Auch der «Anti-Fussball» kann attraktiv sein

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Mark Gasser von den Schaffhauser Nachrichten
Mark Gasser, Redaktion Weinland, mark.gasser@shn.ch

«Der Ballbesitzfussball ist tot» - schon seit vielen Jahren ist dieses Credo in aller Munde. Bedeutet das das Ende des schönen Fussball? Nein, sagt Weinland-Redaktor Mark Gasser.

«Der Ballbesitzfussball ist tot.» Was schon vor vier Jahren prognostiziert wurde, scheint nun an dieser WM einzutreten: Die Protagonisten, vor allem jene des spanischen Tiki-Taka, haben auch an dieser WM teilweise Ballbesitzquoten von 79 Prozent (gegen Russland, als Spanien ausschied) erreicht, kommen in die Jahre. Doch nicht der überfällige Abtritt einer ganzen Spielergeneration scheint das Problem des Systems zu sein, das auf Clubebene vor allem dem FC Barcelona und etwas später auch beim FC Bayern München eingetrichtert wurde. Brasilien, Argentinien und Deutschland – allesamt Teams, die den Ballbesitz als Selbstzweck zelebrierten – schieden früh aus dem Turnier aus. Meiner Meinung nach liegt das Pro­blem nicht im sogenannten Spielermaterial. Vielmehr sind deren Gegner schlauer geworden. Denn auch wenn die Zahl der zugelassenen Torchancen eines solchen Ballbesitzteams sehr klein sein mag, so täuscht diese Statistik doch über eines hinweg: Über die wirklichen Torchancen sagt sie nichts aus. Eine neue Art, die Qualität der Torchancen zu berechnen, ist der sogenannte X-Goal-Wert, der aussagt, wie wahrscheinlich es ist, von dieser Stelle aus ein Tor zu schiessen. Der gegnerische Fünfmeterraum hat so einen sehr hohen X-Goal-Wert, der sich dem ­Maximalwert 1 annähert.

Somit ist auf den ersten Blick nicht überraschend, dass etwa das deutsche Team laut einem Wettanbieter in der Vorrunde auf total 8,1 erwartete Tore kam – nur Belgien war stärker. Doch dass Deutschland dann nur zwei Tore zustande brachte, erklärt auch diese Statistik, zumindest teilweise: Die einzelnen Schüsse der Deutschen hatten nie einen höheren Wert als 0,5. Und vielleicht erklärt sie auch ein wenig die Absenz eines genialen Stürmers wie Messi – der schiesst nämlich sogar mehr Tore, als ihm statistisch «zustehen».

Wenn also viel Ballbesitz nicht die besseren Chancen erzwingen lässt, dann müssen die gestandenen Ballbesitzteams neue Rezepte finden. So geschehen im Halbfinal Frankreich – Belgien, wo danach mehrere Belgier, darunter Torhüter Courtois, von «Anti-Fussball» der Franzosen sprachen. Trotzdem: Sie schossen doppelt so oft Richtung belgisches Tor. Und die Elfmeterhelden aus England haben bis gestern Abend acht von elf Toren nach Standards erzielt. Besonders ihre neue Schwarmtaktik nach Eckbällen führte zu vier Kopfballtoren, zweimal versenkte Harry Kane einen Elfmeter. Auch das war nicht Zufall: Insbesondere die Spielzüge für Standards haben die Three Lions dank ihrem Angriffs­taktiker minutiös einstudiert. Und so trugen auch die Engländer dazu bei, dass an dieser WM die Standardsituationen zu rekordhohen 42 Prozent der Tore führten. Zumindest für diese WM gilt: Standards und schnelles Umschaltspiel haben Ballbesitzfussball als Torgaranten abgelöst. Das mag man jetzt bedauern. Aber sind wir ehrlich: Als wie ästhetisch empfanden wir alle noch das ewige Hin-und-her-Geschiebe im Mittelfeld?

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