«Forschung ist wie ein Schneeball»

Zeno Geisseler | 
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Fiona Burkhard studierte zuerst Mathematik, wechselte dann aber in die Medizin: «Ich kann nicht in mehr als drei Dimensionen denken.» Bild: zvg

Fiona Burkhard ist Chefärztin am Berner Inselspital. Dabei hatte ihr Schaffhauser Lehrer geglaubt, dass sie nicht einmal die Kantiprüfung schaffen würde.

September 1982, Zentrum St. Konrad, Schaffhausen: Die Kantonsschule feiert ihre Maturandinnen und Maturanden. Darunter sind Leute, die Schaffhausen prägen werden: Peter Neukomm etwa, der heutige Schaffhauser Stadtpräsident; Peter Sticher, der jetzige Erste Staatsanwalt, und Jeanette Moosmann (sie sollte später ihren Mitmaturanden Christoph Storrer heiraten und Stadträtin werden). Der Unterseminarchor singt Orff («Vivamus», «O Fortuna»), Beatrice Bächler von der 6rA hält die Maturrede («Mehr Menschlichkeit statt mehr Wohlstand»). Bevor es zur Stärkung geht – Rostbratwurst – intonieren alle ­gemeinsam die Studentenhymne «Gaudeamus igitur».

An diesem Tag erhält auch die 19-jährige Fiona Burkhard ihr Maturzeugnis. Dass sie so weit kommen würde, war zumindest aus Lehrersicht keine Selbstverständlichkeit. Vor dem Eintritt in die Kanti hatte ihr Lehrer sie gewarnt: «Fiona, du musst gar nicht erst zur Aufnahmeprüfung antreten. Du kommst sowieso nicht durch. Und wenn, dann fliegst du in der Probezeit wieder raus.»

Fiona Burkhard schmunzelt, als sie diese Episode aus ihrer Schaffhauser Schulzeit fast vier Jahrzehnte später erzählt. Wir ­sitzen in ihrem Büro im fünften Stock des Anna-Seiler-Hauses im Inselspital Bern. «Ich war eben eine Minimalistin», sagt sie. «Doch mein Vater, der nach Besuch des Technikums Winterthur nach Amerika ausgewandert war und an der renommierten Brown University in Boston Luftfahrtingenieur studierte, glaubte an mich. Er sagte mir: ‹Du gehst an die Prüfung›, und ich bestand.»

Die Kantizeit in Schaffhausen wurde zum Grundstein einer bemerkenswerten akademischen Karriere. Heute ist Burkhard Chefärztin an der Universitätsklinik für Urologie am Inselspital, und sie ist die einzige Urologin in der Schweiz mit einer Professur. Gradlinig verlief Burkhards Weg in die Medizin – und in die Urologie – allerdings nicht.

Kindheit in den USA

Die «Schaffhauser Nachrichten» listeten 1982 die geplanten Studienrichtungen der Maturandinnen und Maturanden auf. Bei Burkhard war damals nicht Medizin angegeben, sondern Mathematik. Sie schrieb sich an der ETH ein, belegte Physik und ­Mathematik, «dem Vater zuliebe», sagt sie. «Aber ich kann nicht in mehr als drei ­Dimensionen denken.» Deshalb folgte bald der Wechsel in die Medizin. Das sei schon früher ihr Herzenswunsch gewesen, wenn auch die genaue Richtung noch unklar ­gewesen sei. «Ich wollte auch mal Veterinärin werden. Für Grosstiere. Doch dafür war die Zeit noch nicht reif.» Ein befreundeter Tierarzt meinte zu ihrem Berufswunsch bloss: «Was meinst du, wie die Bauern rea­gieren, wenn du als zierliche junge Frau auf dem Hof aufkreuzt und eine ihrer Kühe behandeln willst.»

Ihre ersten Lebensjahre hatte Burkhard in den USA verbracht. Erst als Zehnjährige kam sie in die Schweiz, nach Davos. In drei Monaten lernte sie, die zuvor kaum Deutsch konnte, den Bündner Dialekt. Mit elf kam sie nach Schaffhausen, wo die Familie auf der Breite wohnte. Ihr Vater Kurt Burkhard arbeitete bei der Alusuisse in Neuhausen, Mutter Diana als Physiotherapeutin.

