«Wir sind im Krisenmodus»

Fabian Babic | 
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Seit rund 18 Jahren leitet Kurt Zubler die Integrationsfachstelle der Region Schaffhausen. Bild: Roberta Fele

Seit Kriegsausbruch in der Ukraine hat sich der Arbeitsalltag von Kurt Zubler spürbar verändert. Im Interview spricht der Geschäftsleiter der Integrationsfachstelle Integres über aktuelle Herausforderungen, immense Hilfsbereitschaft und den steinigen Weg bis zur Integration.

Herr Zubler, mehrere Hunderte vom Krieg vertriebene Ukraine-Flüchtlinge sind schon im Kanton Schaffhausen angekommen. Wie will der Kanton Schaffhausen diese Personen integrieren?

Kurt Zubler: Wir haben relativ schnell damit angefangen, erste Szenarien zu entwickeln, wie wir vorgehen möchten. Anfang März fanden bereits Sitzungen diesbezüglich statt. Zu Beginn gingen wir gemäss den ­Angaben des Staatssekretariats für Migration davon aus, dass rund 150 Flüchtlinge nach Schaffhausen kommen. Das hätte sich zwar auf die Organisation und Planung der Angebote ausgewirkt, aber noch in keinem erheblichen Mass. Die Zahlen der erwar­teten Flüchtlinge sind dann aber rasant ­gestiegen. Das bedeutet, dass die Bewäl­tigung dieser Situation eine grössere Herausforderung wird und dementsprechend mehr Ressourcen aufgewendet werden müssen. Wir haben den Beschluss gefasst, dass wir die Ukraine-Flüchtlinge wie ­vorläufig Aufgenommene behandeln. Dementsprechend gilt es die Integrationsprozesse schon jetzt aufzugleisen.

Der Schutzstatus S, den die Ukraine-Flüchtlinge erhalten, ist rückkehrorientiert. Warum soll man sich schon jetzt um eine umfassende Integration bemühen?

Wie der Krieg in der Ukraine weiter verlaufen wird, ist ungewiss. Deshalb ist auch unklar, wann die Flüchtlinge allenfalls zurückkehren können. Eine baldige Rückkehr wäre natürlich wunderbar, aber selbst während eines kurzen Aufenthalts sollten sich die Menschen hier zurechtfinden können. Dazu gehört eine Tagesstruktur, der Zugang zu Bildung und die Möglichkeit, an Sprachkursen teilzunehmen. Wenn sie dann wieder nach Hause können, nehmen sie wertvolle Erfahrungen mit. Dieses Szenario entspricht aber leider nicht den Erfahrungen, die wir in vielen anderen Fällen gemacht haben.

Viele bleiben nicht nur kurzfristig hier.

So war es in der Vergangenheit ­öfter. Deshalb ist es essenziell, dass man keine Zeit verliert und gezielt in die Inte­gration investiert. Wenn die Flüchtlinge hier bleiben, brauchen sie einen Weg in die Unabhängigkeit, um ein Teil der Gesellschaft werden zu können.

Zur Person

Kurt Zubler (*1958) ist seit 2004 Geschäftsleiter der Integrationsfachstelle Integres. Zudem war er bis Ende 2021 Co-Präsident der Konferenz der Schweizerischen ­Integrationsdelegierten (KID). Er ist seit 2014 im Schaffhauser Kantonsrat und präsidiert die SP-Fraktion. Zuvor sass er lange im Grossen Stadtrat. Zubler ist verheiratet und hat drei Söhne.

Womit sind Sie derzeit beschäftigt?

In erster Linie müssen wir die Zahl der Sprachkurse hochfahren. Unser Arbeitsmarkt ist darauf ausgerichtet, dass die Arbeitskräfte Deutsch sprechen können. Nun gilt es mehr bedarfsgerechte ­Angebote zu schaffen. Dafür sind qualifizierte Lehrpersonen dringend notwendig. Für diese Kurse braucht es auch eine angemessene Infrastruktur. Deshalb sind wir auf der Suche nach Räumlichkeiten. Beispielsweise hat uns die Kantonsschule kürzlich zwei Räume bis zu den Sommerferien zur Verfügung gestellt. Des Weiteren wird ein Integrationsprogramm für die Betroffenen erarbeitet. Dazu gehört eine Fallführung, also eine zuständige Fachperson, die für die individuelle Existenzsicherung und Integration zuständig ist. Auch hier braucht es mehr personelle Ressourcen.

Das hört sich nach einem massiven Mehraufwand an. Kommen Sie da überhaupt noch nach?

