«Aufgeben kommt für mich nicht infrage»

Edith Fritschi | 
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Ein blinder Reisereporter? Unmöglich? Nein. Christoph Ammann aus Marthalen dürfte weltweit einzigartig sein, der ohne zu sehen Reisereportagen schreibt. Und er ist dabei sehr erfolgreich.

Lange, lange hat er es verdrängt. Denn dass es einmal so weit kommen würde, wusste er seit seiner Jugend. «Eines Tages wirst du blind sein», sagte ihm sein Vater, Theo Ammann, Lehrer, Journalist und Lokalhistoriker. Schon er litt an Retinitis pigmentosa, einer Erbkrankheit, bei der die Netzhaut degeneriert und die Fotorezeptoren zerstört werden. Der Vater erblindete mit 56, bei Christoph Ammann setzte der Prozess etwas früher ein. «Zwar wusste ich immer, dass das Damoklesschwert über mir schwebt, aber so lange ich keine Probleme hatte, wollte ich davon nicht viel wissen», sagt er.

Als Kind schon war er nachtblind, und es war klar, nachdem er mit der Mutter beim Augenarzt war, dass er sie auch hat, die Krankheit des Vaters – und er sich irgendwann auf die dunkle Zeit einstellen muss. «Doch ich habe es lange verdrängt.» Später legte sich eine Art Farbschleier über seine Sicht, er sah grün und violett und hatte Irritationen. «Da wusste ich, dass die klaren Augenblicke knapp werden.» Ab 2005 wurden die Augen sukzessive schlechter, der Sichtwinkel immer eingeschränkter, doch bis 2010 konnte Ammann relativ normal leben, reisen, aber er musste sich Gedanken machen, wie es danach weitergeht. Nach dem Herbst 2010 hört die Seh­erinnerung auf. «Da waren wir im Salzkammergut, am Mondsee, das sehe ich noch», sagt er. Dann kam die Dunkelheit.

«Es ging ziemlich schnell», erinnert sich Ammann. «Inzwischen bin ich wohl zu 99 Prozent blind und kann allenfalls noch Lichtquellen erkennen.» Aber weil er jemand ist, der das halb volle Glas sieht, hat er sich schnell um die technischen Möglichkeiten gekümmert, mit deren Hilfe er den Alltag bewältigen kann. Er installierte sich Jaws auf dem Computer, ein Programm für Sehbehinderte und Blinde – und das zu Hause und im Büro.

«Damit kann ich mir Texte vorlesen lassen und höre, was ich eintippe», sagt er. «Langsamer bin ich deswegen nicht geworden.» Seine Texte sind auch nicht weniger farbig geworden, seit er die Welt nicht mehr mit den Augen erfasst. Wer den Bericht über ein ungarisches Thermalbad liest, käme nie auf die Idee, ein Blinder hätte ihn geschrieben. Er ist voller Poesie und Empathie, beschreibt das Wippen der Badekappen, den Dampf über dem Wasser, wie es ein Sehender nicht besser könnte. Oder die Reportage übers Reisen zum Reformationsjubiläum, Erfurt und die Geschichte des jungen Luther. Sie ist detailgetreu und präzis:

«Michael Ludscheidt zieht einen von säurefreiem Schutzpapier umhüllten Brief aus einer Mappe. ‹Unser bestes Stück›, sagt der Leiter der historischen Bibliothek im ehemaligen Kloster der Augustiner-Eremiten von Erfurt. Die Tinte aus Russ und Fett auf handgeschöpftem Papier ist verblasst, die lateinischen Buchstaben sind für Ungelehrte schwer zu entziffern. Vor uns liegt der älteste noch erhaltene Brief von Martin Luther. Der spätere Reformator hatte ihn 1514 an seinen Freund Georg Spalatin gesandt, im Schreiben gebeten, jüdische Schriften auf keinen Fall zu zerstören.»

Wer so schreibt, muss doch sehen. Oder wie macht er das? Wir treffen uns vor dem «Kronenhof» zum Gespräch. Es ist heiss, die Sonne gleisst, er hat eine Sonnenbrille auf. Christoph Ammann kommt allein. Man hört das Klacken des Stockes, als er sich nähert. Ich erkenne ihn sofort wieder, den Kollegen, der in den 80ern dreieinhalb Jahre auf der SN-Redaktion war. Und er erkennt mich an der Stimme.

Ob er den Weg gut gefunden habe? «O ja» sagt er, «ich bin ja oft hier, das ist mir alles recht vertraut.» Und die Frage, gleich zu Beginn, ist für ihn nicht neu. Stimmt es, dass die anderen Sinne besser werden, wenn das Augenlicht ausfällt? «Ich höre, ich rieche, ich schmecke und ich fühle nicht besser als früher», sagt er. «Aber die Situation zwingt mich, die vier anderen Sinne gezielter einzusetzen.» Er sei viel präziser geworden und nehme seither die Welt ganz anders wahr. Ist er allein unterwegs, orientiert er sich am Schall. Das Klacken des verlängerten Armes mit dem Blindenstock klinge anders auf dem Feld als in Häuserschluchten. Er spüre den Luftzug an Strassenkreuzungen oder Brücken. Und er sammelt Gerüche im Kopf: die Luft am Wasser, die anders riecht als ein Buchladen, eine Garküche oder eine Bergwiese: die Welt als Aromen- und Geräuschtopf.

