Vom Leben neben der Blechlawine

Mark Liebenberg | 
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Sehen vor allem die Vorteile ihrer Strasse: Miriam Lovallo (l.), Ana Nuñez und Beat Brodbeck auf der Schaffhauserstrasse in Neuhausen am Rheinfall. Bild: Michael Kessler

Mit so viel Verkehr wie nirgendwo sonst im Kanton leben die Anwohner der Schaffhauserstrasse tagtäglich. Mit ihrem Selbstbewusstsein lassen sie der Tristesse jedoch keine Chance.

Sommerserie Unsere Strasse (III) – Schaffhauserstrasse, Neuhausen am Rheinfall

Manche Strassen tönen besonders. Läuft man tagsüber als Fussgänger auf dem Trottoir entlang der Schaffhauserstrasse vom Rheinhof hinunter bis zum Scheid- ­eggkreisel, hat man sich an zwei akustische Zustände gewöhnt: an das fast rhythmische Vorbeirauschen von Lastwagen aller Klassen sowie Personenwagen und an das lauernde Motorenmurmeln im stockenden Kolonnenverkehr. An einem gewöhnlichen Wochentag im Juli staut sich der Verkehr Richtung Jestetten und Klettgau bereits Mitte Nachmittag. Ab vier Uhr stehen die Fahrzeuge dann auch in der Gegenrichtung Stossstange an Stossstange.

Kein Zweifel: Diese Innerortsstrasse gehört ganz dem motorisierten Verkehr, dem Durchgangsverkehr. Schätzungsweise 16 000 Fahrzeuge fahren hier im Jahresdurchschnitt täglich hindurch. Das ist viel – im Kanton Schaffhausen jedenfalls schluckt laut Messungen des Tiefbauamts keine Strasse mehr Verkehr als die Strecke Bahntal–Chatzen­steig–Schaffhauserstrasse–Klettgauerstrasse.

Die Suche nach den Menschen, die tagtäglich an, mit und oftmals trotz der Blechlawine hier leben, beginnt beim Shell-Tankstellenshop – dem einzigen Laden weit und breit. Im Innern eine gestresste Atmosphäre. Kunden tanken, bezahlen und brausen davon. Kein Ort zum Verweilen. «Ich habe keine Zeit für solches Zeugs», verscheucht der Tankstellenleiter den Reporter. Fragen will er keine beantworten.

Ein einziger Fussgängerstreifen

Weiter oben, auf der anderen Seite des einzigen Fussgängerstreifens der ganzen Strasse, befindet sich ein kleines Coiffeurgeschäft. «Contrasto Hair-style Miriam». Ein Glöcklein bimmelt beim Eintreten, und wenn man die Tür zumacht, lässt man den Verkehrslärm draussen. Radiomusik übertönt das dumpfe Grollen von der Strasse. Es riecht gut. Miriam Lovallo tritt aus dem Hinterzimmer hervor und begrüsst den Gast herzlich. Was für ein «Contrasto»!

«Seit ich das Geschäft vor dreizehn Jahren übernommen habe, hat der Verkehr schon noch deutlich zugenommen», sagt Lovallo. Sie muss es wissen: Die zierliche Seconda wohnt nämlich nicht nur schräg gegenüber von ihrem Geschäft in einem der Wohnblöcke, sondern ist auch an der Schaffhauserstrasse aufgewachsen. «Ja, ich komme einfach nicht von hier los», sagt sie lachend. Eine Kindheit an der Schaffhauserstrasse, wie muss man sich das vorstellen? «Früher war es schön hier, ein belebtes Quartier.» In den Häusern beim Scheideggkreisel habe es viele Kinder gehabt, man habe draussen gespielt. «Heute würde niemand mehr seine Kinder an dieser Strasse spielen lassen.» Hier im Geschäft – wo sich früher ein Tante-Emma-Laden befand – störe sie der Verkehrslärm kaum noch. «Das ist bloss noch Hintergrundgeräusch. Ausser wenn ein grosser Laster draussen im Stau steht, das vibriert dann richtig.» Der Verkehr sei nicht nur nachteilig, sagt sie. Es gebe hin und wieder Spontanbesucher, die das Geschäft sehen und zum Haareschneiden anhalten würden. «Neben der treuen Stammkundschaft aus ganz Neuhausen.»

Ein eigentümliches Gemisch

Die Schaffhauserstrasse zerschneidet gemeinsam mit dem parallel verlaufenden DB-Bahntrassee Neuhausen ins Ober- und ins Unterdorf. Ein eigentümliches städtebauliches Gemisch: am Hang auf Rosenbergseite sechs in die Jahre gekommene Vorkriegsvillen. Weiter unten Reihenhäuschen und Wohnblocks. Viele Storen sind heruntergelassen. Das Abgas hinterlässt Spuren an den Fassaden. Auf der Strassenseite vis-à-vis stehen gegen oben hin weitere Wohnblocks. Über 400 Personen sind an der Schaffhauserstrasse gemeldet. «Es gab viel Wechsel in den letzten 20 Jahren», sagt Lovallo. Viele Zugewanderte aus Südosteuropa. «Man kennt sich nicht mehr, auf der Strasse grüsst man sich nicht mehr.»

20 Firmen haben ihr Domizil an der Schaffhauserstrasse. Darunter ein Modeversand, eine Autogarage, ein Verlag für medizinische Fachliteratur und eine grössere Filiale eines Wärmepumpen-Unternehmens. Bereits seit 1991 hat Beat Brodbeck hier das Physiotherapiestudio Rosenburg. «Ja, klar hat der Verkehr ein Ausmass angenommen, das ich mir nie hätte vorstellen können», sagt Brodbeck. Er sieht aber auch Vorteile: «Wir sind sowohl mit dem Bus wie mit dem Auto gut erreichbar, das schätzen unsere Kunden sehr.» Mit guter Schalldämmung merke man vom Verkehr im Praxisinneren nicht viel. Wohnen möchte er aber hier nicht. Was ihm eher Sorgen macht, ist, dass sich auf beiden Strassenseiten langsam aber sicher Ödnis ausbreitet. Das Restaurant Rosenburg: schon seit Jahren zu. Die Pizzeria gegenüber der Tankstelle: hat aufgegeben. Das Matratzengeschäft beim Kreisel vorn: leer. Vor allem die Quartierbeiz im Schatten hoher Bäume ist ein trauriger Anblick. Hat der Verkehr doch gesiegt? «Ich glaube, daran wird sich auch mit der Eröffnung des Galgenbucktunnels in zwei Jahren nicht so bald etwas ändern», sagt Brodbeck.

Bald Eröffnung

So lange mag Ana Nuñez nicht warten. Und von Tristesse will die Dominikanerin schon gar nichts wissen. «Am 30. Juli eröffne ich mein Lokal und lade alle ein!», ruft sie lachend. Vorn beim Kreisel, wo täglich 27 000 Fahrzeuge passieren, hat sie das Restaurant gepachtet, das seit einigen Monaten leer steht. Das Shisha-Bar-Schild auf der grossen Terrasse wird bald abmontiert und ersetzt. «Sunset Bar» wird das neue Restaurant mit Bar heissen. «Das wird alles so ein bisschen lateinamerikanisch ausgerichtet sein», sagt Nuñez, die früher ein Lokal an der Rheinstrasse in der Altstadt führte.

 

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