Schräubchen so klein wie ein Floh

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Die Uhrenbranche setzt mehr denn je auf den Retro-Trend. Für das Uhrenfachgeschäft Clémençon + Rieser in Schaffhausen ist das nichts Neues: Seit 30 Jahren handelt es mit alten, restaurierten Uhren. In seinen Tresoren findet sich Kostbares.

Text: Maria Gerhard Bilder: Michael Kessler

schaffhausen.Musik nennt Marcel Clémençon das feine Geräusch, das man hört, wenn man an der Krone, an dem geränderten Knöpfchen, einer alten Armbanduhr dreht. Es ist die direkte Verbindung in das Uhrwerk, in das Herz sozusagen. Jenes leise «Brrrrr» macht für den Uhrmacher den Unterschied zwischen einst und heute aus, zwischen Charakter und – man könnte sagen – Noch-reifen-Müssen. «Die neuen Uhren hören sich nicht mehr so an», sagt er, und es klingt ein ganz kleines bisschen abschätzig. Nicht, dass ihm die aktuelle Kollektion von IWC zum Jubiläumsjahr nicht gefallen würde. Doch ob es die neue Da Vinci, die Portofino oder die Portugieser ist, für den 60-Jährigen halten sie nicht sehr viel Überraschendes bereit: Ihr Design kennt er nur zu gut – von den einstigen Originalen, die Pate standen bei der aktuellen Kollektion. In den säuberlich beschrifteten Schubläden seiner Werkstatt hat er über die Jahre alte Zeiger und Ziffernblätter gesammelt, Ersatzteile für die alten Uhren, die er restauriert. Die überzeugen nicht mit frisch poliertem Gold- und Silberglanz, sondern mit Patina. Noble Zurückhaltung und ­Beständigkeit – schliesslich laufen diese Uhren noch genau wie am ersten Tag –, das ist es, was die Uhrensammler suchen, die Clémençons Laden betreten.

«Die Fliegeruhren hat man damals über den gefütterten Fliegerjacken getragen.»

Leicht zu finden ist das Uhrenfach­geschäft an der Fischerhäuserstrasse in Schaffhausen jedoch nicht. Es prangt weder ein Schild noch eine Werbetafel am Eingang. Wer es nicht kennt, mag daran vorbeilaufen. «Das ist auch so gedacht», sagt Clémençon später. Wer wirklich kommen möchte, findet den Weg schon. Einzig zwei Buchsbäume, die die Tür flankieren, machen stutzig. Und da steht tatsächlich auf dem Glas in feinen Lettern ein Name: «Clémençon + Rieser». Zusammen mit seinem Schwiegervater, Hans Rieser, hat ­Clémençon das Geschäft gegründet. Vor zwanzig Jahren hat er es dann ganz übernommen. Sein Schwiegervater restauriert heute mit 81 Jahren immer noch alte ­Uhren.

Die Faszination hält bis heute an

An diesem Donnerstagvormittag ist jedoch nur Clémençon da. Er öffnet schwungvoll die Tür, sie ist gesichert und lässt sich nicht von allein öffnen. Er war 16 Jahre alt, als er bei IWC in den 70er-Jahren Uhrmacher gelernt hat. Anschliessend hat er für andere Firmen in der Karibik und in den USA gearbeitet, bis es ihn wieder nach Schaffhausen verschlagen hat. Eigentlich wollte Clémençon einmal Maschinenmechaniker werden. Aber dann haben ihn die Uhren fasziniert, und das ist noch heute so.

Der Verkaufsraum ist gemütlich eingerichtet, wie in einem Wohnzimmer: Gemälde hängen an der Wand, es gibt ein antikes Sofa und einen Esstisch aus Nussbaum. Während draussen auf der Strasse Autos durch den anhaltenden Regen brausen, ist es im Inneren ganz ruhig. Anders als bei Ravels Oper «L’Heure espagnole» ­ticken hier nicht ein Dutzend Uhren gleichzeitig. Die schmalen Vitrinen, hinter denen Teile der neuesten IWC-Kollektion angepriesen werden, sind beleuchtet. Da gibt es zum Beispiel die Widerauflage der Flieger­uhr. Clémençon verschwindet kurz nach hinten in seine Werkstatt, um gleich da­rauf mit einem Holztablett zurückzukommen. Darauf liegt eine recht klobige Uhr mit einem Gehäuse aus Stahl und einem dicken hellen Lederband: Diese Fliegeruhr aus dem Jahr 1940 wurde für die deutsche Luftwaffe hergestellt und scheint selbst für das Handgelenk von Clémençon, einem hochgewachsenen Mann, zu gross zu sein. «Die hat man damals über den gefütterten Fliegerjacken getragen», sagt er. Zwischen 35 000 und 50 000 Franken ist eine solche Uhr heute wert. Dafür muss aber auch jede Schraube original sein.

