Als sich der Schnee rot färbte




Das Sprengunglück in einem Steinbruch bei Hemmental 1967 hat schweizweit für Erschütterung gesorgt. Zwei Zeitzeugen kommen an den Ort des Geschehens zurück – 50 Jahre danach.
50. Jahrestag: Der Stadtrat gedenkt der Opfer des tragischen Unglücks
Im Gedenken an das tragische Sprengunglück vom 16. Dezember 1967.
Der 16. Dezember 1967 ist vielen Hemmentaler und auch Schaffhauser Einwohnerinnen und Einwohnern der mittleren und älteren Generationen in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. Der in Hallau geborene Sprengmeister Karl Gasser führte im Steinbruch im Bodenackertobel, auf halbem Weg zwischen dem Dorf und dem Klosterfeld, einen Weiterbildungskurs für acht Zürcher Fachleute durch. Auch der Hemmentaler Jakob Hatt senior, der ehemalige Besitzer des Steinbruchs, war vor Ort, um die Instruktion zu verfolgen. Um die Mittagszeit war ein gewaltiger Knall aus dem Steinbuch zu hören. Aufgrund der unbeabsichtigten Detonation einer Sprengkapsel explodierte eine grössere Menge Sprengstoff. Neun Anwesende wurden von der Wucht der Explosion sofort getötet, nur ein einziger Kursteilnehmer überlebte verletzt.
Heute, am 16. Dezember 2017, jährt sich der Tag des Sprengunglücks zum 50. Mal. Eine Gedenktafel am Ort des Unglücks erinnert an das tragische Geschehen. Sie wurde in den vergangenen Wochen im Hinblick auf den 50. Jahrestag erneuert; dabei konnte dank einem Hinweis aus der Familie eines der Verstorbenen auch die falsche Schreibweise eines Namens korrigiert werden.
Der Stadtrat gedenkt der Opfer des tragischen Unfalls und spricht den Angehörigen der Unfallopfer sein Mitgefühl aus.
Stadtpräsident Peter Neukomm
Stadtschreiber Christian Schneider
An der Stelle, an der die Polizei heute vor genau 50 Jahren einen kleinen Krater und ein mit Russ überzogenes, rotes Sackmesser fand, liegt heute Schnee. Es ist still im Steinbruch Bodenackertobel in Hemmental, nur von den kahlen Bäumen rieselt ein wenig Schnee herab. Die steile Felswand mit ihren Ockertönen hebt sich deutlich ab vom Weiss. Zwei Männer gehen langsam den Weg zum Steinbruch hoch. Sie gestikulieren, ihre grauen Haare bewegen sich leicht im Wind: Der Fotograf Max Baumann und der damalige Chef der Kriminalpolizei der Kantonspolizei Schaffhausen, Max Brütsch, kehren an jenen Ort zurück, wo einst eine Katastrophe geschah, die damals in den Zeitungen als eine der in der Schweiz «grössten Sprengunfälle in Friedenszeiten» betitelte wurde. Neun Männer haben damals ihr Leben gelassen. Einer musste schwer verletzt ins Spital eingeliefert werden. «Die Unglücksstelle sah aus wie ein Schlachtfeld», schrieb damals der Redaktor Hanns Fuchs in den «Schaffhauser Nachrichten».
«Ich sah eine Gruppe um etwas herumstehen. Kurz darauf gab’s eine gewaltige Detonation.»
Ein Zeuge des Unglücks
Liest man das spätere Gutachten der Kriminalpolizei, muss es tatsächlich ein verstörender Anblick gewesen sein an diesem Tag im Dezember: Im und sogar auf dem oberen Teil des Steinbruchs sowie auf den anliegenden Wiesen verstreut lagen Kleiderfetzen, Metallteile und Holzsplitter. «Sogar auf den Bäumen haben wir Überreste gefunden», erinnert sich Max Brütsch. Mit rund 25 Polizisten – am Samstag war die Wache nicht voll besetzt – umstellte er das ganze Gebiet.
Später wurden es noch weit mehr Männer. «Dann gingen wir näher ran», sagt Brütsch und lässt seinen Blick über den Schnee schweifen: «Es war schaurig, alles war übersät mit Leichenteilen und toten Menschen.» Er bewahrte trotzdem einen kühlen Kopf. «Schliesslich muss man Entscheidungen treffen.» In der Nacht danach konnte er trotzdem keinen Schlaf finden.
Ein «gewaltiger Chlapf»
Die Meldung bei der Polizei ist laut Brütsch um fünf vor eins eingegangen. Die Untersuchungen ergaben später, dass sich das Unglück zwischen 11.50 und 12.05 Uhr ereignet haben musste. Um diese Zeit vernahmen die Hemmentaler auch einen «gewaltigen Chlapf». Und ein Zeuge, der kurz zuvor, mit dem Auto an der Kiesgrube vorbeigefahren war, sagte aus: «Ich sah eine Gruppe um etwas herumstehen. Kurz darauf gab’s eine gewaltige Detonation.» Doch er mass dem Ganzen keine weitere Bedeutung bei, wie wohl auch die restlichen Hemmentaler. Denn bereits während des ganzen Vormittags waren aus dem Steinbruch Sprenglaute zu vernehmen gewesen. Karl Gasser, damals 48 Jahre alt, war Sprengmeister und Angestellter der Gesellschaft für angewandte Sprengtechnik. Er galt als Experte im Umgang mit Sprengstoffen. An diesem Vormittag leitete er als Privatmann einen Sprengkurs für Baufachleute der Firma Suter-Lehmann AG in Zürich. Es war nicht sein erster Kurs, doch diesmal ging etwas schief.