Ihre Sporen verdiente sich die junge Ärztin zum Teil im Kantonsspital Schaffhausen ab, in der Anästhesie, und später drei Jahre in der Chirurgie bei Professor Ganzoni. «Es war eine strenge Schule, die mich wirklich weitergebracht hat», erzählt sie. «Als Chirur­gin geht es häufig um Entscheidungsfindungen. Man muss einen Entscheid fällen, aber auch flexibel genug sein, diesen zu ­ändern, wenn man merkt, dass er nicht der richtige war.»

Als allgemeine Chirurgin arbeiten wollte sie aber nicht. «Gestern eine Amputation, heute ein Darmeingriff, morgen eine Fraktur? Das war mir zu breit und zu flach.» Zu ihrer Spezialisierung kam sie per Ausschlussverfahren: Gynäkologie? Lieber nicht. Hals-Nasen-Ohren? Nein. Gefässe? Auch nicht. Also blieb die Urologie. Ein Fach, wie sie sagt, «das für mich einst das Allerletzte war». Und das ihre Karriere doch prägen würde.

In einem Vorstellungsgespräch am Inselspital in Bern wurde sie 45 Minuten lang ­gefordert, fachlich, aber auch persönlich. «Am Schluss fragte mich der Chef, ob ich mich an einem Kongress überhaupt verteidigen könne.» Sie antwortete: «Wenn man mich genug reizt, dann ja.» Professor Studer, der Arzt, der sie damals einstellte, sei ein guter Mentor gewesen. «Er hat mich mehr oder minder unsanft in die richtige Richtung gestossen.»

Heute leitet sie eine Gruppe in der Abteilung für biomedizinische Forschung. Zusammen mit einer Molekularbiologie-Professorin untersucht sie molekulare Veränderungen bei Blasenfunktionsstörungen. «Grundlagenforschung ist wie ein Schneeball», sagt Burkhard, die in ihrer raren ­Freizeit gern Skitouren unternimmt. «Etwas ganz Kleines gerät ins Rollen und wird dann immer schneller und grösser.» Doch rollt der Ball auch in die richtige Richtung? «Wir sind gut unterwegs», sagt sie. «Auch wenn wir viel Geduld brauchen.»

Ihre Arbeit wird respektiert und unterstützt, so von der Velux-Stiftung und vom Schweizerischen Nationalfonds. Dieser hat dem Frauenteam einen Beitrag über 430 000 Franken gewährt. Viel Geld – und auch wieder nicht: «Das reicht, um eine PhD-Stelle plus Verbrauchsmaterial für drei Jahre zu finanzieren», sagt Burkhard.

Jeweils dienstags ist ihr Forschungstag. Diesen verbringt sie weniger im ­Labor als am Schreibtisch. Die Suche nach Fördermitteln ist eines jener Themen, die sie beschäftigen. Das und die zunehmende Bürokratie in der humanmedizinischen Forschung. An einer Wand in ihrem Büro hängt ein Bild von Don Quixote.

Wäre es andernorts nicht weniger ­bürokratisch? Und einfacher, an Forschungsgelder zu gelangen? «In China vielleicht. Oder Ägypten. Aber da will ich nicht hin», sagt sie.

Je höher, desto weniger Frauen

Die Medizin ist nach wie vor von Männern dominiert. 58 Prozent beträgt der Anteil der Männer gemäss Ärzteverband FMH. Die Frauen holen auf, unter den Studierenden sind sie inzwischen sogar in der Mehrheit. Doch je höher die ­Hierarchiestufe, desto spärlicher werden die Frauen. Noch bei den Oberärzten, berichtete die «SonntagsZeitung» im April, seien die Geschlechter gleich stark vertreten. Doch bloss 24 Prozent der leitenden Ärzte sind Frauen, bei den Chef­ärzten sind es sogar nur 12 Prozent. Auf ­sieben männliche Chefärzte kommt also eine einzige Frau.

«Gestern eine Amputation, heute ein Darmeingriff, morgen eine Fraktur? Das war mir zu breit und zu flach.»

Einer der Gründe: Frauen arbeiten häufiger Teilzeit. Und das ist in den Chefetagen der Spitäler nicht so einfach, wenn auch nicht ausgeschlossen. «Am Zürcher Triemli leiten zwei Ärztinnen zusammen die Frauenklinik», erzählt Burkhard. »Und bei uns am Institut gibt es immer wieder Oberärztinnen mit Teilzeit, das machen sie sehr gut.»

