«Ich musste mir eine dicke Haut zulegen»

Sonja Dietschi | 
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Kevin Vögelin mit SwissMediKids-Gesamtleiterin Veronica Cortés (l.) und Tabitha Mancina, Co-Standortleiterin Zürich. Bild: Pascal Schoch

Kevin Vögelin lebt mit einer Beeinträchtigung und arbeitet seit Kurzem in einer Kinderarztpraxis als Pflegehilfe. Dort ist er zufrieden, der Weg dahin war aber steinig. Den SN erzählt er, wie er schwierige Momente gemeistert hat und warum er nun auf dem richtigen Weg ist.

Menschen mit Beeinträchtigung erfolgreich in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, ist eine Herausforderung, die sich jedoch lohnen kann. So befragte die SN kürzlich Experten von verschiedenen Institutionen, wie diese gelingt und was dafür benötigt wird. Wie aber erlebt jemand mit einer Beeinträchtigung die Berufswelt?

Kevin Vögelin ist 30 Jahre alt und kennt die Arbeitswelt aus zwei Perspektiven – er hat seine Ausbildung zum Zierpflanzengärtner im geschützten Rahmen gemacht und danach mit niederschwelliger Betreuung im ersten Arbeitsmarkt gearbeitet. Seit drei Monaten ist er bei SwissMediKids, einer Kinder-Notfallpraxis am Zürcher Hauptbahnhof, im Vollzeitpensum als Pflegehilfe angestellt. Mit den SN teilt er seine Erfahrung als Person mit Beeinträchtigung im Arbeitsmarkt und worauf potenzielle Arbeitgebende achten sollten. Er rät anderen Personen mit Beeinträchtigung – gerade solchen, die (noch) im geschützten Rahmen arbeiten –, nicht über Probleme zu schweigen, sondern anzusprechen.

Im Beitrag erzählt Kevin Vögelin von seiner Arbeit und wie man mit Problemen umgehen sollte.


Selbstständig – aber nicht alleine

Seit drei Monaten hat Kevin Vögelin eine neue Routine. Um 6.30 Uhr nimmt er den Bus und fährt ins Schaffhauser Zentrum, und von dort geht es mit dem Zug weiter an den Zürcher Hauptbahnhof. Um 8.30 Uhr beginnt er mit der Arbeit in der Praxis von SwissMediKids. Er kümmert sich um die Wäsche, putzt den Lift, die Rezeption und das Wartezimmer und schaut in den restlichen Räumen, ob alles sauber und aufgeräumt ist. Nachmittags ist Vögelin dann auf Patrouille: Ist überall noch alles sauber? Muss etwas aufgefüllt oder desinfiziert werden? Damit er nichts vergisst, hat er auch eine Liste, auf welcher steht, was alles erledigt werden muss. «Ich mag die Arbeiten am liebsten, bei denen man ein klares Vor- und Nachher sieht, dass etwas gemacht wurde.» Er arbeitet meistens alleine und vollkommen selbstständig: «Dass ich selber meinen Tagesablauf gestalten kann, finde ich super. Und wenn es Probleme gibt, kann ich immer jemanden fragen.» «Jemand», das ist die Person, die gerade die Tagesverantwortung hat – eine Person im Team, die für Vögelin Ansprechperson ist. Mit dieser Struktur fährt SwissMediKids seit seiner Anstellung vor drei Monaten erfolgreich. Für Teamleiterin Veronica Cortés ist klar, «dass man mit einer flexiblen Denkweise die besten Leistungen erzielen kann. Der Mensch steht für mich im Vordergrund und ich glaube, ich konnte in den letzten fünf Jahren ein Team zusammenstellen, in dem alle am gleichen Strick ziehen.» Für Kevin Vögelin ist die Atmosphäre jedenfalls Welten von der an seinem letzten Arbeitsplatz entfernt: «Der Umgangston war rau, ich musste mir eine dicke Haut zulegen.» Bei SwissMediKids werde das Positive hervorgehoben. Das motiviere ihn.

Erfolgreicher Jobwechsel

Bevor er diese Stelle antrat, legte Vögelin einen relativ klassischen Weg zurück. Er besuchte die Sonderschule Sandacker und erlangte anschliessend das Eidgenössische Berufsattest EBA als Gärtner in der Stift Höfli, einer Institution, die Ausbildungsplätze für Menschen mit einer leichten Lernschwäche anbietet. Bei Stift Höfli blieb er nach seiner Ausbildung noch einige Jahre, bevor er dann die Arbeitsstelle wechselte. Am neuen Ort fühlte er sich aber nicht wohl und aufgrund seiner Beeinträchtigung diskriminiert.

«Auch als Person mit einer Beeinträchtigung hast du Rechte. Probleme muss man ansprechen.»

Kevin Vögelin, Pflegehilfe bei SwissMediKids

Als sich mit der Zeit abwertende, persönliche Kommentare über sein Äusseres häuften, sagte er sich: «Jetzt reicht es, jetzt muss ich handeln.» Er sprach mit seiner Familie darüber. Auch seine Betreuerin, die einmal wöchentlich bei ihm zu Hause nach dem Rechten schaut, sprach er darauf an. «Sie hat mir dann ‹mitschaffe.ch› empfohlen.» So kam der Ball ins Rollen. Nach einem ersten Gespräch mit Geschäftsführer Thomas Bräm verfasste Vögelin einen Lebenslauf und bewarb sich ganz offiziell bei SwissMediKids. Beim Probetag sei er schon nervös gewesen, sagt er. Es stimmte dann aber für alle Beteiligten und er bekam die Stelle.

Für seine Rechte einstehen

Kevin Vögelin weiss, dass die Anstellung einer Person in einem regulären Betrieb für die Beteiligten herausfordernd sein kann. Um falsche Erwartungen oder Ansprüche zu vermeiden, empfiehlt er den Arbeitgebenden, sich mit den Eltern oder Betreuenden auszutauschen. «Sie kennen die Stärken und Schwächen. Es soll darüber gesprochen werden, was möglich ist und was nicht, und wie man es am besten machen könnte», sagt Vögelin.

Personen mit Beeinträchtigung, die in ihrem Arbeitsumfeld leiden oder unzufrieden sind, legt er ans Herz, nicht zu lange zu warten: «Auch als Person mit Beeinträchtigung hast du Rechte. Probleme muss man ansprechen.» Wenn nicht, könne das zu einem Gefühl führen, nicht mehr atmen zu können und festzusitzen, bis hin zu einer Depression. Er selber habe zu lange gewartet. Jetzt aber wünscht er sich einfach, dass alles so weitergeht, wie es ist. «Über die spätere Zukunft mache ich mir nicht allzu viele Gedanken, ich nehme eins nach dem anderen.» Er ist aber zuversichtlich, dass alles gut klappen wird. «Ich spüre, dass ich jetzt auf dem richtigen Weg bin.»

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