Mit der Stimme den Raum ausloten

Mark Liebenberg | 
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«Die Frage, wer spricht, ist immer politisch» – Martina-Sofie Wildberger in ihrer Soundinstallation im Museum zu Allerheiligen. Bild: Roberta Fele

Mit Martina-Sofie Wildbergers Sound- und Videoinstallationen und Live-Auftritten steht im Rahmen des Manor-Kunstpreises 2019 die Performancekunst im Zentrum.

I want to say something – vier Performende stehen sich übers Kreuz gegenüber. Und sprechen diese fünf Worte, erst einzeln, eines nach dem anderen, dann in diversen Kombinationen von Worten und Personen, in einem improvisierten Rhythmus. Und blicken mal ihr Gegenüber an, mal die Person rechts oder links. So entsteht eine Wortperformance, die zunächst ein Dialog unter den Performenden ist, mit Blicken, mit Körpersprache, variierten Satzfetzen, Wortkombinationen und Interaktionen. Say ist bald Frage, bald Befehl. Das want wird drängend deklamiert. Das I spielen sich die Performer wie Bälle zu, bis es zum Eye wird, den Augenkontakt zum Gegenüber meinend.

Man kann nicht mehreren Personen gleichzeitig in die Augen sehen – kann man mit mehr als einer Person auf einmal kommu­nizieren? Solche Fragen kommen auf bei der kurzen Videosequenz von Martina-Sofie Wildbergers Performance «SPEAK UP!» im Tinguely Museum Basel von vor zwei Jahren – und sie verdeutlicht, worum es in Wildbergers Kunst geht: um Kommunikation. Polyphone Interaktion nennt sie dieses Zusammenspiel von Wort, Stimme, Körper und Raum, der Rohstoff ist das gesprochene Wort, die menschliche Stimme. Wenn die Gruppe dann in wechselnden Aufstellungen den Raum durchschreitet und dabei immer neue Dialog- und Wortvariationen entfaltet, überwinden sie auch die Grenze zwischen Zuschauern und Performenden. Man könnte auch sagen: Wildberger stellt eine sozusagen tönende Struktur aus Körper und Stimmen in den Raum. Und definiert diesen neu, lotet ihn aus.

Say something!, kann dann die Aufforderung an einen Zuschauer sein. «Die meisten Zuschauer sind dann belustigt oder irritiert, das ist dann jeweils eine Gratwanderung», sagt Martina-Sofie Wildberger lachend. «Klar, es ist eine physische Kunst, aber wir wollen keine Geschichte erzählen oder etwas darstellen, sondern eigene Gedanken beim Zuschauer entstehen lassen.» Ein gewisser Anteil an Improvisation ist bei ihren Performances jeweils dabei.

«Performance ist ein Medium, das Mecha­nismen in der Gesellschaft erfahrbar ­machen kann in einem geschützten Raum.»

Performance – das hat nichts mit Schauspielerei zu tun, eher mit einer Choreografie. Die Spieler stellen nichts dar, drücken nichts aus, sie sind «menschliche Lautsprecher», wie eine Kunstwissenschaftlerin zu Wildbergers Einzelausstellung 2016 in Luzern schrieb. «Mich interessiert, wie mündliche Kommunikation funktioniert und wie sich Bedeutung und die Wirkung von Gesprochenem je nach Raum und Situation verändert», so bringt Wildberger das Gemeinsame an allen ihren Arbeiten auf den Punkt.

«Das ist ein grosse Chance für mich»

Mit ihrem Werk hat die in Zürich und Genf lebende Künstlerin den Manor-Kunstpreis 2019 gewonnen und kann eine grosse Ein­zelausstellung im Museum Allerheiligen in Schaffhausen realisieren. «Das ist eine grosse Chance für mich», sagt die 34-Jährige in der grossen Kammgarnhalle des Museums.

Damit zeigt das Museum zum ersten Mal eine grössere Ausstellung von einer Performancekünstlerin – wobei «Ausstellung» eben irreführend ist. Performancekunst ist ja etwas Flüchtiges. Werkschau trifft es eher. «Ich zeige eine neue Videoarbeit von einer Performance sowie eine Klanginstallation», erklärt Wildberger. Letztere findet in einem eigens gestalteten Raum statt, dessen vier Wände mit Sentenzen aus der Soundinstallation beschriftet sind: aus Buchstaben, Worten werden so etwas wie Ornamente, schwarz auf weiss. Aus sechs Lautsprechern läuft eine rund fünfzehnminütige Performance, «VOICES».

