«Ich würde schon gern 95 Jahre alt werden»
Regula Liner sitzt seit ihrer Kindheit im Rollstuhl. Sie liebt ihr Leben - und hat dennoch ein Buch über den Tod geschrieben. Ihr Werk hat sie nach 23 Jahren vollendet.
«Freundschaft - Tom und Ich»
In ihrem Buch schreibt Regula Liner über ihren langjährigen Kollegen und Freund Tom, der sein Leben ebenfalls seit seiner Kindheit im Rollstuhl verbrachte. Die beiden lernten sich 1980 als Kinder in Schaffhausen kennen und pflegten eine innige Freundschaft und später auch eine Beziehung. Das Buch hat Regula Liner auf Wunsch von Tom geschrieben. Rund ein halbes Jahr nachdem Regula Liner angefangen hatte zu schreiben, starb Tom am 2. April 1993. Seinen Wunsch konnte sie ihm nach 23 Jahren Arbeit an dem Buch doch noch erfüllen - ihr Buch ist Ende des vergangenen Jahres erschienen. Was sie alles zu ihrer Beziehung zu Tom und ihrem Buch zu erzählen hat, sehen Sie im Video.
Regula Liner ist 47 Jahre alt und wohnt seit 20 Jahren im Lindli-Huus. Sie kam mit ihrer Behinderung auf die Welt. Die Diagnose: Zerebralparese. Diese zeigt sich durch Störungen des Nervensystems und der Muskulatur und zwingt sie zu spastischem Verhalten. Regula Liner kam viel zu früh auf die Welt. Nach der Geburt konnte sie nicht selbständig atmen. Die Behinderung entstand durch «zu viel Sauerstoffzugabe oder eben zu wenig».
Mit ihrer Beeinträchtigung kommt sie aber gut zu Recht. «Schmerzen habe ich nur in geringem Masse. Vor allem wenn es kalt ist und sich die Muskeln zusammenziehen oder wenn ich erkältet bin und zum Beispiel husten muss. Dafür braucht man ja Kraft», erklärt Liner.
Bis zu ihrem 18. Lebensjahr war Regula Liner gar nie wirklich bewusst, mit welcher Behinderung sie seit Geburt zu kämpfen hatte. «Ich habe mir dann plötzlich Gedanken darüber gemacht, warum ich so bin. Ich fiel dann in eine kleine Krise.» Heute hat sie sich mit der Behinderung abgefunden und sich mit dieser und mit sich selbst versöhnt. Sie sagt sich selbst immer: «Es hätte weitaus schlimmer kommen können». Immer wenn sie darüber nachdenkt, ob es ihr gut geht, vergleicht sie sich mit anderen und merkt: «Es gibt ja auch Menschen, die im Krieg kämpfen müssen, so wie im Jemen. Wenn man es so sieht, geht es uns hier ja eigentlich hervorragend.»
Mitarbeit am digitalen Stadtplan für Geh- und Sehbehinderte
Trotz ihrer Behinderung schaffte es Regula Liner ihr eigenes Buch zu schreiben und zu veröffentlichen (siehe Infobox). Doch die Frau, die seit ihrer Geburt mit einer Behinderung lebt, bewies auch Geschick in anderen Dingen. Sie arbeitete im vergangenen Jahr zusammen mit «mitschaffe.ch» an einem digitalen Stadtplan für Geh- und Sehbehinderte in Schaffhausen. «Meine Aufgabe bestand darin, Arztpraxen und öffentliche Läden auf Rollstuhlgängigkeit zu testen und sämtliche Barrieren abzuklären» Manchmal seien die Mitarbeiter in den Geschäften überrascht gewesen und hätten gedacht, dass sie hier sei um zu reklamieren. «Die Arbeit war für mich wunderbar. Vor allem, dass ich immer vier Stunden an einer Tätigkeit dranbleiben konnte.» Es war aber auch eine Herausforderung für sie, da sie sonst nie so lange am Stück gearbeitet hatte. Sie sei froh, gebe es solche Projekte wie den digitalen Stadtplan. «Wir konnten durch die Arbeit auch ein wenig die Bevölkerung sensibilisieren. Wenn sich jemand erkundigt hat, was wir mit dem iPad in der Hand machen, haben wir es ihnen erklärt und sind dann wieder von Gebäude zu Gebäude weitergegangen.»
20 Jahre im Lindli-Huus
Daran, wie das Lindli-Huus vor 20 Jahren war, kann sich Liner noch sehr gut erinnern. Früher war alles strenger geregelt. «Es gab noch WC-Zeiten und man konnte nur zu einer bestimmten Zeit auf die Toilette gehen», erinnert sich Liner. Das war für sie sehr schwierig. «Irgendwann habe ich angefangen um Viertel vor fünf exzessiv zu trinken, damit ich dann auch wirklich aufs Klo konnte.» Irgendwann habe man im Lindli-Huus eingesehen, dass dies keine längerfristige Lösung sei.
Heute fühlt sich Regula Liner im Lindli-Huus sehr wohl. «Ich bin möglichst selbstbestimmt.» Sofern es geht, erledigt sie ihre Termine wie auch ihre Freizeitgestaltung selbst. Nur bei längerfristigen Terminen hat sie ab und zu Probleme und braucht Hilfe. «Das ist auch Teil meiner Behinderung. Wenn ich längerfristig etwas abmache, vergesse ich es meistens», sagt Liner und kann sich dabei ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Im Lindli-Huus ist sie ausserdem für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. «Ich bin immer die gewesen, die sich gerne für das Lindli-Huus aus dem Fenster gelehnt hat», sagt Liner. Zudem meint sie: «Ich mag die Arbeit und denke auch, dass ich sie gut mache.»
Auf die Frage, wie hoch ihre Lebenserwartung ist, reagiert sie sehr offen. «Also wenn nichts dazwischen kommt, wie Krebs oder so, dann würde ich schon gerne 95 Jahre alt werden». Bis dahin würde ihr auch niemals langweilig werden. «Ich habe Spass am Leben. Ich finde immer ein neues Hobby, wenn mir ein altes mit der Zeit einfach viel zu langweilig wird.»