Warum vor dem Jodeln «blööterle» angesagt ist

Till Burgherr (tbu) | 
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«Blos ä chliini Stadt» – was viele als Schaffhauser Hymne kennen, proben die Rhyfalljodler als vielstimmige Neuinterpretation. Während das Jodeln in grösseren Städten an Beliebtheit gewinnt, kämpft man in Neuhausen mit Nachwuchssorgen. Doch der Wille, der Tradition frischen Klang zu verleihen, bleibt – und ein grosser Auftritt steht bevor.

Mit festem Händedruck wird der Redaktor begrüsst – hier ist man per Du. Rund 18 Sängerinnen und Sänger zählen zum Jodlerclub vom Rheinfall, der sich jeweils am Mittwochabend in Neuhausen zur Probe trifft. Neue Gesichter sind willkommen, ganz gleich, ob Neumitglied oder Journalist. «Am besten, du stellst dich einfach zu uns in die Reihe und singst mit», sagt Präsident Georg Salzgeber mit einem Schmunzeln. Ein breit gebauter Mann mit markantem Schnauzer und tiefer Stimme.

Stimmbänder-Wellness mit Strohhalm

Zu Beginn der Probe wird bei den Rhyfall-Jodlern nicht gesungen, sondern geblubbert. «Das hilft, die Stimmbänder aufzuwärmen», erklärt Präsident Georg Salzgeber, während er selbst in einen Strohhalm in einer Wasserflasche bläst. Die Übung gehört zum festen Ritual des Vereins.

Salzgeber stammt ursprünglich aus Parpan, einem kleinen Dorf neben dem bekannten Wintersportort Lenzerheide. In Neuhausen ist er mit seiner Familie heimisch geworden – und musikalisch ist fast die ganze Familie dabei: Sohn Stefan blubbert in verschiedenen Tonarten in eine Maske mit Schlauchsystem, sein Bruder Peter tut es ihm gleich. Auch Schwester Marlies Spiess ist Teil des Jodeltrios des Clubs.

Seit rund einem Jahr verstärkt Nathalie Keller aus Siblingen die Gruppe – aus dem Trio ist ein Quartett geworden. Ganz ohne Einsatz geht das jedoch nicht: Der typische Jodelklang entsteht durch den raschen Wechsel zwischen Brust- und Kopfstimme, den sogenannten Kehlkopfschlag. Diese Technik erfordert Atemkontrolle, Körpergefühl – und viel Übung. Jodeleinlagen sind meist solistisch, eingebettet in den vielstimmigen Chorgesang.

So findet man den Takt

Vater Salzgeber singt im Chor mit den andern Mitgliedern, da reiht sich auch der Gast ein, und zwar beim zweiten Tenor neben Franz Baumann und Karl-Heinz Früh. Letzterer ist das dienstälteste Mitglied der Rhyfall-Jodler. Er trat bereits 1965 bei, war dann allerdings einige Zeit abwesend, weil er bei der Schweizergarde diente. Auch Franz Baumann ist ein alter Hase, der ehemalige Gemeinderat von Neuhausen singt seit 1990 mit. «Das klingt bereits gut», sagt er. Später wird der Gast aber etwas mehr Mühe bekunden, die Stimme zu halten. Für die Höchstleistung über rund zwei Stunden, so lange dauert jeweils eine Probe, sind die Stimmbänder zu sehr eingerostet.

Dirigent Geri Zumbrunn gibt den Takt vor. «Ihr schleppt – das muss schneller werden», ruft er in Richtung der Jodlerinnen und Jodler. Dann nimmt er sich jede Stimme einzeln vor: Tenor, Bass, zweiter Tenor – mit Geduld wird geübt und gefeilt, bis die musikalischen Zahnräder ineinandergreifen. Zumbrunn, ein professioneller Pianist aus Winterthur, leitet die Probe mit geschultem Ohr und feinem Gespür für Klangbalance. «Für mich ist es ein wunderschönes Gefühl, wenn es plötzlich harmoniert», sagt er.

Geri Zumbrunn gibt bei der Probe den Takt an. Bild: Gloria Müller

Und tatsächlich: Der Moment kommt. Die Stimmen fügen sich perfekt zusammen, der Dirigent lächelt zufrieden – als würde er den Klang in sich aufnehmen. Doch kaum ist die Harmonie da, zerfällt sie wieder. Die Arbeit beginnt von vorn.

