Warum im Rat so viele Stühle frei werden

Zeno Geisseler | 
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20 Prozent der Sitze mussten neu besetzt werden: Schaffhauser Kantonsrat. Bild: Zeno Geisseler

Jedes fünfte Mitglied des Kantonsrats ist in der aktuellen Amtszeit zurückgetreten. Wir haben die Zurückgetretenen nach ihren Beweggründen befragt.

Vier Jahre lang sollen sich Kantonsrätinnen und Kantonsräte «für die Ehre, die Wohlfahrt und den Nutzen des Kantons Schaffhausen» einsetzen. So steht es im Gelübde, das die Parlamentarier ablegen müssen. Doch längstens nicht alle Kantonspolitiker schaffen es, diesem Versprechen eine ganze Amtszeit lang nachzuleben. Seit dem Beginn der neuen Legislatur, Anfang 2017, haben zwölf Personen ihr Amt niedergelegt. Zwanzig Prozent des Parlaments sind ausgewechselt worden.

Wir haben mit allen zwölf Zurückgetretenen gesprochen. Dabei ist klar geworden, dass es einen grossen, gemeinsamen Nenner für die Abgänge nicht gibt. Letztlich sind die Rücktrittsgründe so individuell wie die Zurückgetretenen. Erkennbar sind aber gewisse Tendenzen. Bei jüngeren Mitgliedern führte nicht selten ein Berufs- oder Wohnortwechsel zur Amtsniederlegung. Seraina Fürer (Juso) etwa zog wegen ihrer Ausbildung aus dem Kanton weg. Auch Susi Stühlinger (AL) verlässt Schaffhausen. Gestandene Kantonsräte wie Jürg Tanner, Werner Bächtold oder Richard Bührer (alle SP) wiederum verbanden ihren Abgang mit ihrem Alter oder der Pensionierung. «Ich will», sagt Bächtold, «mein Leben endlich ohne vorgegebene Termine gestalten.»

Aus den Antworten der Zwölf sticht allerdings auch eine allgemeine Unzufriedenheit hervor. Diese hat mit dem Ratsbetrieb an sich zu tun, aber auch mit dem Umgang miteinander. Ein grosses Thema ist zudem die Arbeitslast.

Der Kantonsrat trifft sich im Schnitt alle zwei Wochen, eine Sitzung dauert vier Stunden. Dazu kommen Kommissionssitzungen, Fraktionstreffen und das Aktenstudium. Dino Tamagni (SVP) sagt, bei ihm sei das alles auf ein 15-Prozent-Pensum hinausgelaufen – zu viel für den COO eines mittelständischen Unternehmens. Martina Munz (SP) wandte etwa einen Tag pro Woche auf, bei Parteikollege Werner Bächtold waren es sogar etwa 15 bis 20 Stunden.

Der Einsatz steigt insbesondere mit der Berufung in Gremien wie der Geschäftsprüfungskommission. «Die GPK verdoppelt den Aufwand», sagt Richard Bührer. «Als Berufstätiger ist ein GPK-Sitz kaum machbar. Darum sitzen in der GPK fast nur Rentner, Exekutivmitglieder, Studenten oder Selbstständige.»

Für Till Aders (AL) war die Zahl der Stunden weniger das Problem. «Es war insbesondere die starke Schwankung der Belastung und die schlechte Planbarkeit.»

Liegt es am Montagmorgentermin?

Die Sitzungen des Kantonsrats finden jeweils montags von 8 Uhr bis 12 Uhr statt, bei besonderen Themen wie dem Budget kann auch eine Nachmittagssitzung und sogar eine Abendsitzung folgen, manchmal spontan angesetzt.

Berufstätige Kantonsparlamentarier müssen also alle zwei Wochen den Montag freischaufeln. Und das gelingt nicht allen. Unternehmer Pius Zehnder (SVP): «Am Montagmorgen wird in vielen Betrieben die Arbeit verteilt, als Kadermitarbeiter muss man da anwesend sein.» Der Sitzungstermin des Parlaments der Stadt Schaffhausen, jeweils dienstagabends, sei viel praktischer. «Deshalb gibt es dort auch die besseren Leute», sagt Zehnder. Er schlägt vor, die Kantonsratssitzungen jeweils auf freitags, 16 Uhr anzusetzen. «Dann wären auch nur jene dabei, die sich wirklich einsetzen wollen.» Auch Werner Bächtold sagt, der Montagmorgen sei ein Problem. «Wenn man engagiert politisiert, ist ein Kantonsratsmandat mit einem Pensum von 100 Prozent im Beruf schlecht machbar.» Eine Abendsitzung wie im Grossen Stadtrat ist aus seiner Sicht allerdings auch keine gute Idee. «Vierstündige Abendsitzungen sind ein No-Go.»

