Wiedergutmachung im Kanton läuft an

Mark Liebenberg | 
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Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und frühere Verdingkinder können in Schaffhausen ab sofort ein Gesuch um eine finanzielle Entschädigung für erlittenes Unrecht stellen. Man geht von etwa 120 Betroffenen im Kanton aus.

Sie erfordert Fingerspitzengefühl, diese Arbeit. «Man hört entsetzliche Geschichten», sagt Markus Plüss, Sachbearbeiter bei der Fachstelle Gewaltbetroffene des Kantons Schaffhausen. Der Kanton Schaffhausen hat der Fachstelle das Mandat übertragen, den Direktbetroffenen eines dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte dabei behilflich zu sein, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, und das Unrecht, das ihnen angetan wurde, wenigstens ein wenig zu korrigieren. Zwanzig Dossiers hat Plüss im Moment vor sich liegen, viele mehr dürften in den kommenden Monaten noch dazukommen.

«Wir haben alle Gemeinden, Pfarrämter und Ärzte angeschrieben und sie gebeten, mögliche Betroffene auf unsere Stelle aufmerksam zu machen», sagt Plüss. «Wir kennen die Leute nicht, wir sind darauf angewiesen, dass sie sich von sich aus melden.» Nachdem im letzten September der Solidaritätsfonds für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen von den eidgenössischen Räten beschlossen worden war, musste in jedem Kanton eine Meldestelle eingerichtet werden. Die Betroffenen betreuen heisst in diesem Fall: «In der Regel gibt es ein erstes persönliches Gespräch, in dem wir die Personalien aufnehmen, die Geschichte erfassen. Wir nehmen die Schilderungen ernst und achten sehr auf die Details», sagt Plüss. Zudem muss er das Erzählte einschätzen und einordnen können. «Die Schilderungen sind meistens schrecklich, und jeder Fall ist wieder völlig anders.»

Danach geht die grosse Arbeit los: Es müssen die Archive nach Belegen abgesucht werden. Belege, das sind etwa Heimlisten, administrative Unterlagen, Fürsorgeakten, Verfügungen meist von Gemeindeämtern. «Ich arbeite eng mit dem Staatsarchiv und dem Stadtarchiv zusammen, die Mitarbeiter dort sind sensibilisiert darauf, dass jetzt solche Anfragen kommen.»

Betroffene könnten dies alles im Prinzip auch selbst machen. «Wir bieten einfach unsere Hilfe an, natürlich kostenlos.» Sind die Unterlagen gefunden und gescannt, dann gilt es, ein umfang- und detailreiches Antragsformular auszufüllen und an das Bundesamt für Justiz zu schicken, das die Gesuche prüft und bearbeitet – und letztlich auch die Beiträge auszahlen wird.

«Der schwierigste Teil für die Betroffenen ist oft, mit den Dokumenten konfrontiert zu werden. Manchmal sind sie entsetzt darüber, was sie aus den Akten über sich erfahren.» Plüss hatte sein ganzes Berufsleben lang mit traumatisierten Menschen zu tun und weiss, dass man die Schilderungen ernst nehmen muss. «Viele der damals Misshandelten tragen psychische und physische Spätfolgen mit sich. Viele haben ihr Leben eher am Rand der Gesellschaft verbracht und leben heute von AHV und Ergänzungsleistungen.»

Bis Ende März 2018 müssen die Anträge gestellt sein. Hand in Hand mit dem Entschädigungsprozess geht die historische Aufarbeitung durch eine unabhängige Expertenkommission. «Da steht man noch am Anfang», sagt Plüss. Die Situation von Heimkindern, Bevormundeten oder Fremdplatzierten im Kanton Schaffhausen wurde noch nie systematisch untersucht. «Die bislang vorliegenden Fälle sind ein Indiz, dass die Situation in der Friedeck in Buch, im Waisenhaus und im früheren Töchterinstitut auf der Steig teilweise besonders schlimm war.» Statistisch gesehen könnte es in Schaffhausen 120 Betroffene geben. Plüss geht davon aus, dass sich einige aufgrund des Medienechos melden werden. Im Prinzip sind Betroffene, fügt er an, auch zur Unterstützung im Rahmen des regulären Opferschutzes berechtigt.


