Wir sollten diejenigen, die täglich an unserer Gesellschaft mitarbeiten, nicht von der Demokratie ausschliessen


Die Schweiz muss sich aus ihrem Fuchsbau wagen und sich für ein einiges Europa einsetzen. Und wir sollten unsere Demokratie auch für all jene öffnen, die hier zwar zum Wohlstand der Gesellschaft beitragen, aber keinen roten Pass haben.
Zwei heisse Eisen beschäftigen die Schweizer Politik seit Langem so wenig wie nur möglich. Es wirkt, als gingen sie beinahe vergessen, sie werden so vorsichtig wie möglich angetastet. Wahlkampf macht damit niemand. Es sind das Schweizer Bürgerrecht und die EU. Über ein Viertel der Schweizer Bevölkerung hat keinen Schweizer Pass, bei den Erwerbstätigen sind es sogar über 33 Prozent ohne Schweizer Bürgerrecht. Diese Leute, die Steuern zahlen, unsere Züge fahren, unsere Patienten pflegen, neue Technologien entwickeln, unsere Toiletten putzen, uns mit Köstlichkeiten aus aller Welt bekochen, unsere Kinder unterrichten, an Universitäten lehren und unser Gemüse ernten, diese Leute haben in der Schweiz kein Stimm- und Wahlrecht.
In der Schweizer Demokratie dürfen nur drei Viertel mitbestimmen. Mitzahlen und mitarbeiten müssen aber alle. Keine Partei nimmt sich diesem Thema wirklich an. Es scheint so, als wären damit keine Wählerinnen zu gewinnen. Wohl wahr, dürfen einen die Betroffenen ja gar nicht wählen. Oh Wunder.
Die Schweiz ist abhängig von der EU
Über 50 Prozent der Schweizer Exporte gehen in die Europäische Union. Fast 70 Prozent der Schweizer Importe kommen aus der EU. Über 70 Prozent aller ausländischen Investitionen in der Schweiz kommen aus der EU. Die Schweizerinnen und Schweizer profitieren von der Personenfreizügigkeit, Schweizer Unternehmen von der Einbindung in den EU-Binnenmarkt. Die Schweiz ist von der EU abhängig, aus vielerlei Hinsicht. Ob das umgekehrt auch so ist, ist angesichts der doch erheblichen Grössenunterschiede fraglich.
Vor Kurzem hat der Bundesrat ein nächstes Vertragspaket, die Bilateralen III, präsentiert. Und alle Parteien, von links bis rechts, wähnen sich in kritischer Zurückhaltung. Nur nicht vorpreschen, heisst es. Sich die Finger verbrennen an diesem riesigen Staatenbund, der uns Schweizerinnen und Schweizer irgendwie suspekt vorkommt, will niemand.
«Sich die Finger verbrennen an diesem riesigen Staatenbund, der uns Schweizerinnen und Schweizer irgendwie suspekt vorkommt, will niemand.»
Beide Themen sind von gigantischer Relevanz. Ersteres für die Qualität unserer Demokratie, Zweiteres für das Funktionieren unserer Volkswirtschaft. Und trotzdem finden sie keine entschlossenen Verfechterinnen. Die beiden Themen und das, was drumherum passiert, stehen stellvertretend für ein schon immer in die Jahre gekommenes Schweizer Selbstverständnis. Wir bilden uns etwas auf «unser» Land und unsere Identität ein. Nehmen uns heraus, etwas Spezielles zu sein, das Land, das nie im Krieg stand, diesen Frieden aber fleissig bei Kriegstreibern einkaufte, das Land, das sich selbstständig behauptet, dessen Eigenständigkeit aber beim Kartoffelanbau anfängt und beim Zwiebelkuchen aufhört, das Land, das sich einer humanitären Tradition verschrieb, aber ausbeuterischen Grosskonzernen einen sicheren Hafen bietet.
In diesem Selbstverständnis ist die Schweizer Staatsbürgerschaft ein einzigartiges Gut, das es sich zu erarbeiten gilt. Wenn man denn aber hier geboren wurde, wurde einem die Einzigartigkeit und der Fleiss, den es zum Schweizersein bedarf, noch über die Nabelschnur übertragen.
Wir Rosinenpicker
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mag die Schweiz, ich lebe ungemein gerne hier und bin dankbar dafür. Ich bin grosser Fan der direkten Demokratie. Der Zusammenhalt über vier Sprachregionen ist beachtlich. Diverse Institutionen, wie zum Beispiel die AHV, sind tatsächlich grossartig. Doch all das macht uns noch lange nicht zu Übermenschen, oder gar zu einem Übervölkchen.
«Wenn man hier geboren wurde, wurde einem die Einzigartigkeit und der Fleiss, den es zum Schweizersein bedarf, noch über die Nabelschnur übertragen.»
Nein, wir verstecken uns lieber hinter unserem Art-déco-Schreibtisch – oder heute wohl eher dem Stehpult mit Walking Pad – und vertrauen darauf, dass der Bundesrat mit Müh und Not die Schweiz in ihrer nutzniesserischen Rolle hält, sich an die EU anhängen, sich das Gute herausnehmen und auf alles Mühsamere verzichten kann. Und dass wir weiterhin von allen Ausländern und Ausländerinnen profitieren können – von ihrer Arbeitskraft und ihren Kulturen –, ohne ihnen ein Mitspracherecht zu gewähren.
Dabei bin ich überzeugt, dass wir weiterkommen, wenn wir uns aus unserem Fuchsbau herauswagen. Wenn wir dort, wo wir de facto dazugehören, nämlich einem geeinten Europa, auch de jure mitsprechen können und unseren Beitrag zu einem demokratischen Europa leisten. Und wenn wir diejenigen, die zu unserer Gesellschaft dazugehören und an ihr tagtäglich mitarbeiten, nicht mehr wegen eines fehlenden roten Büchleins von unserer Demokratie ausschliessen. Sprechen wir darüber.