«Ross und Reiter beim Namen nennen»

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In der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 liess Angela Merkel Tausende Migranten unkontrolliert nach Deutschland einreisen. Ihnen folgten Hunderttausende nach. Oliver Schmitt, Schweizer Osteuropa-Historiker an der Universität Wien, erläutert im Interview die Hintergründe dieses historischen Entscheides.

VON ZOLTAN TAMASSY

Herr Schmitt, wo waren Sie am 4. und 5. September 2015?

Oliver Schmitt: Ich war gerade von einem längeren Rumänienaufenthalt nach Wien zurückgekehrt. Dort, in Rumänien, hatte ich die damaligen Vorkommnisse und auch die Reaktionen in Mitteleuropa mitverfolgt.

Auch in Wien konnten Sie sich dem Geschehen kaum entziehen.

Schmitt: Ich wohne im Zentrum von Wien, unweit des Bahnhofs, der ein Brennpunkt dieser ganzen Krise war. Daher hatte ich die ganze Sache auch persönlich miterlebt. Ausserdem fiel mir sofort die sehr unterschiedliche Wahrnehmung der Ereignisse auf. Ich hatte den Eindruck, dass in Deutschland und Österreich das Meinungsspektrum in den Medien sehr verengt war. Und dies stand in einem scharfen Kontrast zu dem, wie die Ereignisse in anderen Teilen Europas wahrgenommen wurden.

Ist aus heutiger Sicht schon hinreichend geklärt, was an diesen zwei Tagen genau passierte?

Schmitt: In Bezug auf die genauen Abläufe geht es mir so wie allen anderen Bürgern auch. Ich muss mir aus möglichst vielen Medienberichten ein Bild gestalten. Das bisher grösste deutschsprachige Dossier zu den Ereignissen vor einem Jahr wurde vor Kurzem von der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» veröffentlicht. Obwohl die Journalisten auch in Ungarn recherchiert haben, merkt man den Texten an, dass sie die Meinung der deutschen Regierung wiedergeben. Und diese versucht offensichtlich, die Verantwortung in dieser Krise auf andere abzuwälzen. Die Quintessenz des «Zeit»-Dossiers ist, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban der Hauptverantwortliche für die kritische Phase vor einem Jahr ist. Man kann dies als Versuch der deutschen Regierung werten, ein Jahr danach die Deutungshoheit, die ihr inzwischen entglitten ist, zurückzuerlangen. Kein Wunder: Es stehen wichtige Landtagswahlen an. Das heisst, es ist im Moment sehr schwierig, eine reine Faktenrekonstruktion durchzuführen, denn es geht bei diesem Thema sehr stark um weltanschauliche Deutungen.

Haben die deutschen und österreichischen Medien vor einem Jahr sogar politische Entscheidungen beeinflusst?

Schmitt: In besagtem «Zeit»-Dossier gibt es eine sehr interessante Stelle. Da heisst es, einer der Beweggründe Merkels für ihre folgenschwere Entscheidung sei gewesen, dass die deutsche Gesellschaft gewisse Bilder nicht er-tragen könne. Zum Beispiel die Durchsetzung des Dublin- und des Schen-genabkommens, wozu Deutschland eigentlich verpflichtet gewesen wäre. Wenn das stimmt, dann war und ist die Rolle der Medien enorm gross in der Wahrnehmung der deutschen Regierung. In den letzten Monaten hatten wir eine intensive Debatte über die Rolle der Medien. Ein Befund ist, dass in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft ein dramatischer Vertrauensverlust in Bezug auf gewisse Leitmedien stattgefunden hat. Diese haben auch heute noch Mühe, ihre Rolle, die sie vor einem Jahr gespielt haben, zu hinterfragen. Wir hatten auch hier in Österreich eine nach dem Zweiten Weltkrieg einmalige Situation, dass es in einem Zeitraum von wenigen Wochen kaum noch ein breiteres Meinungsspektrum gegeben hat. Gewisse, auch international wahrgenommene, Schweizer Medien hatten hier eine Korrektivrolle inne. Die NZZ zum Beispiel wurde auch in Deutschland und Österreich sehr rege gelesen. Wichtige deutsche und österreichische Medien hatten folglich ihre Kernaufgabe, nämlich kritisch zu berichten, aufgegeben. Dass sie sich zumindest zeitweise in den Dienst politischer Überzeugungen und bestimmter Regierungen gestellt haben, gehört angesichts der massiven politischen Folgen, welche die Entscheidung Merkels generiert hat, ebenfalls aufgearbeitet.

Diese Ereignisse haben einen Riss, eine tiefe Diskrepanz zwischen West und Ost zutage gefördert.

Schmitt: Ich möchte hier festhalten, dass diese Diskrepanz ein Konstrukt der deutschen und – zeitweise auch – der österreichischen Regierungen und ihnen nahestehender Medien ist. Genau betrachtet, wird die deutsche Regierungspolitik in der Migrationsfrage in weiten Teilen Europas abgelehnt. Deutschland ist hier weitgehend isoliert. Die Bereitschaft zur Aufnahme von Migranten ist zum Beispiel nun auch in Skandinavien oder seit Längerem schon in Frankreich sehr gering. Betrachten wir die Migrationspolitik der spanischen Regierung: Sie wen- det ähnliche Methoden an wie die neuen EU-Mitgliedsländer in Ostmitteleuropa. Die skandinavischen Länder, Frankreich und Spanien wurden von deutscher Seite aber nie so angegriffen und stigmatisiert wie die ostmitteleuropäischen Länder. Man sollte sich folglich eher fragen, warum die deutsche Regierung und die deutschen Medien nicht Spanien oder Dänemark scharf kritisieren. Warum richtet sich dieser Zorn nur gegen Polen oder Ungarn?

