«Es ist nicht gut, es ist nicht schlecht, es ist okay»

Alfred Wüger | 
Noch keine Kommentare
«Ich bin froh, dass der Staat so etwas macht. Anderswo würdest du auf der Strasse liegen», sagt Paul in seinem Zimmer. Bild: Selwyn Hoffmann

Wer seine Obdachlosigkeit nicht aus eigener Kraft überwinden kann, findet im Sozialen Wohnen Geissberg Unterschlupf. Für ein eigenes Zimmer muss regelmässig im Haus mitgearbeitet werden.

Es braucht im Grunde nicht viel – eine Scheidung, psychische Probleme, Alkoholprobleme, Drogen, Schulden –, und man fällt aus dem oft als selbstverständlich betrachteten sozialen Gefüge heraus. Aber im Kanton Schaffhausen fällt man dann nicht einfach ins Nichts. Es gibt Auffangstationen. Es gibt die Gassenküche, es gibt für Drogensüchtige den Tagesraum Schaffhausen (Tasch), es gibt Beschäftigungsprogramme, die Sozialhilfe, und obwohl es den «Schärme» im eigentlichen Sinne nicht mehr gibt, werden die Unterkünfte auf dem Geissberg, wo sich auch die Notschlafstelle befindet, im Volksmund weiterhin so genannt.

«Das ist jetzt der ‹Schärme›», so Martin Amman, Leiter Existenzsicherung beim Sozialamt der Stadt Schaffhausen, beim Aufschliessen der Tür des Hauses neben dem Kantonsspital. «Viele, die hier im Sozialen Wohnen Geissberg leben, sind alleinstehend, haben vielleicht eine Zeit lang die Miete nicht bezahlt, waren stationär in einer Klinik. Wenn man einmal so aus dem Alltagsgefüge herausgefallen ist, dann wird es schwierig», sagt Amman. «Die Leute kommen mit sehr viel Widerstand hierher.» Beim Sozialamt werde man über die Möglichkeit, auf dem Geissberg Obdach zu finden, informiert. «Viele von diesen Personen», so Martin Amman, «kommen dann aber gar nicht hier an, und zwar weil es ihnen irgendwie gelingt, doch noch irgendwo privat unterzukommen.»

Sich mit dem Abstieg arrangiert

Bei Paul (Name geändert) indes hat das irgendwann nicht mehr geklappt. Er gehört zu denen, die auf dem Geissberg Bleiberecht haben. Paul hat einen Schlüssel, und er arbeitet in der Werkstatt. Auf die Frage, wie lange er schon hier lebe, sagt er: «Schon viel zu lange. Das Haus, wo ich wohnte, wurde verkauft. Dann habe ich keine Wohnung mehr gefunden. Dann bleibt nur das.» Er sei schon auf dem Sozialamt gewesen, als er noch eine Wohnung gehabt habe. «Da hatte ich auch noch einen ganz kleinen Job. Einen solchen suche ich auch jetzt. Aber es ist schwierig. Mit 60.»

Aber Paul hat sich auf eine gewisse Weise auch mit seiner Situation abgefunden. «Es ist cool hier. Ich kann in der Werkstatt auf meinem Beruf arbeiten.» Schwieriger ist für ihn das Zusammenleben mit den andern, die ebenfalls auf dem Geissberg entweder wie er wohnen oder die Nothilfestrukturen nutzen. «Wenn das Umfeld im Haus nicht stimmt, ist es schwierig.» Vor allem, wenn es lärmig ist, wenn es Streit gibt. Wenn wieder einmal einer randaliert und Einrichtungsgegenstände zerstört. Aber, so Paul: «Es ist nicht gut, und es ist nicht schlecht, es ist okay. Ich bin froh, dass der Staat so etwas macht. Anderswo würdest du auf der Strasse liegen.»

Paul denkt, dass er «hier dann schon rauskommt», wenn er erst einmal pensioniert ist, aber Martin Amman sagt, dass er auch dann hierbleiben könne, und fügt hinzu: «Wir sind keine Pflegeeinrichtung, aber wir können Obdach bieten. Wer hier lebt, hat den sozialen Abstieg ja nicht gesucht. Die Menschen haben sich einfach arrangiert.»

Ein im Grunde baufälliges Haus

Das Haus verfügt über vier Stockwerke. Auf jedem Stockwerk symmetrisch zu beiden Seiten des Treppenhauses angeordnet liegen die Flure mit den Zimmern. Darin ein Bett, ein Schrank, ein Lavabo mit fliessendem Wasser. Das WC befindet sich auf dem Stockwerk, ebenso ein Aufenthaltsraum sowie eine Küche. «Wir trauen zurzeit allen zu, dass sie selber kochen können», sagt Martin Amman. «Wir wollen ihnen die Grundkompetenzen nicht nehmen.» Die Atmosphäre im Sozialen Wohnen Geissberg sei familiär und kontrolliert. «Jeder Bewohner hat eine Bezugsperson, und es gibt regelmässige Zimmerkontrollen.» Sei etwas nicht in Ordnung, werde ein Plan für die Verbesserung erstellt. Unten im Eingangsbereich befindet sich einen Aufenthaltsraum sowie das Büro. 520 Stellenprozent entfallen auf die Betreuerinnen und Betreuer. «Es ist immer jemand da, während 24 Stunden. Am Wochenende ist jemand da und auch während der Nacht», so Amman.

