Parteisoldat mit Hippie-Vergangenheit

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Raúl Castro (r.) feiert seinen Nachfolger im Amt des kubanischen Präsidenten, Miguel Díaz-Canel. Bild: Key

Die Nationalversammlung wählte gestern den 57-jährigen Miguel Díaz-Canel zum neuen kubanischen Staatspräsidenten und beendete damit die Herrschaft der Castro-Brüder.

von Sandra Weiss

Seit sechs Jahren schon taucht sein silbergrauer Haarschopf regelmässig in den Staatsmedien auf. Raúl Castro delegierte an seinen Vize immer häufiger öffentliche Auftritte – und für die im Kaffeesatzlesen gewieften Kubaner war rasch klar: Miguel ­Díaz-Canel war der Auserwählte, der die Staffel der Revolution von der historischen Riege erben würde. Zwei Tage vor seinem 58. Geburtstag nun wurde der grosse, verschlossen wirkende Ingenieur mit den durchdringenden grüngrauen Augen vom Parlament zum neuen Präsidenten Kubas gewählt. Es ist die Krönung einer langen Parteikarriere, aber auch ein vergiftetes Geschenk, denn die Insel steht vor grossen Herausforderungen, die Díaz-Canel ohne eigene Machtbasis und in einem schwierigen wirtschaftlichen und aussenpolitischen Umfeld konfrontieren muss.

«Er ist kein improvisierter Neuling, sondern ein loyaler, ideologisch gefestigter Kamerad», lobte Castro seinen Kronprinzen. Er selbst hatte ihn 2009 nach Havanna geholt und zum Bildungsminister ernannt, um ihn zu testen. Denn anders als die bisherige Führungsspitze ist der in Villa Clara geborene, gelernte Ingenieur kein Militär. Er kennt die Heldentaten der Revolutionäre nur aus Büchern und begann seine Karriere in der Provinz. Seine Mutter war Lehrerin und entstammte einer bürgerlichen Familie, sein Vater war Ingenieur in einer Fabrik. Der schon als Schüler als Streber geltende Díaz-Canel erledigte alle Aufgaben gut und diskret. 1983 bis 1985 erledigte er seinen Militärdienst, 1987 trat er der Kommunistischen Jugend bei und reiste öfter ins revolutionäre Bruderland Nicaragua. 1994 wurde er Parteisekretär in seiner Heimatprovinz Santa Clara, anschliessend in Holguín, wo er eine Fussgängerzone und Parks bauen liess und im korrupten Parteibüro aufräumte. Im Bildungsministerium modernisierte er die Lehrpläne. 2003 wurde er zum jüngsten Mitglied in der Geschichte des Politbüros und einer der ersten, die Laptops benützten.

Beatles-Fan mit langen Haaren

Doch Díaz-Canel hat zwei Gesichter: Das des hölzernen Funktionärs, der bei öffentlichen Auftritten vaterländische Parolen vom Blatt abliest, und das eines humorvollen, aufgeschlossenen Menschen, an den sich Bekannte erinnern. «Bei uns war er oft zu Gast und hat seine schützende Hand über uns gehalten», erinnert sich Ramón Silverio, Gründer der Schwulen- und Lesbenbar Menjunje in Santa Clara. Unter dem damals langhaarigen Beatles-Fan und Theatergänger erlebte die zentralkubanische Region einen kulturellen Frühling mit Rockfestivals, während in Havanna bleierne Intoleranz herrschte. Die Revolution müsse die Menschen emotional erreichen, lautete seine Devise. «Er führte sogar den Dackel der Familie im Stadtpark spazieren und setzte sich für den Tierschutz ein, das galt damals als total unmännlich», erzählt der Künstler Ramón Rodríguez dieser Zeitung.

Freunde erinnern sich an einen ziemlich kritischen Rap über die gerontokratische Staatsführung, den der Freizeitdichter einmal zum Besten gab. Wie es an der Basis aussieht, wie der Alltag in der Mangelwirtschaft die Kubaner zermürbt, weiss Díaz-Canel gut: «Er stand wie alle Schlange bei der Lebensmittelausgabe und war immer mit dem Rad unterwegs, um in Arbeitszentren und Krankenhäusern nach dem Rechten zu sehen», erzählt die ehemalige Nachbarin der Familie in Santa Clara, Elda Alfonso. «Bis spät in die Nacht standen Arme hier Schlange», sagt sie auf das rot-gelbe koloniale Nachbarhaus mit der Nummer 182 deutend.

Keine grossen Erwartungen

Der Präsident gehörte der Gruppe der vielversprechenden, jungen Kader um den ehemaligen Aussenminister Roberto Robaina an. Die meisten Mitglieder dieses sogenannten Reformflügels fielen inzwischen wegen «politischer und ethischer Verfehlungen» in Un­gnade. Díaz-Canel überlebte dank seiner Anpassungsfähigkeit. Im liberalen Reformelan 2013 verteidigte er einen kritischen Blog von Studenten, nach der ideologischen Verhärtung von 2017 hingegen drohte er dem unabhängigen Portal «On Cuba» die Schliessung an. Meistens hält er jedoch den Mund. Interviews gibt er praktisch keine; er lebt zurückgezogen mit seiner zweiten Frau, der Kulturwissenschaftlerin Liz Cuesta, in Havanna. Aus erster Ehe mit der Zahnärztin Marta Villanueva hat er zwei erwachsene Kinder, Jenny und Miguel.

«Er ist jung und genug gebildet, um inter­national nicht den Kasper zu machen, und ansonsten unauffälliges Mittelmass», schreibt Juan Orlando Pérez im kritischen Portal «Cibercuba». Viel mehr Erwartungen weckt der Bürokrat nicht in einem Land, das an starke Führungspersönlichkeiten gewöhnt ist. Ob Díaz-Canel Charisma und Machtinstinkt entwickelt, ob es ihm gelingt, die Revolution zu modernisieren, oder ob er ein farbloser Übergangspräsident bleiben wird, ist offen. Wichtig wird sein, ob er den Rückhalt der Streitkräfte gewinnen kann, die die Wirtschaft kontrollieren. «Was er wirklich denkt und vorhat, werden wir erst wissen, wenn die alte Garde das Zeitliche gesegnet hat», twitterte Dissidentin Yoani Sánchez. Noch aber wird Raúl Castro als Parteichef über seinen Nachfolger wachen.

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