«Der jeweilige ­Zustand spielt da eine grosse Rolle. Das Relief muss noch gut ­erkennbar sein.»

Vorsichtig, fast schon zärtlich hebt Clémençon die Kleinode aus ihren Kästchen. Er trägt auch selbst hin und wieder eine seiner alten Uhren. «Sehen Sie, dass sind jetzt alte IWC-Taschenuhren», sagt er und legt Teile seiner Sammlung auf den Tisch. Von 1868 bis in die 90er-Jahre hat die Schaffhauser Manufaktur auch Taschenuhren produziert. Da gibt es zum Beispiel jene, die in kleiner Stückzahl 1897 eigens für das Eidgenössische Turnfest Schaffhausen angefertigt wurde. Ein Mann stemmt kraftvoll einen Steinbrocken in die Höhe, hinter diesem «Steinstosser» grüsst in der Ferne der Munot. Clémençon weist auf die Details hin: «Sehen Sie am Rand die kleinen Schaffhauser Zwiebeln?» Diese Uhr sei sehr selten. Bis zu 5000 Franken ist sie wert. «Der jeweilige Zustand spielt da eine grosse Rolle», sagt Clémençon, «das Relief muss noch gut erkennbar sein.» Sehr glänzen sollte die Oberfläche daher nicht. Dann ist die Uhr nämlich allzu abgegriffen und von Patina keine Spur mehr.

Diese dünne Schicht Firnis ist es, die derzeit immer mehr an Wert gewinnt. «Retro» oder «Vintage» liegt im Trend, auch bei Uhren. Die bekannten Manufakturen haben das erkannt und gehen dazu über, ihre neuen Kollektionen an vergangenes Design anzupassen. So hat IWC nun die bekannte Pallweberuhr mit den springenden Ziffern als Armbanduhr herausgebracht. Manche Hersteller richten wiederum ganze Abteilungen ein, um alte Uhren ihrer Marke herzurichten und zu verkaufen. Clémençon zieht dazu nur den rechten Mundwinkel ein bisschen höher als den Linken. Für ihn ist das nichts Neues. «Wir handeln schliesslich schon seit 30 Jahren mit alten Uhren», sagt er. Es habe immer wieder so etwas wie Boomzeiten gegeben. Wichtig sind ihm vor allem seine Stammkunden. Sammler, die schon seit zehn, fünfzehn Jahren ihrer Leidenschaft nachgehen. «Jetzt kommt halt noch die breite Masse dazu», sagt Clémençon.

Staub kann die Uhr bremsen

In der Werkstatt zeigt Clémençon, wie er arbeitet, wenn er Uhren restauriert: Er sitzt dann an einer der Werkbänke, so tief, dass sein Kinn auf Höhe der Tischplatte ist. An der Lampe vor ihm klebt ein Foto seines Sohns und seines Patenkinds. Die Ellbogen hat er rechts und links aufgelegt auf dafür vorgesehenen Lederkissen. Der Uhrmacher schaut durch eine Lupe in das Werk einer alten Pallweber-Taschenuhr. Ihr Ziffernblatt ist kunstvoll mit Emaille verziert, zwei Puten schauen den Betrachter an. «Sehen Sie das kleine Stäubchen hier?», Clémençon zeigt mit der Pinzette auf ein scheinbar sauberes Zahnrad, «das könnte die Uhr zum Bremsen bringen.» Er greift zu einem kleinen Blasebalg.