Doch die Kritik am Montagmorgen ist nicht universal. «Kein Problem», sagt etwa Katrin Bernath (GLP). Und für Susi Stamm (FDP) war es vor allem eine Frage der Planung: «Man weiss es ja vorher schon und stellt sich darauf ein. Die Abende sind wahrscheinlich nicht besser.»

Liegt es am Sitzungsgeld?

Auch wenn Kantonsrat ein Milizamt ist: Für Gotteslohn müssen die Parlamentarier nicht arbeiten – pro Parlaments- und Kommissionssitzung gibt es 200 Franken Sitzungsgeld, für Präsidien das Doppelte. Nicht bezahlt wird die Vorbereitungszeit, die etwa gleich lang dauert.

«Statt der fähigsten Personen werden heute die zeitlich verfügbaren Leute delegiert.»

Martina Munz (SP)

Die Entschädigung sei «angemessen» und «okay», sagen mehrere Befragte. Es gibt aber auch Kritik: «200 Franken für einen Aufwand von acht Stunden? Das ist lachhaft», sagt Zehnder. Juso-Frau Fürer ergänzt, dass ein zu tiefer Ansatz dazu führen könne, dass sich gewisse Schichten ein Mandat nicht leisten könnten, weil sie auf einen Vollzeitlohn angewiesen seien oder eine Familie ernähren müssten. Es sei zu überlegen, in solchen Fällen eine Ausnahme zu schaffen, um den Lohn zu kompensieren. Jürg Tanner hat noch einen weiteren Vorschlag: «Man müsste für Mitglieder vor dem AHV-Alter das Sitzungsgeld verdoppeln, bei den Pensionierten sollte man es eher reduzieren, da sonst offensichtlich ein Run dieser Altersgruppe auf Kommissionssitze stattfindet.»

Ist das Parlament zu klein?

2009 wurde der Kantonsrat von 80 auf 60 Personen verkleinert. Die Arbeit, vor allem in den Kommissionen, wird seither auf weniger Köpfe verteilt. War diese Verkleinerung ein Fehler? Ja, findet Martina Munz. Sie spricht von einem grossen Qualitätsverlust: Die Kommissionsarbeit konzentriere sich nun auf die immer gleichen Personen. «Sie sind meist pensioniert. Statt der fähigsten Personen werden heute die zeitlich verfügbaren Leute delegiert.» GLP-Frau Bernath ergänzt, dass gerade in kleinen Fraktionen die zeitliche Belastung sehr hoch sei. Die meisten der Befragten können dazu allerdings keine Aussage machen – sie seien vor der Verkleinerung noch gar nicht im Rat gewesen, ihnen fehle der Vergleich, so der Tenor.

Ist die Stimmung schlecht?

Auf die Frage, was ihnen im Rat weniger gefallen habe, fallen Bemerkungen, dass die Ratsarbeit schwerfällig und unstrukturiert sei (Fürer), es gebe «langatmige Sonntagsreden nach Sonntagsregen» (Tanner) und uferlose und inhaltsarme Debatten (SP-Mann Urs Weibel). Die Gesetzgebung sei wenig professionell (Stühlinger), die Bereitschaft für gemeinsame Lösungen weniger vorhanden (Munz), die politische Profilierung und nicht die Lösungsfindung stehe im Zentrum (Bernath). Bemängelt wird zudem die Kommunikation. Es gebe einen sehr rauen Umgangston (Stamm). Wer keine Freude an harten Debatten habe, solle es lieber bleiben lassen (Bührer). Einzelne Kantonsräte, «ausschliesslich Männer», würden in verletzender Art unter die Gürtellinie zielen (Bächtold). Indirekter sagt es Susi Stühlinger: «Die Zusammenarbeit mit weiblichen Ratsmitgliedern empfand ich über sämtliche Parteigrenzen hinweg stets als angenehm.» Dino Tamagni hingegen erlebte «eine gute Streit- und Diskussionskultur», und man habe mit anderen Parteimitgliedern auch mal ein Feierabendbier trinken können.

Versöhnlich fällt die Antwort auf die Frage aus, ob sie selbst einer Kollegin oder einem Kollegen ein Kantonsratsmandat empfehlen würden. Elf von zwölf antworten mit einem klaren Ja. «Sich auf höchster Ebene einzumischen und zu mitzudiskutieren, ist bereichernd», sagt Till Aders, «das Amt ist eine Lektion fürs Leben.» Kritischer sieht es einzig Pius Zehnder: «Wissen Sie», sagt er, «was ich einem sagen würde, der antreten will? ‹Willst du zu denen gehören, die man am Montagmorgen sonst nirgends brauchen kann?›»

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