Lieber Coop oder McDonald’s statt geschützte Werkstatt

Iris Fontana | 
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Thomas Bräm: Inhaber von mitschaffe.ch. Die Firma bietet eine Alternative zur Arbeit in einer geschützten Werkstatt. Bild: ZVG

Seit neun Jahren vermittelt die Temporärfirma mitschaffe.ch Menschen mit Handicaps an Unternehmen im ersten Arbeitsmarkt. Inhaber Thomas Bräm berichtet dem Zahltag vom gesellschaftlichen Wandel, der in dieser Zeit stattgefunden hat, von neuen Möglichkeiten und davon, wie seine Klienten ein Mosaiksteinchen für die Behebung des Fachkräftemangels sein können.

Entstanden ist die Idee für mitschaffe.ch, als Thomas Bräm Heimleiter von diheiplus war. Mehrere seiner Bewohner formulierten damals den Wunsch, dass sie eigentlich lieber im ersten Arbeitsmarkt arbeiten würden – Coop oder McDonald’s statt geschützter Bereich. Ihre Begründung: «Wir wollen Abwechslung, schliesslich sind wir immer mit denselben Leuten zusammen – im Wohnheim, in der altra, in der Pfadi, im Behindertensport.» Andere formulierten auch ganz klar: «Ich will lieber mit Nicht-Handicapierten zusammen sein.»

Bräm merkt, dass auch bei den Menschen mit Handicap ein Wandel stattfindet. Sie stehen stärker für ihre Bedürfnisse ein und lassen sich nicht einfach abspeisen, wenn man irgendwo «ein Plätzli» für sie gefunden hat. Zudem hat durch die Arbeit von mitschaffe.ch in den letzten Jahren auch eine Art Ansteckungseffekt stattgefunden. Die Zahl von Menschen mit Behinderung (dieser Begriff ist, so haben wir uns sagen lassen, übrigens wieder politisch korrekt) im Kanton ist überschaubar und wenn eine von ihnen erzählt: «Ich arbeite in einer KiTa und es ist so toll», dann hat mitschaffe.ch eine Woche später eine weitere Bewerbung im Haus.

Im Gespräch betont Bräm jedoch mehrfach, dass nicht immer alles glatt läuft. Dass es auch Vieles gibt, das nicht funktioniert. So gibt es Angestellte, die wieder kündigen und in den geschützten Bereich zurückwechseln. Wenigstens hätten sie es dann aber einmal ausprobiert und schätzten nun vielleicht auch den alten Ort wieder stärker, kommentiert Bräm.

Durch niederschwellige Arbeiten Spezialisten entlasten

Ist der aktuelle Fachkräftemangel eine Chance für sein Unternehmen? Bräm bejaht. Es sei spannend: Jahrelang seien sie Firmen hinterhergerannt und hätten versucht, Leute zu platzieren. Das Angebot und die Nachfrage hätten sich nun aber angeglichen. Er ist überzeugt, dass sein Angebot ein Mosaiksteinchen sein kann, um dem aktuellen Fachkräftemangel zu begegnen. So hat er der Arbeitsgruppe des Gewerbeverbands sein «Jobcarving»-Modell vorgestellt. Zwar könne mitschaffe.ch dem Gewerbe keine Spezialisten liefern, aber Bräms Appell an die Entscheidungsträger in den Betrieben lautet, ihre Arbeitsprozesse genau durchzudenken und sich zu überlegen, welche Tätigkeiten es gibt, die auch jemand mit schwächeren Qualifikationen erledigten könne. Welche einfachen Arbeiten können dem Spezialisten abgenommen werden, sodass dieser mehr Freiraum hat, seiner Kernaufgabe nachzugehen?

Bräm erklärt das Modell am Beispiel eines Solartechnikbetriebs: Jemand, der Lieferdienste vom Geschäft zum Kunden übernimmt und das Material vielleicht auch noch aufs Dach bringt, sodass der Solartechniker auf dem Dach bleiben und zuarbeiten kann, ohne wertvolle Zeit zu verlieren. Mit diesem Modell konnten schon diverse Leute platziert werden.

Einsatzmöglichkeiten divers und in allen Betriebsgrössen möglich

Angesprochen darauf, ob es Branchen gebe, die sich besonders für seine Klienten eignen, verneint Bräm. Es seien eigentlich oft ähnliche Arbeiten, die in den meisten Branchen anfallen würden, Hilfstätigkeiten wie interne Kurierdienste oder Papier auffüllen. Es seien keine Jobs, welche in einem 08/15-Jobinserat ausgeschrieben seien. Klar gebe es Branchen, wie zum Beispiel die Gastronomie, in der viele niederschwellige Arbeiten anfallen und wo es relativ einfach sei, Leute zu platzieren.

