Wer loslässt, hat die Hände frei

Eva-Maria  Brunner Eva-Maria Brunner | 
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In ihrer Kolumne Kind und Kegel schreibt Eva-Maria Brunner über den Neubeginn.

Zwischen den Jahren, Kunstmuseum Thun. Ich besuche die Ausstellung «Cantonale Berne Jura», in welcher zeitgenössische Künstler Einblick in ihr aktuelles Schaffen geben. Nebst bunten Gemälden und raumfüllenden Installationen fällt mir ein unschein­barer Druck ins Auge. Eine Monotypie mit dem Satz «Ich wäre jetzt bereit». Er passt gut in diese aus der Zeit gefallenen Tage zwischen Jahresschluss und Neubeginn. Fühle ich mich bereit für 2023? Kann man sich überhaupt bereit fühlen für etwas, von dem man nicht weiss, was es bringen wird? «Wir wären jetzt bereit» – mit diesem Satz begann vor bald 15 Jahren unsere Elternschaft. Dass dieser Wunsch sich erfüllt hat, ­dafür sind wir bis heute dankbar, denn selbstverständlich ist es nicht. Was uns erwarten würde, wussten wir nicht, und nicht selten beschlich mich das ­Gefühl, die grösste Aufgabe meines ­Lebens anzutreten, ohne Ausbildung, Diplom oder auch nur einer geglückten Hauptprobe.

Von Kinderzeichnungen trennen

Erziehung ist immer in erster Linie ­Beziehung, und dafür braucht es ­mindestens zwei. «Ich wäre jetzt bereit» wird folgerichtig nicht nur von einer Seite ausgesprochen oder gelebt, sondern von zweien. Und nicht immer passiert dies synchron. Bei einem meiner Kinder war ich bereit, abzustillen, das Baby aber noch nicht. Herauszufinden, wessen Bedürfnis Vorrang hat, war hart. Dass unsere Kindergärtlerin beim ­geliebten Gotti in Zürich übernachtet, schien Kind und Eltern eine gute Idee. Mit Schlafsack und Kuscheltier aber ­bereits am Nachmittag wieder den Heimweg anzutreten, frustrierte mich mehr als Pünktchen. Ich wäre bereit ­gewesen.

Antons Leidenschaft ist der Bikesport. Zeigt er mir Videoaufnahmen von ­halsbrecherischen Trails, die er mit Leichtigkeit bezwingt, schüttle ich den Kopf. Und denke an die Zeit zurück, als er Samstag für Samstag mit meinem Mann Fahrradfahren übte und wahlweise Hindernisse (parkierte Autos, ­gemächlich pedalende Seniorinnen) über den Haufen fuhr oder einfach vom Sattel absprang, weil er nicht bremsen konnte. Irgendwann war er dann doch bereit, Fahrrad zu fahren.

«Wenn im Familiengefüge eine Seite bereit für etwas ist, die andere sich aber überfordert fühlt, sind Schwierigkeiten vorprogrammiert.»

Heute, mit zwei Kindern im Jugendalter, erlebe ich es oft gerade umgekehrt. Ihr Radius wird grösser, unser Einfluss kleiner. Was sie bewegt, mit wem sie ihre Zeit verbringen, worüber sie sich freuen oder woran sie zu kauen haben: Das wird nicht mehr so bereitwillig ­geteilt. Ich gebe zu kurze Hosen, Playmobil und Schwimmwesten weg. Trenne mich von Kinderzeichnungen oder durchquere den Munotspielplatz mit einem bittersüssen Gefühl. Erlaube den Trip nach Zürich oder den Download einer App. Bin ich bereit dazu? Nicht immer. Wenn im Familiengefüge eine Seite bereit für etwas ist, die andere sich aber gedrängt, überrumpelt oder überfordert fühlt, sind Schwierigkeiten vorprogrammiert. Es besteht die Gefahr, dass beide sich dann unglücklich fühlen. Die Kinder, die spüren, dass sie Erwartungen nicht erfüllen können, oder die Eltern, die merken müssen, dass sie einem Bild von ihrem Kind nachhängen, welches so gar nicht existiert. Wahrzunehmen, wo jedes einzelne Familienmitglied steht, welche Entwicklungsschritte getan werden wollen und wann wir als Eltern einer Vorstellung nachjagen, die für unser ganz einzigartiges Familiengefüge nicht stimmt, ist wiederkehrende, strenge Arbeit.

Heranführen und Loslassen

Aber immer dann, wenn wir synchron sind in unserem «Ich wäre jetzt bereit», kann der Aufbruch ins Ungewisse ­gelingen, im ganz Kleinen wie im ­Grossen. Wo früher von mir als Mutter ­ermutigendes Heranführen gefragt war, muss ich mich nun in begleitendem Loslassen üben. Aber, eine Binsenwahrheit und doch so richtig: Wer loslässt, hat die Hände frei. 2023? Ich wäre jetzt bereit.

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