«Das Schlimmste, was man sich vorstellen kann»: Wenn das eigene Kind stirbt
In der Schweiz sterben jährlich 300 Kinder im ersten Lebensjahr, ähnlich viele sterben bei der Geburt – wie kann man mit sowas fertig werden? Wir haben mit einer betroffenen Mutter gesprochen.
*Was sind Sternenkinder?
Als «Sternenkinder» bezeichnet man Kinder und Neugeborene, die kurz nach der Geburt oder noch im Mutterleib sterben. Der poetischen Wortschöpfung liegt die Idee zugrunde, Kinder zu benennen, die «den Himmel» (poetisch: die Sterne) «erreicht haben, noch bevor sie das Licht der Welt erblicken durften».
Für Eltern ist es eine Vorstellung, die schrecklicher ist als alles andere: Was, wenn das eigene Kind stirbt?
Trotz massiver Fortschritte in der Medizin kommt es auch noch heute immer wieder vor, dass Kinder ihre Geburt nicht überleben oder aus irgendwelchen Gründen kurze Zeit darauf versterben. Manchmal findet man eine Ursache, wie einen genetischen Defekt, vielleicht auch ein gesundheitliches Problem wie einen Herzfehler – manchmal bleibt aber den Eltern nichts weiter als die Frage: «Warum?»
Diese Frage stellte sich auch Martina Wenk. Sie ist Mutter eines «Sternenkindes»*. Ihre Tochter kam tot auf die Welt. Mit uns hat sie darüber gesprochen.
Trügerische Sicherheit
Leona ist das zweite Kind von Martina Wenk und ihrem Ex-Mann. Ihr erstes, ein Sohn, ist zum Zeitpunkt der Tragödie viereinhalb Jahre alt. «Wir hatten uns gefreut, da wir ja schon einen Bub hatten und jetzt eine Tochter bekommen sollten», erinnert sie sich. Das Glück wird schon früh getrübt: Bei einer Routineuntersuchung stellen die Ärzte beim ungeborenen Kind eine verdickte Nackenfalte fest. Das ist ein Zeichen für eine Trisomie. Es folgen viele weitere Tests, die den Verdacht aber nicht bestätigen. Der Kleinen scheint es gut zu gehen. «Bei so vielen Tests hätte man doch etwas gefunden, wenn etwas nicht gestimmt hätte», reden sich die Eltern immer wieder ein.
Die Schwangerschaft verläuft weiterhin unkompliziert und ohne grosse Vorkommnisse. In der 42. Woche beginnen dann bei Martina Wenk die Wehen. Ihr Mann ist zu diesem Zeitpunkt am Arbeiten und muss später noch den Sohn zu Verwandten bringen, ehe er ins Krankenhaus nachkommen kann. So ist sie alleine, als ihr eine Hebamme sagt: «Ich höre keine Herztöne mehr.»
Es ist ein Schock für die junge Mutter. Eine weitere Hebamme untersucht sie, glaubt, das Herz des Kindes wieder schlagen zu hören – aber die Ungewissheit bleibt da.
Wirklich erinnern kann sich Martina Wenk daran nicht mehr. «Es lief alles ab wie in einem Film.» Sie muss die Kleine auf die Welt bringen, auf natürlichem Wege – so schnell wie möglich.
Als sie das geschafft hat, sieht das Kind vollkommen normal aus. «Warum ist es denn so bleich?», fragt ihr Mann und die schlimmsten Befürchtungen bestätigen sich. Woran sie sich noch gut erinnert, ist, wie die Ärzte sofort beginnen, um das Leben des kleinen Bündels Mensch zu kämpfen. Sie versuchen ihre Tochter zu reanimieren – vergeblich. Der behandelnde Kinderarzt kann nur den Tod des Mädchens feststellen.
Schockzustand
Die nächsten Tage und Wochen verbringt sie im Schockzustand, so Martina Wenk. Sie verbringt eine Nacht mit ihrer Tochter und ihrem Mann im Krankenhaus, hält das tote Kind im Arm. Der Vater kann es nicht.
«Auf einmal mussten wir so viele Fragen beantworten. Wünschen Sie eine Obduktion? Wollen Sie sie anziehen? Das waren alles Sachen, auf die wir uns nicht vorbereitet haben», so Wenk. Sie stimmt einer Obduktion zu, ohne wirklich zu wissen, warum, wie sie heute sagt.
In der Nacht kommt eine Schwester zu ihr und sagt einen Satz, den die junge Frau so schnell nicht vergessen wird: «Sie können Ihre Tochter natürlich so lange bei sich behalten, wie Sie wollen, aber wir müssen Sie irgendwann kühlen.»