Solidaritätsbeitrag: Wer gilt als Opfer? Wer hat Anspruch auf Geld?

In den Artikeln 3 und 4 des am 1. April 2017 in Kraft tretenden Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) anerkennt der Bund ausdrücklich, dass den Opfern Unrecht zugefügt worden ist. Und dass diese Opfer Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag haben. Das neue Gesetz regelt, wer als Opfer gilt und anspruchsberechtigt ist: Infrage kommen Menschen, die von einerfürsorgerischen Zwangsmassnahmevor 1981 betroffen waren, die eine Behörde in der Schweiz verhängt hat. Ebenfalls infrage kommenFremdplatzierte, also Menschen, die von Behörden aber auch von Privaten ausserhalb ihrer Familie in Heimen, Anstalten, bei Kost- und Pflegefamilien oder in gewerblichen oder landwirtschaftlichen Betrieben untergebracht wurden. AlsOpferim engeren Sinne des Gesetzes gilt nur, wer im Rahmen einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme oder einer Fremdplatzierung in seiner «körperlichen, psychischen oder sexuellen Unversehrtheit» beeinträchtigt wurde oder dessen «geistige Entwicklung unmittelbar und schwer beeinträchtigt wurde». Das Gesetz listet sogar ausdrücklich auf, um welche Beeinträchtigungen es geht: zum Beispiel durch körperliche oder psychische Gewalt, durch sexuellen Missbrauch, durch unter Druck erfolgte Kindswegnahme und Freigabe zur Adoption («Kinder der Landstrasse»), durch unter Druck oder in Unkenntnis erfolgte Medikamentation, Sterilisation oder Abtreibung. Ebenso aufgelistet sind Ausbeutung durch übermässige Beanspruchung der Arbeitskraft und das Fehlen angemessener Entlöhnung. Ebenfalls als Beeinträchtigungen zählen die Behinderung der persönlichen Entwicklung und Entfaltung sowie die soziale Stigmatisierung.


Interview: Eine Betroffene erzählt

«Schläge ins Gesicht waren an der Tagesordnung»

R. M.* kam 1946 als Tochter einer alleinerziehenden Mutter in einer Schaffhauser Gemeinde zur Welt. Die Mutter arbeitete in Zürich, liess das Kind zuerst bei der Grossmutter, dann bei anderen Verwandten aufwachsen. Mit sechs Jahren wurde M. bevormundet und kam ins privat geführte Töchter­institut auf der Steig, einem Kinderheim für «schwer erziehbare» Mädchen. Nach einer angefangenen Lehre als Verkäuferin wurde sie in die Psychiatrische Klinik Breitenau eingewiesen. Als Insassin der Klinik konnte sie als Spitalgehilfin im Kantonsspital arbeiten. Als sie mit 20 Jahren schwanger wurde, wurde sie ausserkantonal in einem Heim untergebracht und musste in einer Fabrik arbeiten. Das Kind kam zu Pflegeeltern. Mit 22 hei- ratete sie und bekam ihr Kind zu- rück. Seit einigen Jahren lebt R. M. mit ihrem Mann in einem Land ausserhalb Europas.

Frau M., Sie haben Ihre Kindheit und Jugend in Heimen in Schaffhausen verbracht. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?

R. M.: Traurige. Ich hatte niemanden, wirklich niemanden. Meine Mutter interessierte sich nicht für mich. Und für die anderen Erwachsenen war ich ein Ärgernis, für die Heimleiterin, die Lehrer, den Vormund. Es gab keine Nettigkeit und keine Liebe. Es war schlicht niemand da, der sich für mich einsetzte. Ich wurde ein sehr introvertiertes, stilles Kind. Und das machte alles noch schlimmer.

Wie waren die Zustände im Töchter­institut auf der Steig?

