«Der Brückenunterhalt in Genua ist mangelhaft»

Anna Kappeler | 
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Rettungshelikopter und Bagger sind gestern an der Unglücksstelle vor Ort, um bei der Suche nach Überlebenden und Opfern zu helfen. Bild: Key

Der Schaffhauser Brückeningenieur Paul Wüst hat die Schrägseilbrücke N4 über den Rhein mitentworfen. Nach der Tragödie in Genua übt er deutliche Kritik an den Italienern.

Nach dem Einsturz der Morandi-­Autobahnbrücke in Genua erinnert sich der Schaffhauser Ingenieur Paul Wüst – er hat die Flurlinger Schrägseilbrücke N4 mitentworfen – an seine Begegnung mit dem ­italienischen Arbeitskollegen. «Ich habe Ingenieur Riccardo Morandi einst bei uns im Büro in Bellinzona getroffen. Das ist bestimmt 40 Jahre her», sagt Wüst. «Ich habe ihn als kleinen, quirligen Mann in Erinnerung. Ein typischer Italiener!» Man habe Gedanken ausgetauscht und sich gut unterhalten.

Paul Wüst.

«Für mich ist Morandi ein Pionier», sagt Wüst, für seine Zeit sei dieser vielen voraus gewesen. «Heute ist seine Bauweise allerdings, zugegeben, etwas veraltet.» Inzwischen wisse man, dass die Ummantelung eines Seils mit Beton nicht die ideale Lösung sei. Und Brücken nicht ewig hielten. «Die Entwicklung der Schrägseilbrücken befand sich in den 1960er-Jahren erst am Anfang. Ihre Blütezeit – gestützt auch auf zahlreiche Untersuchungen und Studien – erlebte sie in den 90ern», sagt Wüst. Die Morandi-Brücke wurde 1967 eingeweiht.

«Schwachstellen übersehen»

Deutliche Kritik übt Wüst indes daran, dass es überhaupt zum Einsturz der Brücke gekommen ist. «Der Brückenunterhalt in Genua ist ­mangelhaft. Offensichtlich wurden bei den Unterhaltsarbeiten sensible Schwachstellen nicht gesehen.» Wer Schuld habe am Unglück, könne er aus der Ferne aber nicht beurteilen. Trotzdem sagt er: «Der Unterhalt wurde zwar nicht vernachlässigt, aber vielleicht falsch gemacht?» Das Problem an der Konstruktion der Brücke in Genua aus heutiger Sicht ist laut Wüst: «Der Pylon, also das Bauteil, an dem die Seile verankert sind, ist aufgebaut aus einem ganzen Bündel von Schrägstützen. Bricht eine aus, fällt ein ganzer Brückenteil aus dem Gleichgewicht, ebenso beim Bruch eines Schrägseils.» Genau deshalb tendiere man heute in der Schweiz zu monolithischen Bauten. «Das ist ein Ingenieurgrundsatz: Eine Brücke muss auch dann noch tragen, wenn ein Bauteil ausfällt. Heute wird so gebaut, dass bei einem Ausfall eine Kräfteauslagerung stattfindet, aber ein Einsturz verhindert wird.» Beim Bau überlege man immer, wo eine Konstruktion allfällige Schwachstellen habe und wie diese aufgefangen werden könnten.

Die Italiener pflegten ihre Brücken und auch den Strassenunterhalt laut Wüst lange nicht so intensiv wie die Schweiz. Der permanente Unterhalt sei in der Schweiz absolut vorbildlich. «Dass ein Unglück wie jenes in Genua auch in der Schweiz passiert, schliesse ich aus», sagt Wüst.

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