Am Ort des Unglücks steht eine Gedenktafel, die an das tragische Geschehen erinnert. Darauf sind auch die Namen der Verstorbenen verewigt. Bild Selwyn Hoffmann
Die Presse tritt in Erscheinung
Fotograf Max Baumann steht nun direkt unter der Felswand, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, die Schultern leicht hochgezogen. Bis hierhin wurde er damals als Pressemitglied gar nicht vorgelassen. Er musste sich damit begnügen, weit vom Rand aus zu fotografieren. «Ein Polizist verbot mir sogar, Aufnahmen zu machen», erinnert er sich. Aber weil er nicht mit leeren Händen in die Redaktion zurückkehren wollte, drückte er ein, zweimal ab. Auf einem der Fotos sind die Särge zu sehen, auf dem anderen wärmen sich die Polizisten mit Kaffee auf. Daneben steht der Polizeihund Illo, der half, die verstreuten Leichenteile aufzuspüren.
«Ab und zu stecken sie einen Holzstock in den Boden, kleben eine Etikette daran.»
Hanns Fuch, damals Redaktor bei den SN
Die Fotos wurden in der Nacht aufgenommen, da man die Presse erst sehr spät informierte. Die anderen Aufnahmen stammen vom Sonntag, als weitergesucht wurde. Hanns Fuchs schrieb damals in den SN: «Im diffusen Licht eines nebligen, kalten Wintertages suchen Schaffhauser Kantonspolizisten schweigsam nach den Überresten der Männer. Ab und zu stecken sie einen Holzstock in den Boden, kleben eine Etikette daran.» Max Brütsch nennt das heute eine «Sisyphusarbeit».
Zu diesem Zeitpunkt wusste man noch gar nicht, was wirklich geschehen war, und man weiss es bis heute nicht. Auch die Kriminalpolizei konnte es, nach umfangreichen Untersuchungen, nicht ganz beantworten. Letztlich schien folgende Vermutung am plausibelsten:
Die Kursteilnehmer versammelten sich um den Sprengmeister, um die Vorbereitung einer Sprengung eines 10 bis 20 Kilogramm schweren Sprengstoffgemisches sowie Resten von Zündschnur und 200 bis 300 alten Sprengkapseln zu verfolgen. Die Zündung erfolgte jedoch vorzeitig. So könnte … … einem der Männer ein Bohrhammer – ein solcher wurde gefunden – aus der Hand geglitten sein. Dieser fiel dann auf eine der alten Sprengkapseln, und sie wurde aktiviert.
Entdeckt wurde das Unglück von Jakob Hatt, damals 25 Jahre alt und der Pflegesohn eines der Opfer. Nach dem sein Vater, der ebenfalls Jakob hiess, nicht zum Essen nach Hause kam, schickte die Mutter ihn zum Steinbruch. Hatt senior war früher dessen Besitzer. Er war gegen 10.30 Uhr zu den Männern in den Steinbruch gegangen, weil er aus «Gwunder» die Sprengdemonstrationen verfolgen wollte.
Als Hatt junior weiter zum Steinbruch lief, bot sich ihm ein schrecklicher Anblick.
Sein Sohn war auf dem Weg, als er rund hundert Meter von dem Steinbruch entfernt am Strassenrand ein Wimmern hörte. In einem Volvo lag ein blutüberströmter Mann. Es war der Baggerführer Franz Meichtry, der als Einziger überlebte. Unter Einwirkung des Schocks büsste er jedoch sein Erinnerungsvermögen für die Zeit unmittelbar vor dem Unglück ein. Trotz Schädelbruch und Beinbrüchen robbte er bis zum Auto. Als Hatt junior weiter zum Steinbruch lief, bot sich ihm ein schrecklicher Anblick. Der Schnee war rot gefärbt. Sein Adoptivvater tot. Er alarmierte Polizei und Ambulanz.
Damals kam die Vermutung auf, dass ein «Barbara-Chlapf» schuld war am Tod der Männer, von denen der Jüngste gerade einmal 30 Jahre alt war. Dabei handelt es sich um eine Art «Schlussknall». Einen solchen würden Sprengfachleute manchmal am Ende eines Sprengkurses loslassen, erklärte das damals noch junge Boulevardblatt «Blick». Die heilige Barbara ist die Schutzpatronin der Bergleute. Sie soll den Mineuren Glück bringen.
Für diese Annahme würde die Zeit sprechen, um die die Explosion erfolgen sollte. Als nämlich der Autofahrer am Steinbruch vorbeigefahren war, hörte er neben dem Knall auch die Fabriksirenen heulen. Es war Mittag. Der Sprengkurs war zu Ende. Im Schaffhauser Restaurant Gemsstübli wartete auf die Kursteilnehmer der bestellte Zmittag: Rehpfeffer und Spätzli.