schleicht sich an

Er, heute 78-jährig, ein Bauernbub aus Siblingen, wo er auch heute noch lebt, gelernter Elektriker und dann viele Jahre bei einer grossen Firma für Alarmanlagen als Servicemonteur tätig und so ständig unterwegs («Ich habe mit dem Auto 450 000 Kilometer zurückgelegt») litt plötzlich, gerade 37-jährig, unter unerklärlichen Sehstörungen … ein erster MS-Schub, wie sich herausstellen sollte. Oder dann bemerkte er bei einer Wanderung über den Randen, dass er den rechten Fuss nachschleppte. Später konnte er kaum mehr seine rechte Hand bewegen. «Multiple Sklerose beginnt oft mit unspezifischen Symptomen» bestätigt Brita Wehren, nicht nur Co-Leiterin der Regionalgruppe, sondern auch Medizinerin. Franz musste den Aussendienst aufgeben, arbeitete im Büro an technischen Unterlagen, wurde IV-Bezüger und ist heute natürlich pensioniert. Weitestgehend auf den Rollstuhl angewiesen, bedarf er der permanenten Hilfe bei der Bewältigung des täglichen Lebens. Seine Frau Charlotte ist diese Hilfe.

Sich-damit-abfinden

Nein, in Verzweiflung gestürzt habe ihn die Diagnose vor 40 Jahren nicht. Auch keine Resignation, als er nicht mehr wie in jungen Jahren Theater spielen, turnen und über lange Zeit an der Posaune im Musikverein sitzen konnte? Ebenso ein energisches «Nein»! «Ich kann ja nichts dagegen tun, was nun einmal ist. Ich bin Realist, nicht Utopist, und ein Realist hadert nicht mit der Realität, er nimmt sie hin.» Wenn er einem Menschen raten müsste, der gerade erfahren hat, dass er an MS erkrankt sei, würde er offen sagen: «Hoffnung gibt es nicht, deshalb versuche, dich damit abzufinden.» Das sei doch kein Resignieren, sondern die Einsicht, das Beste aus einer Unveränderlichkeit zu machen.

Dass er es kann, dieses Sich-damit-abfinden, sieht er auch ein wenig in seiner nicht leichten Jugendzeit auf dem Bauernhof (sein Vater starb, als er fünfzehn Jahre alt war) und stellt fest: «Ja, ich bin abgehärtet.» Doch da klingt keine Freudlosigkeit mit, weder wenn er nicht ohne Humor aus seinem Leben erzählt, noch mit Blick auf die Gegenwart: Das, was ihm Freude bereitet, ist das Draussensein, sich über das ­Geschehen nah und fern informieren, ein Anteilnehmen an der vielfältigen Umwelt, auf die er von seinem Haus in Siblingen blicken kann, Jassen, Fernsehen, Kontakte und Gespräche. Und selbstverständlich die Familie, die ihn unterstütze und zu der seine Frau, ein Sohn und eine Tochter und inzwischen Enkel und sogar fünf Urenkel zählen. Und die Einschränkungen? Eines will Franz sicher nicht: Mitleid! Ihn nervt die ihm gedankenlos gestellte Frage «Wie gaat’s?», wenn sie nur eine Floskel ist. «Denn wie es mir geht, kann ohnehin niemand verstehen und nachzuvollziehen».

Geburt der MS-Regionalgruppe

Wir sind über die schmale, sich auf über 1100 Höhenmeter hinaufwindende Strasse auf dem Hohen Hirschberg mit seinem gemütlichen Gasthaus angekommen. Franz war noch nie hier, aber im nahen Gais hatte er einmal als Artilleriesoldat einen zweiwöchigen WK absolviert. Sein Blick schweift beim Apéro im Freien über die bergige Landschaft und weckt Erinnerungen. «Ja, schön ist es hier!»

