Das Handy – eine Gratwanderung

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Marcel Wenger

Marcel Wenger über übermässige Handynutzung, die laut einer Studie bei jeder zweiten Person auftreten.

«Was soll das?», werden Sie sich fragen: «Schon wieder einer, der mit dem Smartphone nicht klarkommt?» Laut einer Studie der Beratungsfirma Deloitte sind es fast 50 Prozent von 1000 Schweizern, die dazu stehen, dass sie zu häufig an ihrem Kleinst-PC hängen. Mit andern Worten: Sie können nicht mehr «ohne». Die Dunkelziffer jener, welche dazu nicht stehen möchten, ist nicht erfasst. Irgendwie kommt einem das Problem bekannt vor. Raucher brauchen ihr Nikotin. Süffel ihren Pegel. Spieler den Kick bei Siebzehn und Vier oder im Online-Casino. Und die Handysüchtigen werden ohne Smartphone nervös, depressiv und ängstlich, schon wenn das Gerät sich nicht mehr einschalten lässt. Wenn der Akku zur Neige geht oder das Internet zusammenbricht, geraten sie in einen Ausnahmezustand. Möglicherweise stellen sich auch körperliche Sym­ptome ein: Bluthochdruck, Schnapp­atmung und heftiges Schwitzen werden beobachtet. Das Gerät scheint einen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte zu markieren. Es macht einen Teil seiner Träger abhängig, weil sie glauben, ohne dessen Nutzung den Anforderungen des ­Lebens nicht gerecht zu werden. Und das alles ohne Zufuhr von Suchtmitteln.

Möglicherweise stellen sich auch körperliche Symptome ein: Bluthochdruck, Schnappatmung und heftiges Schwitzen werden beobachtet.

Marcel Wenger, war von 1989 bis 1996 , Baureferent und von 1996 , bis 2008 Stadtpräsident , von Schaffhausen.

Die Leistungen sind verführerisch. Man ist jederzeit fast überall erreichbar. Man sieht, welchem Netzwerk Freunde und Bekannte angehören. Rechnungen werden gescannt und bezahlt. Reisen, Billetts, Hotelgutscheine und Tischreservationen werden geladen. Influencer, Trendsetter, Twitterer und Lobbyisten, Facebooker, You­tuber und Spotifyer lassen den Tag zur Nacht und die Nacht zum Tag werden. Das Netz, in dem die Handynutzerinnen und -nutzer hängen, schläft nie. Immer mehr Menschen tun es ihm gleich: Sie liegen ­digital an fremden Stränden, nehmen Anteil am Alltag der anderen und bringen sich ein, als ob es sie direkt anginge. Sie rufen ihren Hausarzt an, weil ein Chatpartner in Mexiko Durchfall hat. Sie verfassen Internetpetitionen, schreiben Kommentare, nehmen an Shitstorms oder Solidaritätsplattformen teil. Es ist ein überbordendes Gewusel von Information, Reaktion, Organisation und Kommunikation, welches aus dem Gerät in der Füdli­tasche in unsere Realität hinein plätschert. Als ob wir nicht schon selber genug Herausforderungen hätten.

Die Gratwanderung, beim Handy das Nützliche vom Möglichen zu trennen, ist umso schwieriger, je mehr Rechen- und Speicherleistung da ist. Wer sagt uns, dass «vorgekaute» Informationen wirklich zutreffen, Kommentare objektiv und aufgezeigte Lösungen realistisch sind? Oft ist das für uns Richtige nicht dabei, weil schlicht alles transportiert wird. Häufig ist unklar, durch welchen «Filter» Informationen gelaufen sind, bevor sie im Netz ankommen.

Eine Portion kritische Distanz zu den technologischen Vorzügen kann daher nicht schaden. Wer Kleingedrucktes in allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) auf dem Handybildschirm nicht lesen kann und beim Vergrössern Schwierigkeiten mit der Übersicht hat, sollte sich beim Zustimmen Zeit lassen. Hand aufs Herz: Haben Sie die AGB einiger Dienstleister verstanden? Sie würden sich wundern, wofür man Sie drankriegen kann, wenn ein Fehler passiert. Und noch dicker: Die wenigsten sind sich bewusst, wie schnell sich Fehler im Umgang mit dem Smartphone einschleichen. Verletzungen von Urheber- oder Persönlichkeitsrechten, Informations- und Meldepflichten, Berufs-, Geschäfts- und Amtsgeheimnissen sind nur die Spitze des Eisbergs. Darunter finden sich ausgeklügelte Nutzungsbedingungen und eingeschränkte Haftungsklauseln. Ein Buffet für hungrige Fachjuristen. Der Blick auf einen vereinbarten Gerichtsstand reicht, dass die Lust aufs Handy und gewisse Plattformen rasch vergeht, wäre da nicht die schlaue Blockade von Anwendungen, während man am Installieren einer «App» ist und sich durchklickt, weil es anscheinend «pressiert». Ich habe mich schon oft gefragt, ob ungünstige Verträge für Nutzerinnen und Nutzer via Smartphone überhaupt rechtlich durchsetzbar sind: Es handelt sich ja bei fast 50 Prozent des Publikums anscheinend um Abhängige. Und die sind oft in ihrer Wahrnehmung eingeschränkt oder in der freien Willensbildung beeinträchtigt. Klar: Das sind alles Schutzbedürftige, um die wir uns kümmern müssen. Notfalls mit einer Internet-Petition!

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