Wir sind im Krisenmodus, aber wir sind keine Krisenorganisation. Wir greifen auf bewährte Strukturen zurück. Natürlich sind wir nun auch stärker gefordert. Man muss schnell an zielgerichteten Lösungen arbeiten und rasch reagieren können, wenn sich die Situation plötzlich wieder ver­ändert. Im Krisenmodus muss man das ­Möglichste versuchen, um das Notwendige ­sicherzustellen.

Die Sprachkurse stehen nun im Fokus. Wann können die Flüchtlinge daran teilnehmen?

Der erste Kurs, bei dem Ukraine-Flüchtlinge dabei sind, ist am Montag gestartet. Ein weiterer startet nächste Woche. Zudem befinden sich zurzeit rund 100 Personen im Durchgangszentrum Friedeck. Dort findet eine Vorbeschulung statt.

Sind die Betroffenen so kurze Zeit nach der Flucht schon bereit für solche Integrationsmassnahmen? Einige müssen doch ­sicherlich zunächst die traumatischen ­Erlebnisse verarbeiten.

Ja, das stimmt zwar, allerdings ist es genau deswegen für viele wichtig, aktiv zu werden und zu einer Tagesstruktur zu finden. Nichts ist bei der Bewältigung solcher Erlebnisse schlimmer, als den ganzen Tag zu Hause zu sitzen und alleine mit seinen Gedanken zu sein. Man hat nahezu ­alles verloren und kann nur aus der Ferne beobachten, was in der Heimat geschieht. Durch die neuen Ziele wie das Erlernen einer Sprache finden sie Halt und werden wieder selbstwirksam. Dasselbe merkt man bei Kindern und Jugendlichen, die eingeschult werden. Durch den Umgang mit den Schulkameraden und den neuen Herausforderungen entwickelt sich wieder ein geregelter Alltag. Sicherlich sind vom Krieg Vertriebene verletzlich, aber durch die Sicherheit, die sie hier erfahren, und die Perspektiven, die wir bieten können, steigt auch die Resilienz.

«Integration ist ein Projekt, das mit Hochs und Tiefs verbunden ist.»

Eine weitere Perspektive ist die schnelle Öffnung des gesamten Arbeitsmarkts für die Flüchtlinge – eine Praxis, die es so bisher noch nicht gab. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?

Ich finde das sehr gut, auch wenn es zunächst nur für einen geringen Teil der Flüchtlinge funktionieren wird. Es wäre ­illusorisch zu glauben, dass alle direkt in den Arbeitsmarkt einsteigen könnten. Sie haben zwar Zugang zum Markt und das auch ohne Inländervorrang, aber sie brauchen nach wie vor eine Arbeitsbewilligung. Zudem muss man bedenken, dass ein grosser Teil der Flüchtlinge Mütter mit Kindern oder Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung sind. Da ist die Frage nach der Integration ins Arbeitsleben aktuell noch nicht prioritär.

Früher oder später werden aber auch ­Ukraine-Flüchtlinge Stellen im Kanton Schaffhausen finden. Wo sehen Sie hier Potenzial?

Wir schätzen, dass es bei den gut qualifizierten technischen Berufen wie im Ingenieurswesen oder in der Informatik Potenzial gibt. Eventuell auch im Gesundheitswesen. Aber ob sich unter den ­Geflüchteten besonders viele Fachkräfte in diesen Bereichen befinden, weiss man nicht. Aktuell wage ich es zu bezweifeln. Wenn die Flüchtlinge grundlegende Deutschkenntnisse erlangen, wird sich zeigen, wo sie angestellt werden können.

Wie steht es um die Voraussetzungen zum Erlernen der Sprache?

Die Ukraine verfügt über ein gutes Bildungssystem, das sich zwar von dem­jenigen der Schweiz unterscheidet, aber im Grundsatz sind die Voraussetzungen gut. Das macht die Integrationsarbeit einfacher als bei Flüchtlingen aus Ländern, die sich seit Jahren im Kriegszustand befinden. Ein besonders tragisches Beispiel ist Afghanistan: Seit Jahren sorgt die Situation in diesem Land dafür, dass viele junge Menschen nie eine Schulbildung geniessen konnten. Wenn sie flüchten, sind ihre Bildungsvoraussetzungen gänzlich andere und ihr Integrationsweg ist steiniger und anspruchsvoller.

Man bekommt den Eindruck, dass den Ukraine-Flüchtlingen wesentlich unbürokratischer geholfen wird, als es etwa bei anderen Flüchtlingsströmen der Fall ­gewesen ist. Warum ist das so?