Kern der Manor-Kunstausstellung jedoch sind die fünf Live-Auftritte der Künstlerin und ihren drei Performancepartnerinnen und -partnern im Dezember und Januar. «Derzeit proben wir intensiv daran», sagt Wildberger.

Voraussetzung für den Preis war übrigens ein Bezug zu Schaffhausen, und den hat sie. «Die Eltern meines Grossvaters hatten eine Mühle in Neunkirch, die in seiner Kindheit abbrannte. Mein Grossvater kam infolgedessen bei Bekannten in der Westschweiz unter.» Die Familie blieb aber heimatberechtigt in Neunkirch. Geboren und aufgewachsen in Zürich, studierte Wildberger Kunst und erwarb 2011 einen Master in Fine Arts. Für die Performancekunst hat sie sich früh entschieden, und das kam so: «Ich habe während dem Kunststudium viel mit Tanz gearbeitet, bis ich mir den Vorderfuss verletzte.» Eine Sensibilität für Bewegung im Raum erhielt sich die junge Künstlerin und brachte sie mit ihrem Interesse für gesprochene Texte und das Wort als Bedeutungsträger zusammen.

Vom Wort zur nonverbalen Botschaft

Vorletztes Jahr weilte die Künstlerin für ein Jahr am renommierten Istituto Svizzero in Rom. Seither hat sie unter anderem für die Schaffhauser Ausstellung eine neue Performance erarbeitet, «SCREAM», die nun ganz auf Text verzichtet und allein mit dem Klang der menschlichen Stimme arbeitet. «Jeder Mensch hat eine individuelle Stimme», sagt sie, «über die eine ganze Menge an nonverbalen Botschaften transportiert werden.» Was bedeutet ein Schrei? «Wir kommen mit einem Schrei auf die Welt», erklärt Wildberger, «sein kommunikativer Zweck ist kulturübergreifend Ausdruck von Zuständen wie Erschrecken, Schmerz, Lust, Übermut oder Freude.»

Diese Bedeutungsebenen auszuloten und dabei das «Material» vom Wort auf den puren Laut zu reduzieren, das stellt für die Künstlerin eine Weiterentwicklung ihrer bisherigen Arbeit dar. Und sie spricht dabei auch ein aktuelles Thema an: «Wir sind von künstlicher Intelligenz umgeben und immer mehr auch von synthetischen Stimmen, nehmen Sie zum Beispiel Siri oder das Navigationsgerät im Auto.» Die Frage lautet: was macht eine menschliche Stimme aus – oder, wie es in der Kammgarnhalle heisst: «is there a voice to each body/what makes a voice human?»

Sowohl in I want to say something und mit «SCREAM» spricht die Künstlerin auch imminent politische Themen an . «Die Frage, wer spricht, ist immer politisch. Wer erhält Redezeit, wer wird gehört und wer nicht? Was geschieht, wenn ich als Frau das Wort ergreife? Das beschäftigt mich enorm, gerade im Internet ist ja ein wahrer Kampf um Aufmerksamkeit entbrannt.» Dem Geschrei in der Tagespolitik und den sozialen Medien etwas entgegensetzen, oder es zumindest zu thema- tisieren, das versteht Wildberger als Aufgabe ihrer Kunst.

Doch zu welchem Zweck, mit welcher Wirkung? «Für mich ist die Performance ein Medium, das Strukturen und Mechanismen in der Gesellschaft erfahrbar machen kann in einem geschützten Raum. Performende und Publikum kommen in einem ganz intimen und direkten Kontakt zueinander. Gedanken, Gefühle und das Erlebte können das Bewusstsein schärfen, was im Alltag hoffentlich nachhaltig unsere Handlungsmuster ändert.»

I want to say something gibt es inzwischen in verschiedenen Versionen, als Trio, als Quintett und als Soloperformance, die auch an der Vernissage am kommenden Donnerstag im Museum Allerheiligen zu erleben ist. Dies –und die Tatsache, dass die Arbeit wie alle Arbeiten Wildbergers in englischer Sprache ist – hat auch einen praktischen Grund: Sie ist beliebig reproduzierbar. Die Liste von Orten, wo Wildberger sie gezeigt hat, ist beeindruckend: Rom, Berlin, Paris, nächste Woche geht sie damit nach Amsterdam.

Die Ausstellung zum Manor-Kunstpreis 2019 beginnt am kommenden Mittwoch mit einer Vernissage und dauert bis zum 16. Februar.

 

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