Theatergeschichten mit Ecken und Kanten

Mark Liebenberg | 
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Ein doppeltes Jubiläum feiert das Theater Sgaramusch: Seit 35 Jahren gibt’s die einzige Schaffhauser Profitheatergruppe, und seit 20 Jahren leiten Stefan Colombo und Nora Vonder Mühll das etwas andere Kindertheater.

«Die besten Bühnenbilder entstehen im Kopf» – so formuliert Nora Vonder Mühll ein Credo des Theaters Sgaramusch. Die Ausstattung ist reduziert, die Konzentration liegt auf der Handlung, der Sprache, der Schauspielerei. Und darauf, was man beim kindlichen, jugendlichen und erwachsenen Publikum erreichen will – und wie man es zum Mit- und Nachdenken gewinnen kann. Ein Theater, das Fragen aufwirft, manchmal provoziert und nicht bloss Geschichten nachspielt und mit hübschen Kulissen und Kostümen illustriert. Ein Theater mit Ecken und Kanten also.

Nicht nur im Kopf, sondern sehr real sind der Erfolg und die Ausstrahlung, die das Theater Sgaramusch in den über drei Dezennien seines Bestehens und seit genau 20 Jahren unter der engagierten Leitung von Stefan ­Colombo und Nora Vonder Mühll mit dieser Herangehensweise erreicht hat. Erfolge, die weit über die Region Schaffhausen hinausstrahlen und Sgaramusch als feste Grösse in der freien Schweizer Theaterszene bekannt gemacht haben.

Fast ständig auf Tournee

Colombo und Vonder Mühll haben eine Nische gefunden. Wer Kindertheater sagt, meint entweder Theater für Kinder oder Theater mit Kindern. «Wir unterscheiden uns da. Denn Sgaramusch, das ist erstens Theater für Kinder und Erwachsene und zweitens alles andere als eine Märchenbühne», sagt Colombo. Hinter klamaukigen oder absurd-verrückten Theatersituationen stecken meist sehr ernste Themen. «Diwillidinit» etwa thematisiert Ausgrenzung anhand verschiedenster Situationen. «Der Wolf unterm Bett» versucht einen verspielten Umgang mit dem, wovor sich Kinder fürchten. «Dingdonggrüezi» wiederum wirft Fragen zu unseren Wohnarrangements aus Kindersicht auf. «Es muss uns selbst auch interessieren, sonst ginge es nicht», sagt Vonder Mühll.

Und doch verstehen Sgaramusch sich nicht in erster Linie als pädagogisches Theater – obwohl heute zu jedem Stück Materialien erarbeitet werden, die für Schulklassen als Vorbereitung auf die Theateraufführungen dienen. «Bei uns gibt es niemals das Gute und das Böse, die gegeneinander antreten und wo das eine oder das andere gewinnt. Wir versuchen alle Facetten und Schattierungen darzustellen, das ist für Schauspieler sowieso interessanter», sagt Colombo.

Und so hat das aktuelle Jubiläumsjahr wie jedes der vergangenen 20 angefangen: mit der Entwicklung einer Idee, dem Finden eines Themas. Darauf folgt eine Retraite mit dem Produktionsteam, mit viel Improvisation, aus der sich allmählich ein Stück entwickelt. Daneben spielten die beiden seit Januar über 20 Vorstellungen von Stücken aus dem Repertoire in Basel, Chur, Luxemburg sowie ein halbes Dutzend Schulaufführungen. Der Regisseur wechselt fast bei jeder Neuproduktion, auch das eine Konstante: «Diesen immer wieder neuen Blick von aussen, das braucht es», sagt Vonder Mühll. «Alles andere wäre unprofessionell.»

Meist spielen beide mit

Einen professionellen Anspruch brachten beide mit, als sie Sgaramusch 1997 vom Gründer Urs Beeler übernahmen, der sich nach 15 Jahren Sgaramusch auf Theaterpädagogik konzen­trieren wollte und heute in der Leitung des Theaters Hora mit Behinderten in Zürich aktiv ist.

«Urs Beeler hat mich gefragt, ob ich Sgaramusch übernehmen wolle, und ich habe sofort zugesagt», sagt Vonder Mühll, « unter der Voraussetzung, dass ich es mit Stefan gemeinsam leiten kann.» Einen guten Namen habe das Sgaramusch schon gehabt, eine Probebühne (damals in Büsingen) und Unterstützung von Stadt und Kanton waren ebenfalls da. Das Konzept bestand darin, jährlich ein Theaterstück für Kinder zu produzieren und damit auf Tournee zu gehen.