Wie aber gehen Firmen konkret vor, wenn sie Menschen mit Handicap einstellen wollen? Bräm erklärt, dass meist eines von zwei Vorgehen gewählt wird: Die einen sagen: «Wir können keine neuen Jobs schaffen. Aber wir wollen offen sein, wenn eine Stelle frei wird, und dann bewusst Menschen mit Behinderungen berücksichtigen.» Beim zweiten Vorgehen erstellen Firmen konkret ein Jobprofil und schauen dann, was es für Tätigkeiten in ihrem Betrieb gibt, die eine Person mit Handicap übernehmen könnte. Damit dies möglich ist, muss die Firma natürlich eine gewisse Grösse haben. Bräm sieht aber auch Chancen bei kleinen Firmen, die am Wachsen sind und froh um helfende Hände. Weiter gibt es auch Kunden von mitschaffe.ch, die in Familien eine Aufgabe übernehmen. Die Möglichkeiten sind breitgefächert.

Nachfrage neu auch von Grossfirmen – dank Diversity

Spannend ist auch der Aspekt, welche Arten von Unternehmen Personen bei mitschaffe.ch nachfragen. Bis vor einem Jahr waren dies laut Bräm vor allem KMUs. Firmen, bei denen «der Patron» entschied, eine behinderte Person anzustellen. War der Entscheid getroffen, ging es dann jeweils ruckzuck. Bei Grossfirmen hingegen sei es lange Zeit sehr schwierig gewesen. Die Initiative sei dort jeweils von der HR-Abteilung ausgegangen. Vor einem Entscheid hätte das Anliegen jedoch oft zahllose Kommissionen durchlaufen müssen und bis diese dann zu einem Entscheid gelangten, habe der CEO oft schon wieder gewechselt und damit war dann auch oft das Projekt gestorben. Obwohl überall Diversity und Inklusion die Unternehmensleitbilder beherrschen.
Seit etwa einem Jahr kehre sich dies nun aber total, bemerkt Bräm. Das ganze Diversity- und Inklusion-Thema habe sich so stark entwickelt, dass oft nicht mehr das HR für das Thema verantwortlich zeichnet, sondern die Chefetage entsprechende Massnahmen einfach durchsetzt. Auf diese Weise konnte mitschaffe.ch vergangenen Sommer beispielsweise mit H&M eine Vereinbarung abschliessen und hat mittlerweile bereits vier Personen dorthin vermittelt.

Wachstum über die Region hinaus

Entscheidend für die Entwicklung von mitschaffe.ch war ironischerweise Corona. Die ruhige Zeit wurde genutzt, um sich strategisch besser aufzustellen. Bei der Firmengründung waren die Kleinräumigkeit und die guten Beziehungen in Schaffhausen sehr wichtig gewesen. Mit der wachsenden Bekanntheit kamen dann aber immer mehr Bewerbungen aus anderen Kantonen hinzu. Und auch der Kreis an nachfragenden Firmen wuchs über die Region hinaus. Auf diese Entwicklung antwortete mitschaffe.ch mit einer Art Filialmodell. Die «Satelliten» bestehen aus Jobcoaches, die auf Mandatsbasis in ihren jeweiligen Regionen arbeiten und für die Bräm das Backoffice übernimmt. Auf diese Weise konnte die Firma im vergangenen Jahr bei den Verleihstunden ein Wachstum von rund 35 Prozent verzeichnen.

Angesprochen auf seinen Traum für die Firma, erklärt Bräm: «Ich wünsche mir, dass einmal keine Unterscheidung mehr vorgenommen wird in «normal» und behindert, und dass die Beschäftigung von Menschen mit Handicap nicht mehr als Ausnahme und Alleinstellungsmerkmal für ein Unternehmen gilt.»

Informationsanlass für interessierte Geschäftsleute

Am 31. März 2023 findet zwischen 11.30 Uhr und 13.30 Uhr ein Anlass der IG Inklusion für interessierte Geschäftsleute statt, unter anderem mit einem Interview mit Daniel Brühschwiler von Raiffeisen Schaffhausen. Veranstaltungsort ist der Meetingpoint auf dem Schaffhauser Herrenacker.

Thomas Bräm und mitschaffe.ch

Vor der Gründung von mitschaffe.ch arbeitete der gebürtige Wilchinger Thomas Bräm nach seiner Ausbildung zum Sozialpädagogen zwölf Jahre lang als Leiter von diheiplus, das Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen anbietet. Ausserdem ist er Vorstandspräsident der Behindertenkonferenz Kanton Schaffhausen.

mitschaffe.ch wurde 2013 mit dem Ziel gegründet, Menschen mit einem Handicap in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Dabei stellt der Personalverleih Menschen mit Handicap an und vermittelt diese an Unternehmen. Um Firmen zu entlasten, kümmert sich mitschaffe.ch um alle administrativen Hürden, welche in der Anstellung von Menschen mit Behinderung anfallen. Zudem stehen Jobcoaches bereit, falls Probleme auftauchen.
mitschaffe.ch vermittelt heute 120 Menschen mit Handicap. Das mitschaffe.ch-Team besteht aus fünf Personen, die sich 220 Stellenprozent aufteilen.

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