Moral und Idioten

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s ist Marshall McLuhan (1911–1980), Literaturprofessor und Medientheoretiker

Julia Hänny über die Überheblichkeit des Philosophen Marshall McLuhan und was uns alle zu «idiots» macht

«Moral ist die Würde der Idioten.» Dieser Satz fiel in einem Dok-Film, den das Fernsehen nach dem Tod des amerikanischen Autors Philip Roth ausstrahlte. Roths frühe Werke hatten zum Zeitpunkt ihres Erscheinens erhebliche Skandalwirkung. Und sie, wie auch die späteren Romane, sind überaus lesenswert.

Ich weiss nicht warum, aber dieser Satz hat mich einfach nicht verlassen wollen. Ich musste etwas recherchieren, um den Urheber kennenzulernen: Es ist Marshall McLuhan (1911–1980), Literaturprofessor und Medientheoretiker, der noch andere knackige Sätze in unsere Epoche hineingesprochen und -geschrieben hat, auf die sich die gesamte Medienarbeit und Werbung bezieht. Wir alle kennen etwa: «Das Medium ist die Botschaft», «die Welt als globales Dorf» und andere.

«Moralische Entrüstung ist die Würde der Idioten» – wie das Zitat genauer heisst –, das kann ich so nicht durchwinken. Störe ich mich etwa dar­an und habe mich damit selbst zum Idioten erklärt? Ist meine Nichtakzeptanz genau die moralische Entrüstung, die McLuhan meint? Moral an sich ist ja nicht gemeint – nur die moralische Entrüstung, das Moralisieren. Moral betrifft nur einen selbst; das Moralisieren meint die anderen. Es ist die selbstgerechte, negative Wertung der Haltungen anderer Menschen im Kontext eines hochsubjektiven Welt- und Werteverständnisses.

«Moral betrifft nur einen selbst; das Moralisieren meint die anderen.»

Ich gehe davon aus, dass der Professor aus dem universitären Elfenbeinturm heraus so ziemlich den ganzen Rest der Menschheit als «Idioten» angesehen hat – englisch «idiots», was umgangssprachlich für unintelligente, uneinsichtige, verstiegene und verrannte Personen benutzt wird –, nicht in einem (überholten) medizinischen Kontext. Also: Beinahe alle sind «idiots», nur er nicht, und ihre Würde entspringt einer aus McLuhans Sicht abzulehnenden moralischen Entrüstung. Der Mann ist ein Provokateur! Mit seinem einfachen Satz erreicht er, dass man sich exakt in die Richtung emotionalisiert, die er anprangert. Das ist irgendwie genial und bedenklich zugleich, denn McLuhan, der auch ein grosser Visionär war und viele Phänomene des digitalen globalisierten Lebens vorausgesehen hat, konfrontiert uns mit unserer Manipulierbarkeit. Seine Theorien sind in jede Form der Konsumwerbung und der politischen Propaganda eingeflossen, der wir heute ausgesetzt sind. So werden wir als Konsumenten zum Beispiel pausenlos ermuntert, anstelle einer inneren Haltung ein Gefühl der eigenen Überlegenheit zu pflegen, sei es auch nur durch die Wahl der richtigen Kaffeekapsel. Gleichzeitig werden kritische Einstellungen und Gedanken unterhöhlt durch den Vorwurf oder Verdacht, sie seien blosses Moralisieren, also idiotisch. «Everything goes», – auch ein Satz, der kaum mehr hinterfragt wird. Schlechte Zeiten für alles, was mit Moral zu tun hat. Und die McLuhans dieser Welt lachen sich ins Fäustchen, während niemand mehr mit Sicherheit wissen kann, ob er oder sie jetzt zu den «idiots» gehöre.

Gute Zeiten für den «Knigge» – ja, wirklich. Ich meine natürlich nicht die neo-royalistischen Benimmkurse für Menschen, die hoffen, irgendwann an einem Tisch zu sitzen, wo fünf Besteckgarnituren richtig eingesetzt werden müssen ...

In seinem Büchlein «Über den Umgang mit Menschen» hat Knigge vor über zweihundert Jahren aus einem an humanistischen Werten orientierten System in Alltagsbeispielen beschrieben, wie man angemessen, anständig und liebevoll auf Menschen zugeht und somit den sozialen Konsens stärkt. Ersetzt man das Umfeld seiner altertümlichen Vignetten durch zeitgeistige Standardsituationen unter Beachtung der tradierten Regeln, ist das hochmodern. Knigge hätte wohl zu McLuhan gesagt, er erkenne in ihm einen brillanten Denker und Visionär, könne aber seine schlechte Meinung über die meisten Menschen kaum ­teilen.

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