«Der Luchs gehört zur Schweiz»

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Obwohl er ein Grossraubtier ist, wird wegen des hier lebenden Luchses heute und anders als früher kaum mehr ­gestritten. Dies im Gegensatz zum Wolf und auch zum Bären. Gemäss Reinhard Schnidrig vom Bundesamt für ­Umwelt mag das auch daran liegen, dass der Mensch den Luchs kaum je zu sehen bekommt.

INTERVIEW RICHARD CLAVADETSCHER

Reinhard Schnidrig, wie hoch schätzt das Bundesamt für Umwelt die Zahl der heute in der Schweiz lebenden Luchse?

Reinhard Schnidrig: Auf das Tier genau wissen wir das nicht, aber es dürften zwischen 160 und 170 älter als einjährige Luchse sein.

Wie kommt man auf diese Zahl?

Schnidrig: Wir machen in der Schweiz ein systematisches Fotofallen-Monitoring in Referenzgebieten. Man stellt dabei in einem abgegrenzten Raum diese Apparaturen während 60 Tagen auf. Da das Fell des Luchses ein sehr individuelles Punktemuster hat, kann man sie gut aus­einanderhalten. Wenn im Referenz­gebiet nach einer ge­wissen Zeit keine neuen Tiere mehr fotografiert werden, kann man mit verschiedenen statistischen Analysen die Bestandsdichte bestimmen und diese dann auf die Population hochrechnen.

Und wie sieht die regionale Verteilung aus?

Schnidrig: Wir haben in der Schweiz zwei Populationen, zwischen 60 und 70 Tiere leben in der Jurapopulation, die sich nach Frankreich hin fortsetzt. 90 bis 100 Tiere leben in den Voralpen und Alpen.

Es gibt dauernd Klagen über den Wolf, etwas weniger über den Bären, aber kaum je über den Luchs. Täuschen wir uns – oder erleben Sie das auch so?

Schnidrig: Das erlebe ich klar auch so. Die Debatte um den Wolf und vielleicht auch jene über den Bären haben das Thema Luchs verdrängt. In den Achtzigerjahren hingegen gab es in verschiedenen Regionen noch Diskussionen um den Luchs. So zum Beispiel im Oberwallis, im Turtmanntal, wo zu jener Zeit eine Studie in Arbeit war. Bereits in den Siebzigerjahren gab es sie auch in der Zentralschweiz, als dort Luchse ausgesetzt worden sind. Dann über­lagerte die politische Debatte um den Wolf die Luchs-Diskussion – und schliesslich kam der Bär.

Dann war da noch das Luno-Projekt in der Ostschweiz um die Jahrtausendwende.

Schnidrig: Genau. Vor rund anderthalb Jahrzehnten kam auch in der Nordostschweiz der Luchs nochmals ins Gespräch, als der St. Galler Kantonsrat sich entschied, im Rahmen des Projekts Luchsumsiedlung Nordostschweiz Luno Luchse rund um den Säntis anzusiedeln. Diese Diskussionen liefen dann parallel zur Rückkehr des Wolfes. Aber heute, so habe ich den Eindruck, ist die Luchs-Diskussion auch dort zur Ruhe gekommen …

Woran liegt denn die mindestens stillschweigende Akzeptanz Ihrer Meinung nach? Etwa daran, dass der Luchs nicht in Rudeln lebt und scheu ist, also dem Menschen kaum je begegnet?

Schnidrig: Ich würde den Luchs nicht als scheu, sondern eher als heimlich lebend bezeichnen. Man sieht ihn kaum je. Ein Luchs kann durchaus am Tag auf einem Baumstrunk am Waldrand sitzen und die Umgebung beobachten – vielleicht sogar die Leute, die sich dort aufhalten. Aber man sieht ihn nicht aufgrund seiner perfekten Tarnung durch das Fell. Kommt dazu, dass Luchse vorab in der Dämmerung und in der Nacht auf die Jagd gehen und den Tag über ruhen, sie also kaum mit Menschen in Kontakt kommen.

Was ist denn die Meinung des Bundesamts für Umwelt: Gehört der Luchs in die heutige Schweiz?

Schnidrig: Ja, der Luchs ist eine einheimische Tierart, die hier Lebensrecht hat und Lebensraum findet – heute sogar besseren Lebensraum als früher. Denn früher waren die Wälder übernutzt durch die Haustiere, die man dort zur Nahrungssuche hineintrieb. Heute haben wir mehr und gesünderen Wald als damals. Auch Beutetiere sind dort heute in ausreichendem Mass vor­handen. Ausgerottet wurde der Luchs durch Menschenhand. Es war eine Zeit, in der man Tiere nach Nützling und Schädling unterteilte. Und der Luchs gehörte früher leider zu Letzteren.