Warum?

Schmitt: Ich glaube das hat – leider muss ich das so sagen – mit alten, üblen Vorurteilen in der deutschen Gesellschaft zu tun. Interessanterweise kommen die meisten dieser Ressentiments aus dem linken politischen Spektrum. Einige deutsche Medienschaffende haben noch zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Zum Beispiel wurde der Ausschluss der neuen Mitgliedsländer aus der EU gefordert. Die für solche Äusserungen Verantwortlichen haben noch kaum erkannt, was sie politisch damit angerichtet haben.

Also hört der Westen dem Osten zu wenig zu?

Schmitt: Auf jeden Fall. Man muss aber zunächst klären, was in diesem Zusammenhang mit Westen gemeint ist. Wir haben mit Deutschland einen Hauptakteur, zeitweise war auch Österreich einer. Mit der teilweise innenpolitisch bedingten scharfen Rhetorik – insbesondere gegenüber Ungarn – von Ex-Kanzler Werner Faymann hat Österreich viel aussenpolitisches Geschirr zerschlagen. England, Frankreich, Spanien und Italien gehören in diesem Sinn nicht zu den Hauptakteuren. Wenn man zum Beispiel englische, französische, spanische oder italienische Medien konsumiert, stellt sich der Blick auf die Migrationsfrage anders dar als von Deutschland aus. Die deutsche Regierung und die deutschen Leitmedien reklamieren aber für sich, die Stimme des Westens zu sein. Einen kompakten Westen gibt es indessen genauso wenig wie einen kompakten Osten. Diese Block-Argumentation hat natürlich politische Gründe. Das insbesondere von deutschen Medien verwendete Begriffspaar West-Ost, mit einer klar abschätzigen Verwendung von Ost, ist sogar eine Art Agitationspropaganda wie damals im Kalten Krieg. Wenn man ganze Gesellschaften aus Europa ausschliesst und zu Europäern zweiter Klasse macht, wird die EU gespalten. Es sollte daher eine Analyse der verwendeten Begriffe stattfinden. Insbesondere muss man die Akteure, die ein Interesse haben, sich hinter diesen grossen Begriffen zu verstecken, klar benennen. Ich bin dafür, dass man Ross und Reiter beim Namen nennt.

Die Rhetorik hat sich in den letzten Wochen allerdings ein wenig entschärft.

Schmitt: Seit dem Brexit-Votum versucht die Merkel-Regierung, wieder einen Ausgleich mit den vorher von ihr so sehr angegriffenen Regierungen zu finden. Man spricht jetzt sogar in deutschen Medien plötzlich wieder von Mitteleuropa oder von den Visegrad-Staaten, wenn man Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei und Ungarn meint.

Sehen Sie aufgrund der Flüchtlingskrise die EU in Gefahr?

Schmitt: Zunächst mal: Wir haben keine reine Flüchtlingskrise, sondern in erster Linie eine Migrationskrise. Auch bei diesen Begriffen muss man präzise sein. Wir haben es einerseits mit Menschen zu tun, die vor Krieg flüchten, hauptsächlich aber mit Menschen, die einfach ihre Lebensumstände verbessern möchten. Das sind keine Flüchtlinge, sondern Migranten. Aus politischen Gründen geht man häufig nicht sehr klar mit den Begriffen um.

Und Ihre Einschätzung zur vorher- gehenden Frage?

Schmitt: Die EU durchläuft im Moment mindestens zwei Systemkrisen. Erstens die Eurokrise. Zweitens sind zentrale Säulen der EU – das Schengen- und das Dublinsystem – innert kürzester Zeit zusammengesackt. Und zwar primär auf einseitiges Betreiben einer der wichtigsten Regierungen in der EU hin, nämlich der deutschen. Und bis jetzt ist nicht erkennbar, dass ein neues kohärentes System an die Stelle des alten Systems treten würde. Schengen-Dublin war ein Schönwettersystem, und es gibt im Moment keine Strategie, um es zu ersetzen. Im Zuge der Schliessung der sogenannten Balkanroute ist es im östlichen Mitteleuropa zu einer Art von regionalem Zusammenrücken gekommen. Eine regionale Aktion ersetzt gerade die eigentliche EU-Politik. Das von Deutschland propagierte Modell der Verteilung von Migranten auf ganz Europa ist dagegen nicht umsetzbar. Der Migrationsdruck hält indessen an, er ist unvermindert stark. Wenn nicht bald eine pragmatische Lösung gefunden wird, wird die EU schweren Schaden nehmen. Der Brexit-Entscheid ist ja ganz massgeblich vor dem Hintergrund der Migrationsfrage erfolgt. Die Briten hatten das Versagen der EU in dieser Frage deutlich vor Augen und hatten sich mehrheitlich dafür entschieden, sie künftig auf der Ebene nationaler Souveränität zu lösen. Insofern ist die Migrationskrise ein grosses Problem für die EU. Berlin hatte versucht, mit einer Ideologie- und Moralpolitik eigene Interessen durchzusetzen. Und hat damit tiefe Gräben aufgerissen.

«Die deutsche Regierung versucht offensichtlich, die Verantwortung in dieser Krise auf andere abzu- wälzen.»

«Die Diskrepanz zwischen West und Ost ist ein Kons-trukt der deutschen und österreichischen Regierungen und ihr nahestehender Medien.»

Zur Person Oliver Jens Schmitt

In Baselgeboren, studierte Oliver Jens Schmitt Byzantinistik, Neogräzistik und Osteuropäische Geschichte. Seit 2005 ist er Professor für Geschichte Südosteuropas an der Universität Wien und seit 2011 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.(taz)

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