Flüchtlinge aus anderen Ländern können das manchmal nur schwer verstehen. Sie befinden sich in einem strengen Korsett mit vielen Restriktionen, müssen diverse Verfahren durchlaufen und die ­Ukraine-Flüchtlinge werden quasi im ­bürokratiefreien Schnelldurchlauf unterstützt. Allerdings folgt das auch einer ­Logik: Bei einem solchen Kriegsfall soll die grösste Last auf den umliegenden Ländern liegen. Die Flucht in die nächste Nachbarschaft ist naheliegend. Die Reisefreiheit und der visumsfreie Zugang im Schengenraum erleichtert die Flucht zusätzlich. Das kann natürlich unfair wirken, muss aber im Gesamtkontext betrachtet werden: Die anderen Asylsuchenden befinden sich in einem stabilen Prozess mit einer klaren Struktur. Das muss für die Ukraine-Flüchtlinge erst noch etabliert werden.

Bei Spendensammlungen in Schaffhausen konnten schon manche Spenden nicht mehr angenommen werden, weil schon so viel gesammelt wurde. War die Hilfs­bereitschaft auch in der Vergangenheit so gross?

Dass die Bevölkerung in Flüchtlingskrisen mithilft, ist nicht neu. Bereits als Flüchtlinge aus Syrien kamen, haben wir eine enorme Hilfsbereitschaft erlebt. Schon damals konnten die Betroffenen in Privatunterkünfte untergebracht werden. Die Freiwilligenarbeit hat sich im Laufe der Zeit als wichtige Ressource erwiesen, auf die wir glücklicherweise auch heute noch zurückgreifen können. Allerdings ist das Mass an Hilfsbereitschaft aktuell wirklich besonders hoch. Dass es in der Gesellschaft eine so offene Haltung gegenüber den Flüchtlingen gibt, ist grossartig. Wir hoffen nun schwer, dass diese Hilfsbereitschaft nachhaltig anhält.

Durch die vereinfachte Einreise ist es wohl auch leichter, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen.

Wir beobachten allerdings auch, dass sich unter den Hilfsbereiten eine gewisse Ungeduld breitmachen kann. Zum Beispiel hat jemand Platz in seiner Wohnung und möchte dann, dass er sofort Flüchtlinge bei sich aufnehmen kann. Über die offiziellen Behörden geht das aber nicht so schnell, weil die Unterbringung sorgfältig geprüft wird. Das ist an der jetzigen Situation auch speziell: Durch die Reisefreiheit kann man sich sehr schnell organisieren und Leute bei sich aufnehmen. Das gab es so noch nie.

Spielt dabei auch die Vernetzung über soziale Medien eine Rolle?

Das vereinfacht die Flucht auch. Ein Syrien-Flüchtling hätte sich mit ­jemandem aus der Schweiz zwar auch virtuell vernetzen können, aber es wäre irrelevant gewesen, ob er eine Unterkunft bekommen hätte. Einerseits ist das Überqueren der Grenzen wesentlich schwieriger, auf der anderen Seite müsste er zwingend ins Bundesasylzentrum und einen Asylprozess durchlaufen. Schliesslich wird er von den Behörden einem Wohnort zugeteilt.

Unterscheidet sich die Integration in Schaffhausen von derjenigen in anderen Kantonen?

Strukturelle Unterschiede gibt es immer von Kanton zu Kanton. In Schaffhausen werden sämtliche Personen aus dem Asylbereich vom Kanton betreut. In Zürich hingegen ist es Sache der Gemeinden. Dann spielen aber auch die Gegebenheiten des Kantons selbst eine Rolle: In Schaffhausen hat man den Vorteil, dass man auch aus den ländlichen Gebieten die Stadt innert vernünftiger Zeit erreichen kann. Da kann man eine gute Angebotsqualität entwickeln, die gut zugänglich ist. In weiträumigen Kantonen mit mehreren Zentren ist es wieder etwas anders.

Zum Schluss: Angenommen eine Familie aus der Ukraine lernt Deutsch. Die Eltern finden Arbeitsstellen, die Kinder sind im Schulsystem angekommen. Wie viel ist für die Integration schon getan?

Diese Ausgangslage ist definitiv eine gute. Integration ist aber ein Projekt, das mit Hochs und Tiefs verbunden ist. Wenn alles allmählich aufgegleist ist, können schon die ersten Krisen kommen. Zum Beispiel hatte man früher im Heimatland einen besseren Lebensstandard, weil man einen besseren Job hatte. Das Erlernen einer Sprache hängt oft auch mit der Begabung dafür zusammen. Es gibt viele Herausforderung. Bis der Schritt in die Autonomie gelungen ist, steht ein anspruchsvoller Weg bevor.

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