«Natürlich hilft es mir, dass ich einmal gesehen habe», sagt der Journalist. So weiss er, was gemeint ist, wenn ihm jemand etwas beschreibt. Und auf seinen Reisen lässt er sich alles ganz genau beschreiben, fragt nach, hakt nach, bis er sich sicher ist. «Beim Schreiben fördert das die Präzision. Da bin ich viel exakter geworden», meint er, der seine Eindrücke von unterwegs aufs Band spricht und später in der Redaktion die Texte verfasst, aus der Erinnerung heraus, mithilfe der auf Band gespeicherten Worte.

«Natürlich mache ich keine klassischen Reisereportagen mehr wie mit Jeep und Zelt durch die Mongolei, das ist zu optisch; ich schreibe nicht mehr über Sonnenuntergänge am Meer.» Aber er bereist Orte, wo es nicht zu kompliziert ist, allein hinzukommen, und er braucht vorab immer eine sehr gute Vorbereitung und Organisation. Eine Assistentin hilft Christoph Ammann tageweise beim Durchlesen von Texten bei der Administration, Produktion oder bei Internetrecherchen. Auf grössere Reisen nimmt er stets jemanden mit oder hat vor Ort eine Betreuungsperson, die auf seine Wünsche und Bedürfnisse eingeht, die organisiert, begleitet und beschreibt. «Die Betreuung muss gesichert sein», sagt Ammann. «Schliesslich bin ich behindert.» Das beschönigt er nicht, ist für ihn kein Grund zur Resignation. «Mir war klar, dass es damals um meine Existenz ging, um den Job, den ich seit über 30 Jahren mit Begeisterung ausübe. Und ich wollte weitermachen – mit allen Hilfsmitteln, die einem zur Verfügung stehen.»

Seinem Chefredaktor hat der Journalist schon relativ früh mitgeteilt, dass er bald blind sei. Das spiele keine Rolle, sagte der, solange er den Job gut mache. Ammann machte weiter alles, stellte sich aufs Auditive ein. Mittlerweile hat er mehr berufliche Verantwortung als früher. «Ich habe Routine, aber ich will sprachlich nach wie vor ein gutes Niveau und viel Qualität», sagt er, der seine Reiseseiten mit einem Vorlauf von bis zu einem Jahr plant, der Mitarbeiter anfragt, organisiert, Texte redigiert und selber schreibt. «Dank der modernen Technik ist mir das alles möglich. Früher wäre es eine Katastrophe gewesen.»

Auch wenn Christoph Ammann auf Reisen gut zurechtkommt, muss er die eine oder andere negative Erfahrung machen, er irrt umher oder findet etwas nicht. Er ärgert sich, wenn an zentralen Orten und Bahnhöfen taktile Linien fehlen. Er braucht an Flughäfen Support, den er vorher anfordern kann. Einfach nur so herumspazieren, auf einer Strandpromenade oder in der Fussgängerzone einer fremden Stadt, sei schwierig, aber das beschere ihm auch interessante Begegnungen mit Menschen aus aller Welt, sagt der Weitgereiste. Und wenn er im Zug vorwurfsvoll von Mitreisenden darauf hingewiesen wird, dass er sich in der ersten Klasse befindet, befremdet ihn das. «Ich fahre seit Jahr und Tag mit dem GA erster Klasse, wieso soll sich ein Blinder, der arbeitet, das nicht leisten können?» Es ärgert ihn genauso wie die Gelegenheiten, bei denen er als Blinder gleich auch noch als «blöd» eingestuft wird.

Wie er so dasitzt und erzählt, einer, der vielleicht die halbe Welt gesehen hat und nach wie vor erfolgreich ist, im Job und alles bestens meistert, könnte man auf die Idee kommen, er habe keine Probleme mit seiner Blindheit.

Hat er nie gehadert? «Aufgeben kommt für mich nicht infrage», lautet die Antwort. Klar gebe es Tage, an denen ihn vieles störe. «Am meisten ist es der Verlust der Selbständigkeit, dass ich angewiesen bin auf Hilfe und die Leute oft nicht wissen, wie sie mit mir umgehen sollen. Doch das ist meist nicht bös gemeint», konstatiert er, «sondern eher Hilflosigkeit … »

Wenn Ammann etwas vermisst, dann ist es nicht das Kino, auch nicht das Buch, und an ein Konzert kann er ohnehin – nein, er vermisst, dass er keinen Fussballmatch mehr sieht. «Früher war ich oft im Stadion. Doch zum Glück bin ich kein Sportreporter. Dann wäre es beruflich schwierig für mich.» Dass das Essen im Restaurant mit Schwierigkeiten verbunden sei, sei verkraftbar, meint er. «Vieles bestelle ich einfach nicht mehr, etwa Salate mit grossen Blättern.» Schlimmer dagegen sei, dass er seine Bankgeschäfte nicht mehr selbständig machen könne, überhaupt die gesamte persönliche Administration. «Das macht meine Frau Michaela», sagt er, dankbar über das Glück, eine verständnisvolle Familie zu haben, die ihm seit jeher hilft und ihn unterstützt.

Er ist gut aufgehoben in Marthalen, wo er wohnt und woher er kommt, der Pendler, der die Welt weiträumig erfahren hat und Städte, Schiffspassagen oder Zugfahrten schnell abrufen und aus der Erinnerung einfach so abspielen kann. «Ich kann inzwischen auch meinen Gegenüber besser einschätzen, ich höre das Alter an der Stimme und liege meist richtig.» Das hat er den Sehenden voraus. Und fügt an: «Ich bin feinfühliger geworden. Früher habe ich die Leute oft nach dem Aussehen beurteilt. Nun spüre ich, was hinter den Fassaden steckt.» Sein Leben hat an Tiefe gewonnen, und als blinder Reisejournalist kann er Sehenden Träume vermitteln, Welten näherbringen – und Hoffnung.

 

 

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