Wenn er eine Uhr revidiere, zerlege er das Werk komplett. Ein Standartuhrwerk beginnt ab 200 Teilen. «So viele braucht es, damit eine Uhr läuft», sagt Clémençon. Diese kommen dann in eine spezielle Reinigungsmaschine. Beim Zusammenbauen, je nach dem Zustand der Uhr, müssen abgenutzte Teile, so etwa Schräubchen, ersetzt werden. Die sind mitunter so klein wie ein Floh. Ihr Schraubgewinde erkennt nur, wer durch das Vergrösserungsglas schaut. Und dann kommen noch Zusatzfunktionen dazu: Der ewige Kalender allein besteht aus 96 Einzelteilen, die auf einer Bauhöhe von 0,96 Millimeter installiert werden. Wie steht es um seine Augen? «Die haben sich über die Jahre kaum verändert», sagt Clémençon und lacht. Trotzdem will er sich in den nächsten Jahren etwas zurückziehen. Er ist froh, dass er einen jungen Schaffhauser gefunden hat, der ebenfalls bei IWC Uhrmacher gelernt hat und bei «Clémençon + Rieser» mit einsteigen möchte.

Vorsichtig, fast schon zärtlich hebt er die Kleinode aus ­ihren Kästchen.

In diesem Moment wird er unterbrochen. Ein Bote hat an der Tür geläutet. Der Mann hält einen gepanzerten Koffer fest in der Rechten, wenn er ihn fallen lässt, wird ein Alarm ausgelöst. Mittels Code wird das Schloss geöffnet. Die Sendung, eine Uhr der aktuellen IWC-Kollektion, kommt aus dem Zentrallager in Villars-sur-Glâne bei Fribourg. Clémençon hat sie für den Verkauf erstanden.

Die alten Uhren hingegen erwirbt er von Kunden, die etwas Altes gegen etwas Neues tauschen wollen. Ausserdem hat er sich über die Jahre ein grosses Händlernetz aufgebaut, auch jenseits der Grenze. «Viele Uhren kommen aus dem Ausland», sagt Clémençon, «die Portugieseruhren sind in den 40er-Jahren nicht in der Schweiz ausgeliefert worden. Die wurden nach Portugal, aber auch in die Slowakei verkauft.» Und so sei das Gehäuse manchmal nicht mehr original, das Uhrwerk dafür made in Schaffhausen. Eine Fälschung indes würde Clémençon von Weitem erkennen: «Wir halten den ganzen Tag Uhren in der Hand, da siehst du es nicht nur, du spürst es auch.»

Für den Schluss hat er sich etwas sehr Seltenes aufgehoben: «Das Fischschwanz-Uhrwerk von 1904 ist das Schönste, das IWC je produziert hat. Es gab nur 600 davon.» Er öffnet den Deckel einer Taschenuhr. Ihr Werk glänzt golden, und die zwei geschwungenen Stege erinnern irgend- wie an die Schwänze von Meerjungfrauen. Clémençon: «Das ist doch ganz grosses Kino, oder?»

Die Uhrenbranche setzt mehr und mehr auf den Retro-Trend

Was für ein Gesicht, was für eine Uhr: US-Schauspiellegende Paul Newman (1925–2008) sitzt hinter dem Steuer eines Rennwagens, die stahlblauen Augen blicken direkt in die Kamera, den Arm hat er lässig aufgestützt, am Handgelenk ist seine Rolex Daytona zu sehen. Auf der Rückseite hat seine Frau damals eingravieren lassen: «Drive carefully. Me.» («Fahr vorsichtig. Ich.») Exakt jene Uhr wurde vor wenigen Monaten für 17,75 Millionen US-Dollar versteigert. Alte Uhren sind im Trend, auch ohne prominenten Vorbesitzer. Der Uhren-Auktionator Aurel Bacs schätzt, dass jährlich Vintage-Uhren für über eine Milliarde Franken umgesetzt werden.

«Alle Manufakturen umarmen heute ihre Vergangenheit und pflegen das Erbe», hat Bacs vor Kurzem gegenüber der NZZ gesagt. «Die grosse Frage ist heute, wann die Manufakturen be­ginnen, selbst Vintage-Uhren zu verkaufen.»

Eigene Boutique für Vintage

Vacheron Constantin hat den Trend anscheinend schon früh erkannt: Bereits vor zehn Jahren hat die Uhrenmanufaktur in Genf eigens eine Abteilung für Vintage-Uhren aufgebaut. Dort werden die Uhren repariert und überarbeitet. Die Nachfrage ist grösser als die Kapazität. Und auch Audemars Piguet mit Sitz in Le Brassus im Kanton Waadt will vermehrt in den Vintage-Bereich gehen und eigens Boutiquen dafür eröffnen.

Bei IWC indes sei der Handel mit alten Uhren kein Thema, sagt IWC-Verwaltungsrat Hannes Pantli. (mcg)

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