Mit den beiden Schauspielern kam ein motiviertes Team nach Schaffhausen. Es dauerte drei Jahre, bis die beiden ihre Handschrift entwickelt hatten. «Schneewittli» (2000) markiert den Beginn der neuen Ära: «Wir wollen eine Geschichte auf unsere Art erzählen», sagt Colombo. «Ein wenig frech und ein wenig unkonventionell. Mit wenig Requisiten, viel Schauspielerei und Musik.» In den meisten Produktionen spielen beide mit, in einzelnen kommen ­weitere Schauspieler oder Musiker dazu. Erwartungshaltungen herauszufordern, das ist dabei genauso Programm wie das Brechen konventioneller Erzähl­gewohnheiten – etwa, indem ein Schauspieler mehrere Rollen spielt.

Können Kinder da überhaupt folgen? Beide lachen. «Oft unterschätzt man Kinder, die sind aufmerksame Zuschauer. Es kommt öfter vor, dass sich Lehrer beklagen, sie hätten dies oder jenes nicht verstanden, Kinder tun das selten», sagt Colombo. Konventionelle Bild- und Erzählmuster seien Kindern aus dem Fernsehen oder aus Videogames geläufig. «Sie erfassen Livetheater intuitiv. Und sie sind weniger heikel, wenn Erwartungen mal nicht erfüllt werden, wenn Schneewittchen eben gerade nicht im weissen Kleid auftritt», sagt Vonder Mühll.

Und doch sei das Feedback wichtig, von Lehrern, Eltern – und den Kindern. Oft wird die Vorstellung in der Schule nachbearbeitet, oft wird darüber geredet. «Oder die Kinder kommen nach der Vorstellung auf die Bühne und stellen Fragen. Kritik kommt dann ehrlich und direkt: ‹Das und das hat mir nicht gefallen.› Oder: ‹Das war langweilig›», erzählt die Schauspielerin.

Wenn kommende Woche im Haberhaus die Jubiläumsfeier über die Bühne geht, schlüpfen Colombo und Vonder Mühll erneut in ihre Rollen im Sgaramusch-Klassiker «Wolf unterm Bett». Damit stehen die beiden seit 20 Jahren praktisch ununterbrochen miteinander auf der Bühne. Dass das so ist, war keineswegs immer sicher: «Als wir mit Sgaramusch angefangen haben, waren wir auch privat ein Paar», so die Schauspielerin. Die Trennung ­einige Jahre später und die darauffolgende Arbeit als Künstlerduo seien ­alles andere als einfach gewesen. «Aber da war Sgaramusch halt schon so etwas wie unser gemeinsames Baby, und wir haben uns das Sorgerecht geteilt!»

Als Highlights ihrer Theaterkarriere nennen beide die Einladungen von Sgaramusch ins Ausland an Theaterfestivals ab Mitte der Nullerjahre. «Da haben wir zum Beispiel unseren ‹Wolf› auf Englisch in schottischen Dörfern gespielt – fantastisch», schwärmt er – sie denkt gern an den Auftritt im berühmten Opernhaus von Sydney zurück. «Zwar nicht im grossen Saal, sondern in einem kleineren, aber wir machen ja schliesslich auch Kleintheater.»

Die besten Aufführungen, sagen beide unisono, sind immer noch die Schulvorstellungen. «Die Reaktionen und Feedbacks der Kinder machen immer wieder deutlich, warum ich das gerne mache», sagt Vonder Mühll. Für weitere 20 Jahre? «Man muss so einen inneren Drang spüren, etwas erzählen zu wollen. Und dieser Drang ist bei uns beiden noch da», sagt Colombo.

Weggefährten gratulieren: «Sgaramusch, das ist Kleintheater ganz gross!»

Seit 35 Jahren ist Sgaramusch eine feste Säule im Schaffhauser Kulturleben und ein Theater-Aushängeschild für den kleinen Kanton. Und seit 1997 haben Nora Vonder Mühll und Stefan Colombo mit ihrer Art des Theaters für Kinder und Erwachsene im In- und Ausland für Aufsehen erregt.

Weggefährten aus drei Jahrzehnten freuen sich mit dem Theater Sgaramusch über das doppelte Jubiläum.Katharina Furrer. Leiterin des Schauwerk-Theaters, in dessen Rahmen Sgaramusch jährlich eine Anzahl Vorstellungen spielt, lobt gegenüber den «SN» die Innovationskraft von Colombo und Vonder Mühll: «Mit wechselnder Regie und verschiedenen Bühnenpartnern wagen sie immer wieder Neues. Sie trauen den Kindern viel zu und dies zu Recht.» Und Furrer hat auch einen Wunsch für das Team: «Ich wünsche ihnen, dass sie sich etwas mehr Ruhe gönnen können. Dieses Tempo, dieser kreative Ausstoss – ich bin schon erschöpft, wenn ich ihren Spielplan lese!» Mit mindestens sechs verschiedenen Repertoirestücken gastierten Sgaramusch seit Anfang Jahr in Schulen und Theatern, oft auch im Ausland, und gleichzeitig arbeiten sie an neuen Produktionen. «Wenn man ihre Lebensarbeitszeit aufrechnen würde, könnten sie sich längst pensionieren lassen … aber das wäre nicht in ihrem Sinn – und schon gar nicht im Sinn der Kinder und der erwachsenen Theaterfans.»

