Mit leerem Tank und erhobenem Haupt

Eva-Maria  Brunner Eva-Maria Brunner | 
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Eva-Maria Brunner ist Mutter und Lehrerin und schreibt in dieser Kolumne über persönliche Ressourcen und Prioritäten.

Es war einmal eine Herrscherin, die ­regierte in einem Land voller Regenwälder, Berge und einsamer Strände am anderen Ende der Welt. Sie führte ihr Volk durch Krisen; ­reagierte sou­verän bei einem Terror­anschlag, einer Naturkatastrophe oder einer Pandemie. Sie wurde bewundert für ihre Freundlichkeit und Güte. Sie gebar ein Kind und war nun Mutter und Staatsoberhaupt. Und wenn sie nicht gestorben ist, so ­regiert sie noch heute. So würde es ­zumindest erzählt werden, wäre dies ein Märchen. Die Realität im Jahr 2023 sieht anders aus: Jacinda ­Ardern, die Premierministerin von Neuseeland, gab kürzlich überraschend ihren ­Rücktritt bekannt. Sie legte ihre Gründe dar; ohne anklagend zu wirken. «Mein Tank ist leer», erklärte sie und zeigt sich gerade in ihrer ­Verletzlichkeit als stark und selbst­bestimmt. Sie übernimmt Verant­wortung, setzt Prioritäten und kann mit dieser Sorgfalt und Selbstreflexion ein Vorbild sein.

Kein Scheitern, sondern Haltung

Nun könnte man natürlich einmal mehr die Debatte lancieren, ob denn die Vereinbarkeit von Kind und Karriere überhaupt möglich sei. Diese Diskussion kann zwar nicht oft genug geführt werden, greift hier aber vielleicht zu kurz. Sie lässt ausser Acht, dass ­Ardern nicht den üblichen Spagat zwischen Meetings und Kita-Abholzeiten, zwischen Netzwerken und RäbenSchnitzen vollbringen musste. Diesbezüglich leistet wohl jede alleinerziehende ­Mutter mit Verkäuferinnen-Job mehr. Arderns Ehemann übernahm den Grossteil der Familienarbeit; eine ­Tatsache, die möglicherweise zu ­Beginn ihrer Laufbahn zu reden gab, bei jedem männ­lichen Spitzenpolitiker aber keine Zeile wert ist. Da käme es niemandem in den Sinn, nachzufragen, ob denn der Parlamentarier neben dem Tagesgeschäft noch genug Kapazitäten für den Mental Load des Familienalltags hat. Stillschweigend gehen wir ­davon aus, dass es im Hintergrund eine Gattin gibt, die ihm den Rücken freihält. Wenn Ardern nun also ankündigt, sich darauf zu freuen, bei der Ein­schulung ihrer Tochter dabei sein zu können, verstehe ich es nicht als ein Scheitern, sondern als eine konsequente Haltung. Die Freundlichkeit, die sie als Maxime ihrer Politik pro­pagiert hatte, zeigt sie nun ganz einfach auch sich selbst gegenüber. Sie scheint zu spüren, wo sie künftig ihre Energie ­einsetzen möchte, sie scheint für sich herausgefunden zu ­haben, wo sie sich unentbehrlich fühlt.

«Manchmal kann man sich selbst nur dann treu sein, wenn man offen zeigt, dass die eigenen Ressourcen endlich sind.»

Die ersten Schritte können auf Video aufgenommen werden. Das Kind nach wenigen tapsigen Schritten in die Arme schliessen kann nur, wer vor Ort ist. Die Fahrt zum Fussballtraining kann eine Nachbarin übernehmen. Das Gespräch über Gott und die Welt während der Autofahrt ist unersetzlich. Der erste Liebeskummer vergeht irgendwann. Aber eine Mutter, welche Taschen­tücher und Lieblingsguezli bereithält, lindert den Schmerz. Wo würde ich mir später vorwerfen, nicht mit von ganzem Herzen involviert gewesen zu sein? ­Ardern scheint ihre Antwort gefunden zu haben. Ist ihr Rücktritt eine Kapitulation, ein ­Eingestehen, dass man insbesondere als Frau nicht alles haben kann? Ich sehe es nicht so. Wenn mich meine Rolle als Mutter eins gelehrt hat, dann dies, dass man gewisse Dinge nicht ­planen kann. Dass man auf dem Weg ist und manchmal die Landstrasse statt der Autobahn wählen muss. Dass ein «Nein» zu einem Angebot manchmal nicht weniger als ein grosses «Ja» zu sich selbst ist. Dass ich nicht mehr nur für mich allein entscheiden kann, sondern immer ein ganzes ­System mitdenken muss.

Prioritäten verschieben sich

Auch Simonetta Sommaruga hat mit ihrem Rücktritt vorgelebt, dass sich Prioritäten verschieben können. Das mag schmerzhaft sein. Aber diese zwei Frauen haben eindrücklich demonstriert, dass man manchmal nur dann sich selbst treu sein kann, wenn man offen zeigt, dass die eigenen Ressourcen endlich sind. Damit ­bewiesen sie eine Grösse, welche vielen männlichen Politikern auch gut anstehen würde. Ich glaube, in diesem Punkt sind wir Frauen bereits weiter. Ich wünsche mir für meinen Sohn eine Welt, in welcher auch Männer mit Gelassenheit und innerer Überzeugung Kurs­änderungen vornehmen dürfen.

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