Können Flugangstseminare die Angst vor dem Fliegen wirklich heilen?
Für unseren Autor gab es nichts Schlimmeres als das Fliegen. Dann entschied er sich für ein Flugangstseminar. Wie geht es ihm danach?
Wann hatten Sie das letzte Mal richtig Angst? Ich kann mich an meine genau erinnern. Es war im Jahr 2012. Ich sass in einem Flieger nach Mallorca, die Triebwerke heulten auf und wir starteten. Ich habe nie wieder in meinem Leben solche Gefühle gespürt. Ich hätte geschrien, wäre ich nicht so damit beschäftigt gewesen, meine Finger in die Sitzlehne zu krallen und meine Tränen zurückzuhalten. Mein gesamter Körper zitterte, meine Hände bebten und in meinem Kopf kreischte eine Stimme, die mir sagte, dass das mein Ende bedeuten würde. Müssig zu erwähnen, dass das mein letzter Flug für 11 Jahre war.
Elf Jahre später stehe ich vor einem Gebäude in der Cherstrasse 1 in Opfikon, Kanton Zürich. Dieses kann man nicht gerade als schön bezeichnen. Graue Fenster, graue Wände, graue Türen. Einzig die Aufschrift an der Seite ist farbig: Lufthansa Aviation Training Center steht dort in blauen Lettern. Wer dort hineingeht, fühlt sich zwangsläufig an die Luftfahrt erinnert. Sicherheitsschleusen, Monitore, die einzelnen Seminare auflisten wie auf einer Abflugtafel und ein Boden, der am ehesten denen in Flugzeugen gleicht.
An einem regnerischen Samstag sitzen nun 12 Leute dort in der Cherstrasse 1 im Eingangsbereich und schauen nervös in Richtung der Aufzüge. Einer davon bin ich. Wir haben uns hier eingefunden, um an einem Flugangstseminar teilzunehmen. Jetzt sitzen wir hier in einem Gebäude, welches laut Architekt vom Aufbau her einem Flugzeug ähneln soll. Nicht gerade förderlich, wenn Fliegen Angst macht.
Volkskrankheit
Flugangst begleitet viele Menschen. Laut diversen Statistiken haben fast ein Viertel aller Schweizerinnen und Schweizer Angst vor dem Fliegen, rechnet man die Personen mit hinein, die sich nicht wohl fühlen wird daraus sogar ein Drittel. Dem gegenüber stehen knapp 40 Prozent, die keine Angst vor der Fliegerei haben.
Die Angst kann dabei plötzlich kommen, sie kann lähmen, sie kann einem den Boden unter den Füssen wegziehen, bis zu einer blanken Panik. Angst dient als Schutzmechanismus des Körpers: Wenn wir Angst haben, bereiten wir uns Innerlich auf eine Gefahr vor. Der Herzschlag wird schneller, die Augen weiter, Adrenalin flutet den Körper – wir sind bereit für entweder Flucht oder Kampf, wie unsere Vorfahren, wenn sie in der Steinzeit einem Raubtier gegenüberstanden und nur einen Holzstock zur Verteidigung hatten.
Für uns, die wir in diesem Seminar sind, ist das Raubtier eine mehrere Tonnen schwere Stahlröhre, in die wir uns am zweiten Tag reinsetzen müssen und dann fliegen werden – eine Horrorvorstellung für uns alle.
Pünktlich um 8.45 Uhr geht es los. Eine Flugbegleiterin, ein Linienpilot und eine Psychologin nehmen uns in Empfang. Unsere Flugbegleiterin hat 35 Jahre Erfahrung auf dem Buckel, der Pilot fast 20 und die Psychologin hat über das Thema Flugangst promoviert.
1200 Franken kostet das Seminar und beinhaltet auch einen Flug innerhalb Europas. Für die meisten Teilnehmer eine Horrorvorstellung. Es tut gut zu merken, dass man nicht alleine ist mit der Angst. «Ich habe gestern nicht schlafen können, weil ich wusste, dass ich übermorgen fliegen muss», gesteht mir eine Teilnehmerin im Gespräch. Ein anderer, der das überhört hat, wirft sofort ein: «Ich habe die ganze Woche nicht schlafen können deswegen!» Man ist nicht alleine mit seinen Sorgen. Wenn hier jemand sagt, er habe Angst vor dem Fliegen, kommt kein «aber das ist doch das coolste auf der Welt», oder verständnislose Blicke. Selbst die irrationalste Furcht wird hier ernst genommen, weil fast jeder sie teilt oder sie ihm bekannt vorkommt.
