Der Künstler, der jetzt «rückwärts» malt

Mark Liebenberg | 
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«Ich setze bloss um, was ich durch die Glasscheibe sehe» – Richard Tisserand arbeitet oberhalb von Berlingen an der ersten von bis zu fünf Schichten, die dem Hinterglas-Landschaftsgemälde seine Tiefenwirkung verleihen. Bild: Bruno Bührer

Richard Tisserand eröffnet mit seiner Hinterglas-Malerei «en plein air» ein ganz neues Schaffenskapitel in seinem Werk. Wir haben dem Eschenzer Künstler über die Schulter geguckt.

Strahlend der Tag, die Landschaft leuchtet richtig. Zu Füssen liegen einem der Bodensee, die Insel Reichen­au, die Höri und die Radolfzeller Bucht – wie anmutig alles von hier oben aussieht. Mit dem Auto kann der Künstler von Steckborn her nur bis zur Besenbeiz fahren, die im Sommer jeweils am Mittag öffnet. Vom Parkplatz aus schleppt er sein Wägeli mit den Malutensilien zwischen den Rebstöcken hindurch steil hinauf zum Bord zwischen Reben und Waldrand, zum Aussichtspunkt überm Jochental.

«Das ist schon irre, man steht da mittendrin, und es ist, als wird man Teil davon», sagt Richard Tisserand. Das Licht, die Farben, er malt sie genau so, wie sie sich ihm jetzt gerade durch die Glasscheibe hindurch präsentieren, die auf der Staffelei im ungemähten Gras steht. Der Baum im Vordergrund, er malt ihn, Pinseltupfer um Pinseltupfer, in den Licht- und Farbmischungen, wie sie sich an diesem Tag, bei diesem Wetter zeigen. «Man sieht hier Dinge, die man auf einer Fotografie nicht sieht, Details, die sich mit der Zeit ergeben, weil sich die Lichtverhältnisse ja verändern, die Sonne wandert, und Schatten entstehen, wo vorher keine waren.»

Die Landschaft in Punkte zerlegen

Tisserand malt die Landschaft, in der Landschaft – aber er malt sie nicht ab, er zerlegt sie vielmehr in einzelne Farb- und Lichtpunkte auf seiner Scheibe. «Das ist ganz etwas anderes als nach Fotos malen», sagt er. So hat er das nämlich bisher gemacht, im Atelier das Foto vors Glas gelegt und das Bild so entstehen lassen. Hier draussen, erklärt er, mache der Pinselstrich die Abstraktion von selbst. «Da gibt es für mich als Künstler gar nichts zu überlegen, ich setze um, was ich real durch die Glasscheibe sehe.» Die Farbmischung entsteht auf der Farbpalette, die er in der linken Hand hält. Welches Grün für die Blätter der Linde, die im Sonnenlicht tanzen, welches Blau für den See, welches für den Himmel? Wie ist der Farbaufbau des Brombeerstrauchs dort drüben? «Ich untersuche eigentlich einen Standort», sagt der Künstler. Und bannt ihn als Ansammlung von farbigen Pixeldots auf sein «Display», die Glasscheibe.

«Ich setze um, was ich real durch die Glasscheibe sehe. Ich untersuche eigentlich einen Standort.»

Es ist ziemlich einzigartig, was Tisserand hier macht, eine Weiterentwicklung seines bisherigen stilistischen und technischen Repertoires. «Hätte mir einer vor fünf Jahren gesagt, dass ich draussen in der Natur malen würde, hätte ich ihm gesagt, er sei wohl verrückt.» Er muss lachen. «Und jetzt stehe ich hier oben und kann nicht anders.»

Im Grunde, so der Künstler, malt er «rückwärts». Anders als bei Malerei auf einer Leinwand entsteht zuerst der Vordergrund. Der Betrachter auf der Vorderseite des Glases nimmt die als erstes aufgetragene Farbschicht am stärksten wahr, aber deren Zusammenspiel mit den dahinterliegenden Schichten verdankt das Bild seine Tiefenwirkung. Vier bis fünf Schichten hintereinander sind es, die Tisserand aufträgt. Und noch eine weitere Besonderheit hat die Hinterglasmalerei: Da man das fertige Bild von der Vorderseite her betrachtet, ist es immer spiegelverkehrt. Eine weitere Brechung von Naturalismus und Authentizität: Will jemand eine Landschaft wiedererkennen, muss er das Bild gedanklich umdrehen.