«Wir sind wie eine Familie»: Regionalgruppen-Leiterinnen Vroni Vetsch (links) und Brita Wehren. Bild: Roberta Fele

Das anschliessende Mittagessen ist das eine, das Feiern des 40-Jahr-Jubiläums der MS-Regionalgruppe Schaffhausen das andere. Das Dritte nimmt die meiste Zeit in Anspruch: Die Verabschiedung von Matthias Schlatter als langjähriges Vorstandsmitglied und bis letztes Jahr Präsident. «Eigentlich begann für mich alles bereits 1979», blickt er zurück, «als die Überkapazität bei vier Stationen des neuen Kantonsspitals die Realisation einer Idee der Schaffhauser Sektion des Schweizerischen Roten Kreuzes ermöglichte: zweiwöchige Ferien für Langzeitpatienten, einerseits, um ihnen Abwechslung zu ermöglichen, andererseits, um deren Angehörige zu entlasten.» Als ein ehemaliger Militärdienstkamerad als MS-Patient ins kantonale Pflegeheim kam, lernte Matthias Schlatter, inzwischen dort Verwaltungschef, die aus diesen «Patientenferien» heraus gegründete MS-Regionalgruppe näher kennen, engagierte sich als freiwilliger Helfer, wurde in den Vorstand, später als Präsident gewählt und sah seinen Einsatz als Bestätigung des Slogans «MS = Miteinander Stark». «Diese ganze Zeit hat mir viel Freude bereitet und Wesentliches zu meiner persönlichen Entwicklung und Lebenserfahrung beigetragen und damit meinen Horizont erweitert», sagt Schlatter nicht nur zu den Anwesenden, sondern wirbt damit auch um neue Freiwillige, welche die gleich guten Erfahrungen sammeln möchten.

«Wenn überhaupt Vorstellungen über Multiple Sklerose und MS-Patienten kursieren, sind es sehr oft falsche.»

Brita Wehren, Co-Leiterin MS-Regionalgruppe

Aber es geht, unterstreicht Vroni Vetsch, auch um die Öffentlichkeit: Im Kanton Schaffhausen lebt wohl die Mehrheit der Betroffenen (noch) selbständig, allenfalls mit Hilfe der Spitex, und geht zum Teil ­sogar dem Beruf nach. «Gerade diese Menschen erleben aber oft, dass Symptome falsch gedeutet werden», ergänzt ihre Leitungskollegin Brita Wehren und fügt bei: «Wenn überhaupt Vorstellungen über MS und MS-Patienten, kursieren, sind es falsche, zum Beispiel, wenn ein krankheitsbedingter unsicherer Gang als Trunkenheit gedeutet wird.» Mehr Wissen und Verstehen bei der Bevölkerung ist deshalb ein Anliegen, dem sich die Schweizerische MS-Gesellschaft mit einer gegenwärtig laufenden Inseraten-Kampagne angenommen hat.

«Jedes Jahr ein anderes Gesicht»

Auf der Rückfahrt setzen wir uns im Reisecar neben Charlotte, die Frau von Franz. Sie macht kein Hehl daraus, dass eine MS-Erkrankung «schwere Zeiten» bringt … ohne Trost, dass es besser werden wird: «MS ist unwiderruflich.» Dennoch würde sie Angehörigen von MS-Patienten sagen: «Nimm den Mut, den Weg zu gehen. Du musst wissen, dass Vieles auf dich und den Betroffenen zukommt und dass es zunehmend schwieriger werden wird. Jedes Jahr hat die Krankheit ein anderes Gesicht. Also ist für jede Situation die beste Lösung zu suchen.» Man müsse auch Hilfe, sei es vom Arzt, Therapeuten, Psychologen oder von anderen Fachleuten, annehmen.» Ja, diese Hilfe käme auch von der MS-Regionalgruppe und ihren Helferinnen und Helfer, «ganz toll», hält Charlotte fest: Bekanntschaften ergeben sich, die Patienten-Ferien haben ihr auch schon lang vermisste Tage in ihrer Bündner Heimat ermöglicht, und die Anlässe, die sie und Franz besuchten, seien stets richtige Aufsteller. Der Jubiläums-Tagesausflug auf den «Hohen Hirschberg» gehört sicher für alle, die dabei waren, dazu.

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