«Pfusch am Bau»? Was es mit den merkwürdigen Fahrspuren auf der Bahnhofstrasse auf sich hat

Während über einem Jahr wurde sie erneuert – Ende Monat wird die Schaffhauser Bahnhofstrasse offiziell eingeweiht: Doch woher rühren die seltsamen Reifenabdrücke, die an mehreren Stellen einige Meter schräg über die Fahrbahn führen?
Über ein Jahr lang herrschte vor dem Schaffhauser Bahnhof ein wahres Tohuwabohu: Fahrbahn und Trottoirs wurden auf-, alte Bushaltestellen gnadenlos abgerissen, neue wurden hingestellt. Busse zwängten sich neben tonnenschwerem Baugerät hindurch, während Fussgängerinnen und Fussgänger im Wochentakt durch neu abgesteckte Sicherheitskorridore gelotst wurden.
Ein erstes Zeichen, dass die mühsamen Bauarbeiten wohl bald zu einem Ende kommen, war der erneuerte Belag der Fahrbahn. In zwei Etappen wurde er im Frühling neu gemacht. Statt mit Asphalt wurde die Fahrbahn mit grossen, hellen Betonplatten mit gerilltem Profil abgedeckt.
Souvenir eines unvorsichtigen Baufahrers?
Doch kaum sind die Bauabsperrungen weg und die letzten Wartebänke mit frisch lackiertem Holz bestückt, springt etwas ins Auge: Auf dem hellen Belag tauchen an mehreren Stellen rund zehn Zentimeter breite Streifen auf. Bei genauerem Hinsehen: Reifenspuren, schräg von den Bushaltekanten zur Strassenmitte hinführend, drei bis vier Meter lang.
«Nein, nein, die Reifenspuren sind Absicht!»
Was ist das? Ist ein Bauarbeiter zum Beispiel mit einem kleinen Muldenkipper versehentlich auf den Belag gefahren, als der noch nicht trocken war – und dann schnell den Rückwärtsgang eingelegt, als er seinen Fehler bemerkte, weshalb die Fahrspuren abrupt enden? Oder dienen die Spuren den Buschauffeuren irgendwie zur Navigation? Etwa, indem sie andeuten, in welchem Winkel die Batteriebusse von der Kante wegfahren müssen, um das Heck an den neu höheren Einstiegskanten (Typ «Züri-Bord», 22 Zentimeter) nicht zu zerkratzen?
Das Geheimnis wird gelüftet
Die VBSH winken ab – mit den Stadtbussen, die wieder alle am früheren Standort ankommen und wegfahren, haben die Spuren nichts zu tun. Also Nachfrage bei der Stadt. Lachend nimmt Marius Andrioaei die Frage entgegen, ob Fahrzeuge versehentlich ihre Spuren auf dem Belag hinterlassen hätten. Er, der bei Tiefbau Schaffhausen federführend beim Aufwertungsprojekt ist, sagt: «Nein, nein, die Reifenspuren sind Absicht!»
Es handle sich um eine Art «Kunst am Bau», sagt der Ingenieur. «Diese Oberflächenbearbeitung mit den Karrenspuren kommt aus dem Gestaltungswettbewerb. Sie stellen eine feine Strukturierung des doch sehr flächigen Betonbelages dar.» Ein gestalterisches Detail, das sich allerdings von der Vergangenheit des Ortes habe inspirieren lassen, so der Ingenieur. «Die Spuren sind konzeptionell von einem historischen Bild hergeleitet, bei dem der Platz noch nicht asphaltiert – beziehungsweise betoniert – war, sondern als Kiesbelag ausgeführt war. Dadurch hat man die Spuren der Wagen gesehen.»
Pferdekutschen-Nostalgie
Die Reifenspuren sollen demnach eine Zeit von vor über 100 Jahren evozieren, wo noch handgezogene Wagen und Pferdefuhrwerke vor dem Schaffhauser Bahnhof verkehrten. «Die Neuinterpretation führt zu diesen Spuren, welche aber bewusst breiter in den Besenstrich gestockt wurden», sagt Andrioaei. So wirken die Spuren nicht als Imitate, sondern als abstrakte Nachempfindung. Dazu komme, dass man auf Schächte und Leitungsabdeckungen im Strassenbelag Rücksicht nehmen musste. «Die Geometrie und Anzahl hat sich dann an diesen Fixpunkten vorbei orientiert», sagt Androaei.
«Die Spuren sind konzeptionell von einem historischen Bild hergeleitet, als der Platz ein Kiesbelag war.»
Dass die Strasse nicht nur Pflanztröge und Betonhäuschen, sondern auch eine Portion «Boden-Kunst» bekommt, hat vorher niemand gross kommuniziert. 2022 stimmten die Stimmberechtigten der Aufwertung mit 60 Prozent Ja-Anteil zu.
Betreten ausdrücklich erlaubt!
Wie der Platz aussehen würde, war da in Visualisierungen übrigens bereits recht genau bekannt – aber wer hat da schon auf kleine Streifen im Beton geachtet? Fünf Teams wurden in einem Wettbewerbsverfahren eingeladen, ein Projekt auszuarbeiten. Das 2019 ausgewählte Siegerprojekt stammte vom Ingenieurbüro Wüst Rellstab Schmid AG aus Schaffhausen. Das «Architekten Kollektiv» aus Winterthur zeichnet für die architektonische Ausgestaltung verantwortlich – und damit auch für die «Spuren-Kunst» am Boden: Betreten ausdrücklich erlaubt – und drüberfahren sowieso!
Die Erneuerung der Schaffhauser Bahnhofstrasse hat Investitionskosten von brutto 6,47 Millionen Franken verursacht, wobei der Bund und der Kanton im Rahmen des Agglomerationsprogramms kräftig mitgezahlt haben. Bei der Stadt verblieben Nettokosten von maximal 2,26 Millionen Franken.
Mit einem Fest für die Bevölkerung wird die neue Bahnhofstrasse am 30. August 2025 offiziell eingeweiht. Mit zwei Bühnen und einer Festmeile wird von 10 bis 16 Uhr an der Bahnhof- und Schwertstrasse sowie auf dem Fronwagplatz gefeiert.