Seit Jahren ist der Basler DesignerRemo Kellervon Milk + Vodka ein Teil von Sgaramusch –gestaltet er doch die markanten Theaterplakate der Truppe. «Ich liebe an ihnen ihre Frische, ihre Frechheit und wie sie es schaffen, Junge und Alte bei jedem neuen Stück mit wenigen Mitteln für eine Stunde oer so in eine andere Welt hinübergleiten lassen.» Da hat Keller nur noch einen Wunsch: «Weiter so! Frisch, frech und voller Freude.»

Den Schaffhauser Musiker Oliver Maurmann (u.a. «Aeronauten») ist mit Sgaramusch seit Jahren eng verbunden und hat in diversen Produktionen als Schauspieler oder Musiker mitgewirkt. «Als ich anfing, habe ich angemeldet: ‹Ich will keine Pflanzen und Tiere spielen!› Natürlich habe ich seitdem bei Sgaramusch alle möglichen Pflanzen und Tiere gespielt. Aber eigentlich spiele ich immer mich selbst. Erstaunlich, wie Nora und Colombo das aushalten.» Die gemeinsamen Tourneereisen nach Europa, Russland und USA zählt er zu den grossen Highlights. Sein Wunsch: «Mehr davon!»

 

Ohne Ihn gäbe es Sgaramusch nicht: Der Gründer des Projekts und heutige TheaterpädagogeUrs Beeler. «Heute freue ich mich darüber, dass ich bei Nora und Stefan den richtigen Riecher hatte: Die können Herzblut entwickeln», sagt Beeler, der sich damals nach 15 Jahren Sgaramusch beruflich weiterentwickeln wollte. Ihm sei schnell klar gewesen, dass er die Neuen selber machen lassen musste und sich nicht einmischen wollte. Das Künstlerduo Colombo/Vonder Mühll habe mit seinem Engagement viel Durchhaltevermögen bewiesen – was in der freien Theaterszene nicht selbstverständlich sei. «Sie haben etwas absolut Spannendes kreiert, das dazu noch total erfolgreich wurde. Toll.»

Ein langjähriger Fan von Sgaramusch istRoland E. Hofer, Kulturbeauftragter des Kantons. «Sgaramusch, das sind 30 Jahre Poesie, Spannung, Entdeckerfreude, Neugierde oder einfach: Kleintheater ganz gross. Ich wünsche weiterhin viel Risikofreude auf der Reise mit den jungen und älteren Fans!»(lbb)

Theater Sgaramusch: Daten und Fakten

Die Anfänge1982 gründet der Schaffhauser Schauspieler und Regisseur Urs Beeler die Theatergruppe Sgaramusch für Kinder und Erwachsene. Es folgen jährliche Produktionen und Gastspiele an Schulen. 1997 übernehmen Stefan Colombo und Nora Vonder Mühll das Theater Sgaramusch. Sie erarbeiten mit wechselnden Regisseuren jährlich eine neue Produktion und spielen mehrere ältere aus dem Repertoire.

Chronologie1999: Förderpreis der Bodenseekonferenz. 2000: «Schneewittli» (ist bis heute im Repertoire). 2002: Förderpreis der Carl-Oechslin-Stiftung Schaffhausen. Leistungsvereinbarung mit Stadt und Kanton Schaffhausen. Regelmässige Gastspiele an Schaffhauser Schulen. Ab 2003: Zahlreiche Auslandgastspiele, unter anderem mit auf Englisch übersetzten Produktionen in Schottland, Sydney, Moskau und Paris. 2003: Bürogemeinschaft mit dem Schauwerk-Theater. 2005: «Wolf unterm Bett». 2007: Bezug der Probebühne Cardinal (mit dem Momoll-Theater). 2007: ­«Go Western». Förderpreis der Bodenseekonferenz. 2008: «Die Schwarze Spinne». 2011: «Verbotte!». Gastspiel in Kamerun. 2012: «Mädchen». 2013: «Die Schwarze Spinne». 2014: «Dingdonggrüezi». 2015: «Alleidihei». 2016: Rechercheaufenthalt in ­Buenos Aires. «Diwillidinit».

Publikum und Träger2016 erreichte Sgaramusch in 84 Vorstellungen – davon 11 im Rahmen des Schauwerk-Theaters und 48 als Schulvorstellungen – 6229 Zuschauer. Der Gönnerverein Theater Sgaramusch zählt aktuell 84 Mitglieder. Es besteht eine Leistungsverein­barung mit Stadt und Kanton Schaffhausen. Jährlicher Förderbeitrag: 73 000 Franken.

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