Mehr als «Bloss e chlini Stadt»

In ihrer Kolumne «Kind und Kegel » schreibt Eva-Maria Brunner über Schaffhausen als Heimat – und inwiefern Landschaft die darin lebenden Menschen prägt.
Der Bus fährt langsam auf der kurvigen Strasse; rechts und links ist der Schnee zu hohen Mauern aufgetürmt. Ich schaue aus dem Fenster, geniesse das Panorama, das sich meinem Blick darbietet: weisse Schneefelder, Tannen, denen der Neuschnee der letzten Nacht Puderzuckerhüte aufgesetzt hat. Die Sonne schickt ihre ersten Strahlen über die schroffen Felswände, über eine raue Landschaft, die durch den Schnee plötzlich lieblich wirkt. Der Buschauffeur hat ein paar Sätze mit mir gewechselt, in diesem Berner Oberländer Dialekt, welcher erdig und singend zugleich tönt. Weil das Hirn in den Ferien Zeit hat, zweckfreie Dinge zu denken, finde ich mich mit der Frage beschäftigt, inwiefern eine Landschaft die darin lebenden Menschen prägt. Bestimmt sind zu diesem Thema schon Dissertationen oder Fotobände mit schlüssigen Antworten verfasst worden, dennoch spinne ich weiter vor mich hin. Sehen die Einheimischen die Schönheit dieser Gipfel noch? Staunen sie über das Farbspiel des Alpenglühens? Sehen sie malerische Weiden oder viel eher den Steilhang, der sich nur mit einem Aebi, Schweiss und Muskelkater mähen lässt? Geniessen sie es, als eigen zu gelten? Sind sie sie geerdeter als Stadtmenschen oder sind nicht nur die Täler, sondern auch die politischen Ansichten eng? Und befinde ich mich nun nicht schon knietief im Sumpf der Klischees? Sind dann alle Südländer unbeschwert und etwas nachlässig, weil ihnen die süssen Pfirsiche quasi von allein in den Mund wachsen? Alle Skandinavier unzugänglich wie ein Birkenwald und nur durch Mückenstiche aus der Ruhe zu bringen? Japaner organisiert wie ein gut gerechter Zen-Garten? Und was ist mit den armen Tröpfen entlang der A1? Nichtssagend wie eine Autobahnauffahrt?
Wie prägt denn ein Aufwachsen in Schaffhausen meine Kinder? Gibt es Einflüsse, die sich auf ihren Charakter oder ihre Art, dem Leben zu begegnen, auswirken? Denke ich an die Landschaft, welche ich als Heimat bezeichne, obwohl dieser Begriff so aufgeladen ist, dann tauchen Bilder einer Natur auf, welche ich als unspektakulär, aber von tiefem Frieden und Ausgewogenheit geprägt empfinde. Ausser dem Rheinfall besticht unsere Region nicht durch Superlative. Wir sind uns gewohnt, neben Viertausendern, Heidi-Idylle oder Seepromenaden mit Palmen übersehen zu werden. Schaffhauser stehen selten im Rampenlicht; da gleichen wir unserer Landschaft. Aber eine Runde im Eschheimertal, ein Blick von der Ruine Radegg, die Rapsfelder im Mai, das bunte Laub auf dem Zelgli, sogar der novemberliche Nebel über der Rheinhalde atmen für mich Ruhe und Gelassenheit. Hier fühle ich mich geborgen und habe doch Luft zum Atmen. Wenn Anton zu fragen beginnt, wann er wieder im Rhein schwimmen darf, oder wenn Paula den Fronwagplatz als zweites Wohnzimmer nutzt, dann weiss ich, dass es meinen Kindern ähnlich geht. Manchmal denke ich, es hätte mir gutgetan, ein paar Jahre in einer anderen Stadt zu wohnen. Das Leben hat es anders gewollt.
«Im Chläggi bin ich ein Stadtkind, in Zürich ein Landei.»
Die Kleinräumigkeit, die (irrige) Annahme, alles voneinander zu wissen, finde ich nicht immer gleich angenehm. Aber für das Aufwachsen meiner Kinder bedeutet genau diese Überschaubarkeit, die kurzen Wege, das Eingebettetsein in eine kleine Welt, viel Sicherheit und somit auch Freiheit. Anton lasse ich alleine mit seinem Bike in den nahen Wald, Pünktchen darf Strecken zurücklegen, welche ich ihr in Zürich oder Berlin sicher noch nicht zutrauen würde. Sie bewegen sich in einer Stadt, wo die Spuren der Vergangenheit auf Schritt und Tritt sichtbar sind, sie besuchen Schulen, wo die Vielfalt an Herkunftsländern normaler Alltag ist. Anton sagte letztens mit leisem Staunen: «Im Chläggi bin ich ein Stadtkind, in Zürich ein Landei.» In diesem Spannungsfeld wachsen unsere Kinder auf. Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen.