«Die Geburt ist und bleibt etwas Uriges»

Jurga Wüger | 
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Am 5. Mai ist der Internationale Hebammentag. Die pensionierte Hebamme Marie-Louise Rubin und die freischaffende Hebamme Felicia Greh sprechen über den Wandel des Hebammenberufes, Geburtstrends sowie technische Hilfsmittel damals und heute.

Früher wurde die Hebamme auch Wehemutter genannt, und sie spielt bis heute eine wichtige Rolle als kunstfertige Helferin der Gebärenden. Die Begleitung einer Schwangeren beginnt zwischen der 15. und 20. Schwangerschaftswoche und endet nach 40-tägigem Wochenbett. Die Geburt des Babys bildet den Höhepunkt dieser Begleitung. Die Frage «Wissen Sie, wie viele neue Erdenbürger Sie bereits in Ihrem Leben begrüsst haben?» richtet sich an die beiden Hebammen Marie-Louise Rubin (71) und Felicia Greh (44). «Nach 4000 Babys habe ich aufgehört zu zählen», sagt die pensionierte Hebamme Marie-Louise Rubin und lacht. Felicia Greh, Begründerin des Geburtshauses und der Hebammenpraxis Schaffhausen, lacht ebenfalls, als sie diese Frage hört. «Ich habe schon nach 2000 Babys aufgehört zu zählen», sagt sie.

Beide Frauen haben trotz ihrem grossen Altersunterschied eine ähnliche Hebammenausbildung von anderthalb Jahren Dauer am Universitätsspital Zürich absolviert. Heute müssen die angehenden Hebammen ein vierjähriges Studium absolvieren, welches mit dem Titel Bachelor of ­Science Hebamme abgeschlossen wird. «Einen Bachelor-Titel habe ich nicht», sagt Rubin. «Ich musste in meiner Ausbildung sofort ans Gebärbett und arbeiten.» Greh indes konnte den Titel nachholen. «Aber auch ich war schneller in der Praxis, als ich den Titel hatte», sagt sie. Die Studierenden heute bekämen viel mehr Theorie vermittelt, müssten Studien lesen und Englisch beherrschen.

Gebärende stundenlang massiert

Als Marie-Louise Rubin mit 30 Jahren mit ihrer Ausbildung zur Hebamme angefangen hatte, wurde in der Aussenstation der Pflegerinnenschule das Kardiotokogramm (CTG) nur bei Eintritt der Gebärenden und vor der Geburt eingesetzt. Dazwischen wurden die Herztöne damals mit einem Holztonrohr aus Buchenholz, abgehört. «Das war ein Theater», sagt Marie-Louise Rubin. «Um Herztöne des Kindes abzu­hören, mussten wir die arme Frau immer wieder auf den Rücken lagern. Ich hatte eine körperlich strenge Ausbildung. Wenn ich meinen Beruf nicht so geliebt hätte, wäre ich sicher davongelaufen.» Wie stand es denn damals mit der Periduralanästhesie und generell mit Schmerzmitteln zur Linderung der Geburtsschmerzen? Marie-Louise Rubin: «Das hatten wir nicht. Wir haben mit den Frauen richtig arbeiten müssen. Haben zum Beispiel stundenlang den Rücken massiert, um die Schmerzen zu lindern.» Von den Gebärenden wegzugehen, habe sich damals keine der Hebammen getraut, und Pausen seien nur selten möglich gewesen. «Dafür haben wir gelernt, die Gebärenden zu lesen, und konnten genau sagen, in welchem Stadium sie sich befanden.» Sie hätten die Triage ohne Technik durchgeführt und die Situation mit blossem Auge richtig einschätzen können. Später hätten die jungen Hebammen das dann nicht mehr so gut im Griff gehabt und sich auf die Technik verlassen, so Rubin.

Internationaler Hebammentag

Der Internationale ­Hebammentag wird seit 1991 jeweils am 5. Mai in mittlerweile mehr als 50 Ländern begangen, um Hebammen und ihre Arbeit zu ehren und um auf die Bedeutung der Hebammen für die Gesellschaft hinzuweisen. Zudem feiert in diesem Jahr der internationale Dachverband (International Confederation of Midwives), dem 140 Hebammenverbände und über eine Million Hebammen angehören, sein hundertjähriges ­Bestehen.

Felicia Greh nickt, als sie diese Worte hört. «Auch wir konnten in der Ausbildung nie genug sehen von allem», sagt sie. Heute ist sie erneut weg von der Technik und arbeitet mit Hausgeburten, weil sie näher an der Gebärenden sein will.

Technisch anders unterwegs

Früher sei das Geburtstrauma ein Tabuthema gewesen. Heute ist ein Wandel beobachtbar, und zwar, weil viele Frauen nicht mehr einfach als Objekt, sondern als ganze Person mit ihren vielschichtigen Bedürfnissen während der Vorbereitung und der Geburt wahrgenommen werden wollen, sagt Felicia Greh, die hinzufügt: «Ich bin heute technisch natürlich anders unterwegs als Frau Rubin damals. Für Herztöne des Babys nehme ich kein Hörrohr, sondern ein kleines tragbares CTG-Gerät.» Aber sie überwache die Gebärende nicht rund um die Uhr. «Ich musste als freischaffende Hebamme lernen, wieder meiner Intuition zu vertrauen.» Selbst Untersuchungen zur Lage des Babys oder Fruchtwassermenge werden von ihr mit den Händen gemacht. «Ich muss das alles erspüren und mich darauf verlassen können.» Für Felicia Greh ist das faszinierend, weil sie mehrheitlich auf Technik verzichtet. «Ich bin keine Assistentin mehr, die nur ausführt.» Wenn rote Backen auftreten, dann wisse sie schon Bescheid, was zu tun sei. Und das grösste Lob sei, wenn eine Frau nach der Geburt sage: «Wow, ich habe das allein geschafft», und nicht, «Danke, dass Sie mir geholfen haben.» Das sei der grösste Unterschied zwischen ihrer Arbeit bei der Hausgeburt und der Geburt im Spital. «Für mich ist es aber wichtig», sagt Felicia Greh, «an dieser Stelle klarzustellen, dass ich weder gegen die Technik etwas habe noch gegen eine Geburt im Spital. Es ist wunderbar, dass es beides gibt.»