Ein Fotograf macht Bilder, sie zieht ihrer Tochter einen Strampler an, den sie für sie gekauft hat. Dabei wirke sie immer, als würde sie schlafen, wie Martina Wenk erzählt. Sie und ihr Mann machen Fussabdrücke von ihrem Kind, als Erinnerung. Dann nehmen sie Abschied und verlassen das Krankenhaus.
Bei der Obduktion der Kleinen kommt heraus, dass es keinen wirklichen Defekt gab, der den Tod rechtfertigt. Es sind viele kleine genetische «Fehler», aber nichts, was für sich genommen tödlich gewesen wäre. «Sie wäre wohl beeinträchtigt gewesen in ihrem Leben», sagt die Mutter.
«Sie ist immer ein Teil von mir»
Ihr Sohn ist Martina Wenk in dieser Zeit ein Halt. Gleichzeitig schwankt sie zwischen Trauer und Wut. Wut darüber, so ihre Aussage, warum ihr das passieren musste. Für ihren Sohn versucht sie stark zu sein, aber auch an ihm geht das Geschehene nicht einfach vorbei. Er hat viele Fragen, die man nur schwer beantworten kann.
Leona wird eingeäschert. Die Familie richtet dem kleinen Mädchen eine Art «Erinnerungsplatz» ein. Ihre Asche hat sie noch heute. «Sie ist immer ein Teil von mir», sagt sie.
Die Familie geht danach für zwei Wochen in die Ferien. Eine abgeschiedene Berghütte ist das Ziel. Laut eigener Angabe realisiert Martina Wenk dort das erste Mal, was eigentlich passiert ist. Fragen brechen über sie herein, die man nicht beantworten kann. Hauptsächlich: Warum? Hätte sie etwas anders machen können? «Man kann sich da sehr gut selbst zerfleischen.»
Hilfe und Halt findet sie auch in einer Gruppe für Rückbildungsgymnastik für Schwangere. Das besondere an dieser Gruppe: Sie wird nur von Frauen besucht, die ebenfalls Kinder verloren haben. Martina Wenk erinnert sich besonders an eine Frau, die sogar zwei Kinder «in den Sternen» hat.
Dazu besucht sie eine Trauergruppe und eine Trauma-Psychologin. Diese rät ihr, Briefe an die Kleine zu schreiben, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Das macht sie. Überhaupt beginnt sie alles zu sammeln, was mit ihrem Kind zu tun hat. Kondolenzkarten, kleine Geschenke, aber auch ihre Briefe und Bilder von ihrer Tochter. Alles, was sie als Erinnerung hat, kommt in eine kleine Box. «Es ist mittlerweile ein richtiges Sammelsurium», sagt Martina Wenk.
Sie wird kurz darauf wieder schwanger. Manche finden das nicht gut, aber auch das gab ihr nach eigener Aussage eine Art Halt. Es ist wieder ein Mädchen. Die Angst ist da, aber dieses Mal geht alles gut und sie bringt eine gesunde Tochter zur Welt. «Am Anfang war das schwierig, denn natürlich war Leona immer da», so die Mutter. Ihr Sohn ist in der Zeit enorm vorsichtig und hat Angst um das Kind, aber freut sich über die weitere kleine Schwester, die dieses Mal ein «Erdenkind» ist.
Das Leben geht weiter
All die Ereignisse sind mittlerweile fast drei Jahre her. Leona ist noch immer ein Teil von Martina Wenks Leben und wird es auch immer bleiben, wie sie sagt. «Ich denke sehr viel an sie, aber der Gedanke bestimmt nicht mehr mein Leben.» Ihrer Tochter geht es gut, ihrem Sohn auch.
Heute kann sie auch sehr gut über die Ereignisse sprechen, einfach auch, weil sie findet, dass das Thema wichtig sei und viel mehr Gehör brauche. «Wer in so eine Situation kommt, der braucht Hilfe. Es ist das Schrecklichste und Schmerzhafteste, was man sich überhaupt vorstellen kann.» Vor allem sollte man auch an die Väter in so einer Situation denken. «Der Fokus liegt dabei oft auf der Mutter, aber auch die Väter haben ein Kind verloren. Die gehen in solchen Situationen oft etwas unter.»
Das Leben geht weiter, für sie, ihren Sohn und auch ihre Tochter, die ihre grosse Schwester nur von Fotos kennt. Leona ist trotzdem auch dabei – und wird es wohl immer sein.