Ist die Wiederansiedlung des Luchses denn überhaupt mehr als eine zeit­geistige Forderung? Nach der Ausrottung von Luchs sowie Wolf und Bär ist ja das Ökosystem nicht aus dem Gleichgewicht geraten.

Schnidrig: Ich meine, wir dürfen nicht auf den Zeitgeist abstellen, wenn es um die Beurteilung dessen geht, was in der Natur Platz hat oder nicht. Leben hat einen Eigenwert. Es gibt den Luchs – und er ist eine einheimische Tierart. Dies allein gibt ihm Lebensrecht. So will es auch das Gesetz: Es will, dass wir die einheimische Flora und Fauna schützen. Was übrigens das Funktionieren eines Ökosystems betrifft, erlauben Sie mir den Vergleich mit einem Flugzeug: Man kann bei einem Flugzeug eine Schraube entfernen, auch zwei – und es fliegt immer noch. Beliebig viele Schrauben sollte man indes nicht entfernen, denn sonst stürzt es irgendwann plötzlich ab. Dasselbe gilt sinngemäss für das Ökosystem.

Was ist denn der Nutzen des Luchses?

Schnidrig: Luchs wie Wolf, beide haben eine wichtige Rolle als sogenannte Spitzenprädatoren. Man sieht dies in Regionen ohne Grossraubtiere: Dort wachsen die Bestände von deren Beutetieren – Reh, Gämse, Rothirsch – in einem Umfang, dass sie schädliche Auswirkungen auf den Lebensraum, in diesem Fall den Wald, haben, etwa durch übermässigen Verbiss an der Waldverjüngung.

Was sagen Sie all jenen, die finden, für Grossraubtiere, also auch den Luchs, habe es in einer Schweiz mit acht Millionen Menschen nicht mehr wirklich Platz?

Schnidrig: Natürlich teilen die Grossraubtiere ihren Lebensraum mit jenem des Menschen. Aber sie können mit der Kulturlandschaft, wie sie der Mensch prägt, sehr gut umgehen. Sonst würden sie ja gar nicht einwandern. Wenn man zudem schaut, wo die von Ihnen erwähnten acht Millionen Menschen leben, dann ist dies zunehmend zwischen Genf und St. Gallen, also im Mittelland. Gleichzeitig entleeren sich gewisse Regionen und Seitentäler in den Alpen und im Jura. Dort entsteht dann wieder Lebensraum für die Grossraubtiere und ­deren Beute. Insofern läuft die Zeit eigentlich für diese Tiere – nicht gegen sie.

Nun lebt der Luchs ja von Beute. Das ist – abgesehen von Ausnahmen – vorab Wild. Damit kommt er vielleicht weniger den Bauern, wohl aber den ­Jägern in die Quere. Gibt es Klagen aus diesen Kreisen?

Schnidrig: Ja, die gibt es. Mit dem wachsenden Luchsbestand etwa im Jura und den nördlichen Voralpen nehmen diese Klagen zu wegen der Auswirkungen auf die Bestände von Reh und Waldgämse. Dies wiederum führt zu Diskussionen politischer Art. So gibt es in der Region Freiburg-Waadt, dem Waadtländer Jura, aber auch Solothurn, in Uri, in Obwalden und bereits in der Ostschweiz die Forderung, dass man nicht nur etwa Rehe und Hirsche regulieren darf, sondern auch den Luchs. Dies auf ein Niveau, dass daneben auch dessen Beutetiere noch in einer jagdlich nutzbaren Menge vorhanden sind.

Und wie begegnet das Bundesamt für Umwelt diesen Forderungen?

Schnidrig: Im Zusammenhang mit der Rückkehr des Wolfes gab es ja im eidgenössischen Parlament eine lang andauernde Diskussion, die in den Auftrag mündete, den sich bildenden Wolfsbestand regulierbar zu machen. Unterdessen ist die Revision des eid­genössischen Jagdgesetzes unterwegs; die Vernehmlassung ist bereits abgeschlossen, die Auswertung steht an. Darin enthalten ist auch der Vorschlag, mit gewissen geschützten Tieren wie etwa Wolf, Steinbock, aber auch Luchs und in Zukunft vielleicht einmal auch dem Biber pragmatischer umzugehen – insofern, als deren gesicherte Bestände mit behördlicher Zustimmung regulierbar sein könnten. Entscheiden wird darüber am Schluss die Politik, das Bundesparlament.

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