Es fing schon am ersten Tag an. Die Heimleiterin, ein älteres Fräulein, hatte es von Beginn weg auf mich abgesehen. Die nächsten Jahre waren die reinste Tyrannei, und es gab keine Bezugspersonen ausser der Leiterin. Mein Vormund, eine reiche Rechts- anwältin, blieb distanziert und kühl. Im Heim waren Schläge ins Gesicht an der Tagesordnung. Unter den vierzehn Mädchen herrschte eine Hackordnung. Und in der Steigschule, wo wir Mädchen zum Unterricht gingen, wurden wir ebenfalls gemobbt, auch von den Lehrern. Und auf dem Pausenplatz gab’s wieder Schläge.

Welche Erlebnisse können Sie bis heute nicht vergessen, nicht verzeihen?

Zur Strafe für kleine Verfehlungen wurde ich mehrfach in den Kohlekeller eingesperrt, stundenlang mit all den Spinnennetzen und ohne Licht. Ein paar Mal musste ich als Strafe eine Woche im Estrich schlafen, auf uralten Matratzen. Ich hatte nur Angst, Angst Angst. Und vor jedem Essen musste ich Lebertran schlucken. Mir war sehr oft schlecht, und ich erbrach häufig. Einmal in die Salatschüssel vor mir. Sie hat mich dann gezwungen, den Salat so aufzuessen! Noch heute leide ich unter Panikattacken, wenn ich daran denke. Und immer noch träume ich von bösen Hexen, wie damals im Heim.

Wie haben Sie danach ins Erwachsenenleben gefunden?

In der ersten Zeit vermisste ich das Heim, trotz aller Schikanen, das ist schon seltsam. Ich durfte eine Lehre in der Stadt Schaffhausen machen und hatte ein eigenes Zimmer. Meine Chefinnen waren zwei ältere, sehr strenge Damen. Ich war jung, ging mit Kolleginnen in den Ausgang und hatte einmal Sex mit einem Jungen. Das kam raus, und für den neuen Amtsvormund war das Grund genug, mich in die Breitenau einzuweisen. Ein Jahr lang sperrte man mich auf der geschlossenen psychiatrischen Abteilung ein.

Wann waren Sie zum ersten Mal im Leben frei und selbstbestimmt?

Nach der Breitenau wurde ich noch in einem anderen Kanton in ein Heim gesteckt, weil ich schwanger geworden war. Das Baby hat mir endlich einen Sinn im Leben gegeben. Ich hatte dann das Glück, mit 22 Jahren einen sehr, sehr lieben Mann kennenzulernen. Erst mit der Hochzeit wurde die Vormundschaft aufgehoben.

Wie geht es Ihnen heute?

Ich war mein ganzes Erwach- senenleben gesundheitlich angeschlagen. Ohne Psychopharmaka geht es nicht. Es ist schwer, jetzt die alten Akten zu lesen. Ich möchte nichts lieber, als die Vergangenheit ruhen zu lassen.

* Name der Redaktion bekannt


Hilfe für Opfer: Wie sie funktioniert

Solidaritätsbeitrag Alle Personen, die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 in der Schweiz geworden sind, sollen auf Gesuch hin einen Solidaritätsbeitrag erhalten als Entschädigung für erlittenes Unrecht. Dazu zählen Heimkinder, Verdingkinder, Fahrende, administrativ Versorgte, Zwangsadoptierte. Man geht schweizweit von rund 12 000 Betroffenen aus.

Zuständigkeiten Der Bund hat einen Solidaritätsfonds von 300 Millionen Franken eingerichtet, also etwa 25 000 Franken pro Person. Die Begleitung der Betroffenen, die Erfassung von Anträgen und die Beschaffung von Beweismaterial sind Sache der Opferhilfestellen im Auftrag der Kantone. Die Frist läuft vom 1. April 2017 bis 31. März 2018. In Schaffhausen ist die Fachstelle Gewaltbetroffene, Neustadt 23, die offizielle Anlaufstelle für Betroffene.

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