Während des Seminars wird uns das Thema «Angst» erklärt, wir hören Statistiken, wir bekommen Einblicke in Aviatik und Physik, warum ein Flugzeug fliegt, warum es praktisch nicht abstürzen kann und wieso wir sicher sind. Bei den meisten verfängt das gefühlt nicht unbedingt, ich bin zumindest einer. Angst ist nicht unbedingt rational. Ich weiss, dass es wahrscheinlicher ist, dass ich am Morgen aus dem Bett falle und mir den Hals breche, als dass ich mit einem Flugzeug abstürze – trotzdem ist die Angst da, bei jedem einzelnen von uns Teilnehmern.
Die psychologischen Themen übernimmt unsere Psychologin, die Themen rund ums Flugzeug teilen sich der Linienpilot und die Flugbegleiterin. Sie sind ruhig und erfahren, wissen, wie sie mit uns umgehen können und sollen.
Unser Pilot kennt das Fliegen, ordnet die Ängste rund ums Flugzeug ein, erklärt uns, was wir erwarten können, was Turbulenzen sind und warum diese kein Grund zur Beunruhigung sind. Er vergleicht es mit einem Boot im Meer. Wenn auf dem Wasser höhere Wellen sind, dann tanzt das Boot eher Unruhig auf und ab, aber es wird nicht kentern. Gleich ist es bei einem Flugzeug: Verändern sich die Strömungsverhältnisse, geht es mal rauf, runter, links, rechts – aber wir bleiben in der Luft, denn diese, die unter den Flügeln des Fliegers für Auftrieb sorgt, bleibt auch bei Turbulenzen genauso vorhanden. Eigentlich beruhigend.
Im Bauch des «Feindes»
Dann wird am «Objekt» geübt. Wir dürfen ein Flugzeug besichtigen, welches später nach New York fliegen wird. Unser Pilot geht mit uns einmal um den Flieger, zeigt uns alle Geräte, erklärt uns, wie die Reifen eines Flugzeugs funktionieren, warum diese praktisch unzerstörbar sind – jede Angst, die irgendwie aufkommt kann er entkräften. Im Flieger erklärt uns dann unsere Flugbegleiterin, was für Gerätschaften an Bord sind und vor allem, was diese seltsamen Klingeltöne bedeuten, die jeder sicher bereits in seinem Leben in einem Flieger gehört hatte. Die Angst ist wieder da, bei einigen von uns. Alleine in einem Flugzeug zu sein, auch wenn es sich nicht bewegt, ist anstrengend.
Zum Glück gehören auch ein paar Entspannungsübungen zum Seminar. Unsere Psychologin lässt uns auf den Sitzen Platz nehmen, wir machen Atemübungen, progressive Muskelentspannung – irgendwann ist die Nervosität wirklich weg und einige von uns sind das erste Mal seit Jahren ohne Angst in einem Flieger.
Mit einem letzten Briefing endet der Tag dann. Eine kurze Befragung bei den anderen Kursteilnehmern bestätigt mir auch mein Gefühl: Man hat viel gehört, aber ob man jetzt am nächsten Tag in den Flieger steigt, ist noch nicht sicher.
Sturmwarnung am Abflugtag
Da folgt nämlich die Ernüchterung: Ein heftiger Sturm peitscht über das Land. Als ich aus meinem Fenster schaue, biegen sich die Bäume, Blätter werden abgerissen, der Wind peitscht mit unglaublicher Geschwindigkeit über das Land. Und heute soll ich fliegen. In diesem Moment ist die Vorstellung so weit weg, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass ich das mache.
Unsere Psychologin beruhigt uns alle am Morgen, als wir im Stuhlkreis im Seminarraum sitzen, erinnert uns an das, was wir bisher gelernt haben. Wir machen fast eine Stunde Entspannungsübungen, dann brechen wir zum Flughafen auf. Durch die Sicherheitsschleuse, durch den Duty-Free-Bereich, bis zu unserem Gate.
In dieser Zeit passiert etwas Seltsames bei einigen von uns: Die Angst ist irgendwie nicht mehr da. Ich frage mich bei den anderen durch und alle sagen: «Ja, ich glaube, ich versuche es.» Das macht auch mir Mut. Einige Seminarteilnehmer haben jedoch noch immer Probleme, sind unsicher, auch wegen dem Wetter. Als dann gegen 12 Uhr das Boarding beginnt, stehen wir alle vor dem Gate. Unsere Psychologin fragt jeden, wie es ihm oder ihr geht. Nur einer sagt, dass er unsicher ist, aber auch er kommt mit.
Also gehen wir in den Flieger. Es ist ein kleines, aber modernes Flugzeug, welches uns in einer Stunde nach Brüssel bringen soll. Der Innenraum ist hell, die Sitze modern und nicht abgewetzt. Laut unserer Flugbegleiterin ist es erst seit knapp zwei Jahren in Betrieb.