Martin Amman vom Sozialamt Schaffhausen.

Im Untergeschoss sind die Werkstätten untergebracht: eine Schreinerei, eine Schlosserei, eine Malerei und ausserdem die Haustechnik. Dass bei unserem Besuch gerade Fachleute dabei sind, Abwasserleitungen durchzuspülen, zeigt, dass das Haus im Grunde baufällig ist. Es gebe keine Isolation, immer wieder seien Wasserleitungen geborsten, weil sie eingefroren gewesen seien, kurz: «Wir sind hier schon seit zehn Jahren am Basteln.»

Und im Untergeschoss gibt es noch einen Raum. Hier finden die ein Bett, die an allen andern vorbeigeschleust werden müssen, zum Beispiel, weil sie aggressiv sind. Wer auf diesem Weg zum Haus kommt, kann klingeln und wird nach einem Kontrollblick durch die Überwachungskamera eingelassen, schläft und geht wieder.

Menschen, denen es nicht gut geht

Und wie sieht es mit den Drogen aus? Martin Amman: «Das Konsumieren von harten Drogen ist nicht erlaubt. Das ist mit ein Grund, dass die, die den A-Status haben, nicht hierbleiben dürfen. Sie können tagsüber in den Tasch.» Dort, im Tagesraum, können sie ihre Suchtmittel unter hygienischen Bedingungen und unter Aufsicht konsumieren. «In Schaffhausen haben wir die Drogenszene gut im Griff», sagt Martin Amman. «Wir arbeiten auch gut mit der Polizei zusammen.»

Im Sozialen Wohnen auf dem Geissberg sei die Fluktuationsrate nicht gross. «Viele sagen, sie hätten gerne eine eigene Wohnung, aber wenn wir dann einen Vorschlag machen, dann wollen sie dort nicht hin», sagt Martin Amman. Auch das Bilden von Wohngemeinschaften sei kaum möglich, und Einzelpersonen seien im Sozialen Wohnen im Grunde besser aufgehoben als in einer eigenen Wohnung. «Hier vereinsamen sie nicht. Wir lassen niemanden, der bei uns anklopft, im Stich. Oft lassen Hilfebedürftige allerdings kaum Hilfe zu.» Sozialhilfeempfänger seien oft sehr eigen und individualistisch. Aber, so Martin Amman: «Wir müssen das einfach ertragen, auch in der Stadt, dass es Menschen gibt, denen es nicht gut geht.»

Soziales Wohnen auf dem Geissberg bis Ende 2020

Der geplante Spitalneubau auf dem Geissberg bringt auch Veränderungen im Bereich Soziales Wohnen mit sich: Das Haus auf dem Geissberg muss Ende 2020 geräumt werden. Der Sozialreferent der Stadt Schaffhausen, Simon Stocker, sagt: «Es besteht eine Nutzungsvereinbarung mit den Spitälern Schaffhausen. Sie hätte erstmals auf den 31. Dezember 2018 gekündigt hätte werden können. Dies ist aber nicht geschehen, da sich die Planungsarbeiten für ein neues Kantonsspital verlängert haben. Wir haben die schriftliche Zusicherung, sicherlich bis 31. Dezember 2020 bleiben zu können.» Zurzeit würden neue Lösungen geprüft. Dabei werden auch das Angebot und die Anzahl der Plätze unter die Lupe genommen. «Der Stand der Dinge ist, dass wir Inhalt und Anzahl der Plätze überprüfen», so Simon Stocker. «Eine gewisse Flexibilität nach oben ist erforderlich, aber die Platzzahl wird reduziert werden.»

Hier auf dem Geissberg finden Obdachlose einen Unterschlupf. Bild: Alfred Wüger

Die Personen, die gegenwärtig das ehemalige Schwesternhaus auf dem Geissberg bewohnen, sind in drei Kategorien eingeteilt: Rund zehn Personen haben den A-Status. Das heisst, sie dürfen sich nur zwischen 17 Uhr und 10 Uhr im Haus aufhalten. Sie nutzen die Notschlafstelle. Den B-Status haben 25 Personen: Sie dürfen bleiben, bis sie eine eigene Wohnung gefunden haben. Und zehn Bewohner haben den C-Status: Ihre Wohn­erlaubnis auf dem Geissberg gilt unbeschränkt. (Wü.)

Kommentare (0)

Neuen Kommentar schreiben

Diese Funktion steht nur Abonnenten und registrierten Benutzern zur Verfügung.

Registrieren