Es ist ein konzentriertes Ringen um Präzision. Sitzt der Text nicht, wird er vor dem Singen rhythmisch gesprochen. «Wir brauchen das – wir alten Knochen bringen das sonst nicht mehr in den Kopf», sagt Baumann, 80-jährig, mit einem Augenzwinkern.

Die Jodlerinnen und Jodler führen ihre Stimmen virtuos durch die Höhen und Tiefen der Tonleiter. Mal treten sie solistisch hervor, dann wieder lässt der Chor das Klangbild dominieren. Die Lieder bleiben traditionsverbunden: Besungen werden Alphörner, «Bärg-Erinnerige» und weitere Stücke, die in der Region Heimatgefühle wecken.

Nachwuchs gesucht

Dann erklingen vielstimmig die Zeilen: «Blos ä chliini, blos ä chiini, blos ä chliini Stadt» – mitten im Pfarreizentrum, wo die Probe stattfindet. Die Rhyfall-Jodler wagen sich damit an eine Neuinterpretation des Klassikers von Dieter Wiesmann – ein mutiger Schritt, gilt das Lied doch als inoffizielle Hymne in Schaffhausen. Der Verein ist traditionsbewusst, will aber auch dank solcher kreativen Elemente neue Gesichter anlocken.

Derzeit bereitet sich der Club auf das Jodlerfest vom 4. bis 6. Juli in Altstätten vor – und sucht Nachwuchs. Dies, obwohl das Jodeln national wieder an Beliebtheit gewinnt. Was lange als verstaubte Folklore galt, erlebt eine Renaissance. Besonders in Städten wie Zürich entdecken immer mehr Menschen die alte Gesangstradition neu, etwa in Kursen wie «Jodeln im Chreis Cheib» oder bei der Migros-Klubschule.

Doch der Aufschwung beschränkt sich nicht auf urbane Räume. Auch auf dem Land gewinnt das Jodeln an neuer Kraft. Karin Niederberger-Schwitter, Präsidentin des Eidgenössischen Jodlerverbands, bestätigt: «Vor allem Jüngere entdecken die Tradition wieder für sich.» Der Verband zählt rund 650 Vereine mit 16’000 aktiven Mitgliedern – auch wenn die Altersstruktur noch immer eher hoch ist.

Dank des frischen Winds aus der jüngeren Generation konnten die Mitgliederzahlen zuletzt stabil gehalten werden, sagt Niederberger-Schwitter. Doch die Entwicklung verläuft regional unterschiedlich. «In manchen Gegenden fehlt weiterhin der Nachwuchs.» Eine Hürde sei die regelmässige Verpflichtung: «Viele Junge wollen sich nicht binden.»

Geselliger Ausklang

Nach einer intensiven Probe gönnt man sich gleich neben dem Proberaum eine Erfrischung – bezahlt wird ganz traditionell in bar. In der geselligen Runde wird auch über das Jodeln geplaudert: Dass der Rheinfall zwar eine eindrucksvolle Kulisse bietet, aber klanglich zur Herausforderung wird – sein Donnern verschluckt Klänge. Wer wissen will, woher das Jodeln wirklich stammt, bekommt beim Bier auch diese Version zu hören: Zwei japanische Touristen seien einst mit einem Transistorradio in den Bergen unterwegs gewesen. Als es in einen Tobel stürzte, soll der eine gerufen haben: «Hol i Ladio – hol du Ladio?» Sennen, die das gehört hätten, hätten den Klang übernommen – und so sei das Jodeln in die Welt gekommen, bis zum grössten Wasserfall in Europa. Natürlich ist das nicht ganz die offizielle Version.

Tatsächlich ist die Herkunft weniger spektakulär. Das Jodeln entwickelte sich über Jahrhunderte in verschiedenen Alpenregionen als Verständigungsruf über weite Distanzen. Besonders gepflegt wird die Tradition bis heute im Appenzell, im Toggenburg, im Berner Oberland und in der Zentralschweiz – mal als wortloser Naturjodel, mal als Jodellied mit Text. Auch die Salzgebers erinnern sich, wie in Graubünden der Gesang vom Berg ins Tal hallte. «Jodeln ist für mich Heimat», sagt der Präsident. Das gilt auch für die Neuhauser in der Gruppe: Der Rheinfallfelsen ist zwar nicht so hoch wie etwa das Stätzerhorn, aber die Klänge der Rhyfalljodler hört man immerhin schon seit 1918 – damals wurde der Verein gegründet.

Der Abend endet schliesslich, wie er begonnen hat, mit einem kräftigen Händedruck.

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