Aber Chefärztin Urologie mit reduziertem Pensum? «Nein, das ginge nicht. Nur schon der Patienten wegen. Ich bin für grosse, komplexe Operationen zuständig. Diese Fälle könnte ich nicht einfach Mitte der Woche an eine Kollegin oder einen Kollegen abschieben.» So oder so müsse man auch erst mal einen Gegenpart finden. Jemanden, der sein Pensum ebenfalls teilen würde. Gerade für Männer sei dies schwierig. Teilzeit sei eine Karrierebremse.

Hilfe in Zentralasien

Neben ihrer Professur in Bern nimmt Burkhard auch an medizinischen Hilfseinsätzen teil: Sie reist mit Unterstützung der Jürg-Ammann-Stiftung und des Swiss-Surgical-Teams, das übrigens von einem weiteren Schaffhauser Arzt geleitet wird, immer wieder in die zentralasiatische Republik Tadschikistan, wo sie Urologen weiterbildet. Beim letzten Besuch, drei Wochen über Pfingsten, war sie in Chorug, einer Gemeinde etwa so gross wie die Stadt Schaffhausen, ­genau an der Grenze zu Afghanistan. ­Tadschikistan ist für westliche Ausländer nicht ungefährlich: Erst kürzlich wurden dort bei einem Angriff mehrere Fahrradtouristen umgebracht, darunter auch ein Schweizer. Die Terrorgruppe ­Islamischer Staat übernahm die Verantwortung für die Tat.

In der früheren Sowjetrepublik sei noch vieles russisch geprägt, sagt sie. Die ärztliche Kunst genauso wie die Mentalität und der Umgang mit Patienten. Und mit einem Lächeln erzählt sie eine Anekdote: «Wenn wir hier in der Schweiz ein Instrument über die Harnröhre in die Blase einführen müssen, dann benutzen wir wenn möglich ein weiches und biegsames Gerät und ein Gleitgel, das auch anästhesiert. Der Patient soll so wenig wie möglich spüren. In Tadschikistan war das anders: Ein älterer Arzt kam für eine Blasenspiegelung mit einem langen Edelstahlinstrument zum Patienten. Der Arzt sah seinen Patienten an und sagte schliesslich: ‹Bist du ein richtiger Mann?› – ‹Ja, ich bin ein richtiger Mann.› Und zack, wurde das Instrument eingeführt. Ohne Betäubung.»

Abfluss durch den Bauchnabel: Wie Krebspatienten zu einer neuen Blase kommen

Blasenkrebs war früher vor allem eine Männerkrankheit. Doch inzwischen holen die Frauen auf – wegen des Nikotins. «Einer der Hauptauslöser für Blasenkrebs ist das Rauchen», sagt Professorin Fiona Burkhard. Rund 1200 Fälle werden in der Schweiz laut Krebsliga jedes Jahr regis­triert, in erster Linie bei Menschen über 70. Blasenkrebs ist heimtückisch, weil er oft kaum Schmerzen verursacht. Ein Alarmsignal aber gibt es: Blut im Urin.

Je nach Krankheitsverlauf wird es notwendig, die ganze Blase zu entfernen. Das Inselspital führt diesen Eingriff an fast 100 Patientinnen und Patienten pro Jahr durch und ist damit das grösste Zentrum der Schweiz. Für die entfernte Harnblase braucht es einen Ersatz. Erforscht wird seit Längerem die Möglichkeit, aus Zellen eine neue Blase wachsen zu lassen. Das ist ein Forschungsgebiet, bei dem ebenfalls ein Schaffhauser vorn mit dabei ist: Professor Daniel Eberli am Universitätsspital Zürich.

Es gibt aber auch die Möglichkeit, aus einem Stück Darm eine neue Blase zu ­bilden. Dafür wird ein kleiner Teil des Dünndarms in der Bauchhöhle zu einem Urinreservoir umgebaut. Je nachdem kann dann der Urin nicht mehr über die Harnröhre abfliessen. Dann gibt es die Alternative über eine Öffnung in der Bauchdecke, zum Beispiel im Bauchnabel. Von aussen ist nichts sichtbar. Über einen Katheter kann der Urin abgelassen werden. Wichtig ist, dass dies regelmässig geschieht – alle vier Stunden, auch nachts. Anders als bei der natürlichen Blase gibt es keine Nerven, welche melden, wenn die Blase voll ist. «Für Menschen mit einer funk­tionierenden Blase mag sich ein solcher Ersatz als unangenehm anhören», sagt Burkhard. «Unsere Erfahrung zeigt aber, dass die Lebensqualität kaum beeinträchtigt wird.» (zge)

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