Anlässlich seiner grossen Ausstellung in der Schaffhauser Galerie Mera im Jahr 2014 schrieb Nils Röller über Tisserands Hinterglastechnik:Erhabene Panoramen mit einer lockenden Brillanz, die das Glas ihnen verleiht. Aus der Nähe betrachtet, lösen sich die Ikonen indes in Pixel auf. Da ist nichts Schönes mehr – bloss ein Verweis darauf. So wie alles auf Bildschirmen ein Verweis auf Vorhandenes und Geschehenes ist. Reproduzierbar, manipulierbar und somit nicht zu fassen. Tisserands Werk lässt sich als Plädoyer fürs Abstand-Gewinnen und für mehr Überblick verstehen – dafür, die Perspektive zu variieren, sich selber ein Bild zu machen. Jeder Schritt rückwärts bringt einen näher ans Werk und öffnet einem die Augen fürs grosse Ganze.

Monet, Dietrich, Turner

Weit ins Land schaut man von hier. Unten, hinter dem Brombeerbusch, lugt der Kirchturm von Berlingen hervor. Und das Wasser kurz vor Mittag blendet bis hier hinauf. «Gegen Mittag hin verändert sich die Farbe das Wassers und auch des Himmels», weiss der Künstler.

Als er vor zwei Jahren diese Technik erstmals in der freien Natur ausprobierte, habe er noch nicht gewusst, was daraus entstehen würde. «Ich habe es noch nicht begriffen.» Einmal im Winter habe er seine Hinterglas-Bilder angeschaut und wurde von Zweifeln überfallen. «Jetzt werde ich bald zum Kitschmaler.»

Der Aussichtspunkt überm Jochental ist indes nicht zufällig ausgewählt. Hier stand vor über 100 Jahren nämlich ein anderer Thurgauer Künstler und zeichnete: Adolf Dietrich (1877 – 1957), der bedeutende Thurgauer Maler der Neuen Sachlichkeit. Von genau dieser Stelle aus hat Dietrich das Panorama in einer Zeichnung festgehalten. Diese Referenz auf ein bestehendes Kunstwerk gab ihm nochmals eine andere Motivation, Landschaften auf Glas zu bannen. «Mich interessiert der Ort, die Ambiance, welche den Künstler vor mir fasziniert hat, ich gebe mich mit meiner Technik sozusagen auf Spurensuche.»

Die Idee hatte er vor knapp einem Jahr in einer Ausstellung in Paris – seit 35 Jahren seiner zweiten Heimat. Da waren Werke von Impressionisten ausgestellt, die diese an ihrem Ferienort in Etretat in der Normandie gemalt hatten. Die Falaisefelsen von Claude Monet (1840 – 1926) in Varengeville bei Dieppe zogen ihn in seinen Bann. «Also fuhr ich mit meiner Ausrüstung dorthin und malte die Felsen aufs Glas.» Wieder und wieder, wie der berühmte Maler vor ihm.

Monet, Dietrich – in der aktuellen Ausstellung in der Schaffhauser Galerie Mera (siehe Kasten) werden die historische Vorlage und Tisserands Untersuchung des Ortes einander gegenübergestellt. «In diesem Sinne verstehe ich dies auch als ein Anknüpfen an eine Tradition», sagt der Künstler, «und zwar nicht als einen Versuch, sie zu kopieren, sondern mit meinen Mitteln, mit meiner Technik und Vorgehensweise, darauf Bezug zu nehmen.»

«Nein, ich weiss nicht genau, wo mich das hinführt. Wüsste ich es, wäre es sofort langweilig.»

Hinaus in die grosse Kunstwelt von Paris, der anderen Heimat auf Zeit des Thurgauer Künstlers, um Inspiration zu tanken, auch um Wahlverwandtschaften wie hier mit Monet zu finden – das ist dem 69-Jährigen auch heute noch wichtig. Auch die Sujets von William Turner, der den Rheinfall und die Teufelsschlucht in Uri gemalt hat, rücken in den Fokus seines Interesses. Vielleicht wird er bald am Gotthard hinter seiner Glasscheibe stehen. «Ideen gibt es viele, aber nein, ich weiss nicht, wo mich dieser Weg hinführt. Wüsste ich es, dann wäre es sofort langweilig.»

Richard Tisserand: Ausstellung in Schaffhausen

Die Ausstellung«Les ateliers en plein air» von Richard Tisserand, die der Kunstverein Schaffhausen in der Galerie Mera (Mühlentalstrasse 185) präsentiert, dauert von 21. Mai bis zum 8. Juli. Vernissage ist am kommenden Sonntag um 11.30 Uhr. Vorgesehen sind eine Begrüssung durch Stephan Kuhn, den Präsidenten des Kunstvereins, und eine Einführung durch Kunsthistorikerin Aline Juchler. Zur Ausstellung erscheint ein ausführlicher Katalog.

Der KünstlerRichard Tisserand, geboren 1948 in Eschenz, lebt und arbeitet seit 1971 abwechselnd in seinen Ateliers in Paris, Stein am Rhein und Neuhausen am Rheinfall. Tisserand ist seit 2005 Kurator im Kunstraum Kreuzlingen und im experimentellen Medienzentrum Tiefparterre. Er hat regelmässig Ausstellungen in Frankreich, Deutschland und der Schweiz.

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