Was mich überrascht: Ich fühle mich nicht nervös. Ich höre die Erklärungen unseres Piloten und unserer Flugbegleiterin, erinnere mich an die Entspannungsübungen unserer Psychologin und nehme auf meinem Sitz Platz.
Eine Methode, die man uns beigebracht hat ist der sogenannte «Gedankenstopp». Wenn negative Gefühle kommen, sollen wir einen Gummi am Arm schnalzen lassen. Das mache ich am Anfang so oft, dass mein Handgelenk irgendwann knallrot ist. Dann heisst es aus den Lautsprechern «Cabin Crew, Ready for Takeoff». Das ist das Zeichen für die Crew, dass sie sich jetzt auch anschnallen müssen.
Schwerer Start, harte Landung
Und es geht los.
Man spürt den Wind, der an den Flieger kracht, und ihn durchgeschüttelt wie ein Kleidungsstück in einer Waschmaschine. Früher hätte ich hier Panik bekommen, jetzt höre ich die Worte unseres Piloten, der uns sagte, dass das völlig normal sei und wir keine Angst haben müssen. Stärkerer Wellengang, aber nichts, was gefährlich ist. Wir steigen immer weiter, das Flugzeug scheint ein paar Mal abzusacken, aber auch das stört mich nicht. Manche Teilnehmer meines Seminars weinen, haben Angst, andere schauen fasziniert aus dem Fenster, wie die Welt unter uns immer kleiner wird. Ich fokussiere mich auf eine Zeitschrift in meinem Schoss und bete die Worte unseres Piloten aus dem Seminar rauf und runter wie eine Schutzformel.
Dann sind wir auf der Reiseflughöhe. Die Turbulenzen sind weg, unsere Flugbegleiterin und Psychologin gehen die Reihen durch, schauen nach ihren «Schäfchen», beruhigen und ordnen ein, wenn es nötig ist. «Nein, das Knacken ist normal, das sind die Räder, die gerade eingefahren wurden». «Das Brausen sind die Turbinen, es ist normal, dass das so laut ist».
Der Flug nach Brüssel ist kurz, die Landung hart, aber auch das hat uns unser Pilot gesagt: «Eine harte Landung ist eine gute Landung, denn dann sind wir direkt unten».
Als wir die Gangway entlang zum Terminal gehen, sind wir erstmal alle stolz. Wir haben es geschafft, wir sind geflogen. Manche umarmen sich, manche klatschen ab. Das Wissen, dass wir in nicht mal dreissig Minuten schon wieder in der Luft sind, stört die wenigsten.
In Brüssel rennen wir alle in die Läden, die überall verteilt sind. Viele haben ihren Liebsten belgische Schokolade oder andere schöne Stücke aus Brüssel versprochen, ich schnappe mir einem Magneten als Erinnerungsstück.
Wir haben es geschafft!
Dann geht es auch wieder zurück. Die Turbulenzen sind auch hier wieder so stark wie zuvor. Unsere Psychologin hat sich dieses Mal extra zu denen gesetzt, die beim Hinflug Probleme hatten, jetzt beruhigt sie direkt während dem Start – dieses Mal weint keiner, nein, die meisten schauen aus dem Fenster, versuchen möglichst viel davon einzusaugen. Die Angst, die wir davor hatten – bei fast allen scheint sie verschwunden zu sein und einer Faszination gewichen zu sein, der sich kaum einer entziehen kann.
Eine Stunde später setzen wir in Zürich auf. Wir sind euphorisch, glücklich, stolz und voller Freude, dass wir uns unserer Angst gestellt haben. Eine Mitteilnehmerin fällt mir um den Hals und ruft mir euphorisch ins Ohr: «Ralph, wir haben es geschafft». Es ist nicht der Ausruf von jemandem, der dem Tod von der Schippe gesprungen ist, sondern von jemandem, der eine Leistung vollbracht hat, auf die man stolz sein kann.
Zurück im Seminarraum stossen wir mit Sekt an. Wir sind stolz auf uns, auch wenn drei Mitglieder unsere Gruppe sagen, dass sie weiterhin Angst haben. Das ist nicht überraschend: Auf der Webseite des Seminars wird darauf hingewiesen, dass ungefähr 80 – 90 Prozent der Teilnehmer Erfolg haben. Die anderen 11 von uns sind einfach nur euphorisch. Wir haben uns unseren Ängsten gestellt, sind zweimal geflogen und haben unsere Furcht hinter uns gelassen.
Direkt am nächsten Tag bin ich auf der Webseite der Swiss. Unsere Psychologin hat uns geraten, weiterhin zu fliegen, damit die Angst nicht zurückkommt. Jetzt gilt es für mich, die nächsten Destinationen zu finden. Der Flug dorthin macht mir jetzt ja keine Angst mehr.