Der Dienst dauerte zwölf Stunden

Marie-Louise Rubin erinnert sich: «Als ich 1982 am Kantonsspital Schaffhausen angefangen habe, waren wir Hebammen auf uns allein gestellt.» Nur ein Assistenz- oder ein Chefarzt sei jeweils bei den Geburten zugegen gewesen. Die Verantwortung habe klar bei den Hebammen gelegen. «Rückblickend muss ich schon sagen, dass es immer wieder zu enormen Stresssituationen gekommen ist.» Und der Dienst habe zwölf Stunden gedauert, so Marie-Louise Rubin. Danach mussten die Hebammen nicht nur den Gebärsaal desinfizieren, sondern auch noch die Instrumente reinigen. Aber: «Wir haben nichts anderes gekannt. Es war normal für uns.»

Heute seien die Hebammen jedoch viel mehr gestresst, so Felicia Greh, allerdings wisse sie nicht, warum. Marie-Louise Rubin fragt: «Hat man vielleicht im Hinterkopf, dass nichts passieren darf?» Was zur Frage führt, ob denn früher mit weniger Technik mehr «passiert» sei als heute. Beide Hebammen sind sich einig: «Definitiv nicht!» Heute habe man oft mit den Folgen von im Grunde unnötigen Eingriffen zu kämpfen. «Je mehr man ohne Notsituation eingreift, desto mehr unerwünschte Folgen solcher Eingriffe sind zu bewältigen.» Marie-Louise Rubin: «Ich habe bei allen Geburten Vertrauen in meinen siebten Sinn und die Gebärende gehabt, an meinen Schutzengel geglaubt. Und es ist immer gut gegangen.» Felicia Greh: «Unser Beruf hat tatsächlich etwas mit dem Urvertrauen zu tun. Ich höre immer auf meine innere Stimme, und wenn die sagt, etwas stimmt nicht, dann muss ich sofort reagieren.» Marie-Louise Rubin lacht. «Ja, diese Stimme hat bei mir nie versagt», sagt sie und erzählt von einem Vorfall, als im Kantonsspital Schaffhausen Professor Mario Litschgi schon nach Hause gehen wollte und sie ihn bat, doch noch zu bleiben. In diesem Augenblick klingelte es. Als Marie-Louise ­Rubin die Frau sah, wusste sie sofort: Irgendetwas stimmt nicht. Und tatsächlich. Bei der Untersuchung ertastete Rubin die Nabelschnur. Ein Kaiserschnitt war unumgänglich. «‹Marie-Louise, du und deine Intuition›», habe der Professor noch gesagt, bevor er in den Operationssaal verschwand.

Landfrauen gebären anders

Doch es gebe auch einen Unterschied zwischen Land und Stadt. Während Bäuerinnen damals wie heute «auf den letzten Drücker kommen», sind die Stadtfrauen anders aufgestellt. «Viele von ihnen goo­glen zu viel. Sie spüren sich nicht mehr gut und bauen nur auf die Medizin», sagt Felicia Greh. Wenn sich aber eine Hausgeburt ungeplant ereigne, habe sie es noch nie erlebt, dass etwas schiefgegangen sei. «In solchen Situationen machen die Eltern instinktiv alles richtig. Es ist schon ein paar Mal vorgekommen, dass das Baby schon da war, als ich kam. Dennoch sei sie keine Verfechterin der geplanten Selbstgeburt, im Gegenteil, so Felicia Greh. Es sei ein Trend in den letzten Jahren gewesen, dass die Gebärenden die Hebammen bewusst zu spät kontaktiert hätten. Wenn der Entscheid aber im Kopf und nicht instinktiv gefällt werde, kann es zu Komplikationen kommen. In solchen Situation habe sie manchmal Babys angetroffen, die zu kalt waren. «Geburt ist und bleibt etwas Uriges, und es ist Arbeit.» Dieser Trend der zu späten Benachrichtigung der Hebamme nehme jetzt aber ab, so Greh. Ein neuer Trend sei voll im Gang. «Frauen verlassen die Opferhaltung und kommen zum Entschluss, dass eine Geburt etwas Schönes sein kann.» Immer mehr Frauen würden den Wunsch nach dem Mitbestimmungsrecht während der Geburt äussern.

Berufen, Hebammen zu sein

Der Hebammenberuf liegt bei Marie-Louise Rubin, die heute, am Internationalen Hebammentag auch ihren Geburtstag feiert, in der Familie. Ihre Urgrossmutter war eine Dorfhebamme. «Es war mir früh klar, dass ich Hebamme werden möchte», sagt Marie-Louise Rubin. Sie selbst ist kinderlos geblieben. «Es ist gut so, wie es ist. Wer weiss, welchen Weg ich dann gegangen wäre.»

Auch für Felicia Greh ist dieser Beruf eine Berufung. Als ihre Mutter schwanger war, stellte sie sich immer vor, wie ihre Mama auf dem Bett sitzt, ein Engel kommt und ihr das Baby in die Arme legt. «Als kleines Mädchen habe ich in die Sterne geschaut und zu mir gesagt, ich möchte die Frau sein, die diesem Engel hilft.»

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