Problembesitz

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Julia Hänny

Julia Hänny über Zwischenmenschliches, Affen und Matriarchate

Schöne Entwicklungen – ich wollte gerade meine Freude der Woche ansagen, merke aber, dass ich auch ein paar Unfreuden hatte und dann noch viel gesehen und erlebt habe, das mich, streng therapeutisch betrachtet, wirklich nichts angeht, siehe unten:

Als die Individualpsychologie und die klientenzentrierten Therapien, wie man sie nannte (What else? Gibt es andere?), langsam zum psychologischen Allgemeinbesitz der hiesigen Menschheit wurden und wir und unsere Freunde uns mittels Ich-Botschaften auszutauschen begannen, geschah es ja oft, dass gefragt wurde: Ist das dein Problem? Musst du das lösen? Gehört das Problem nicht einer anderen Person? Und dann als Krönung der Satz: Bleib bei dir! Oder: Bleib mal ganz bei dir! Oder: Bleib richtig in dir drinnen, ganz bei dir! Und dann der ganze Abgrenzungswahn. Und das Übergriffige, überall war plötzlich alles übergriffig, nicht abgegrenzt und dann bald schon distanzlos, massenhaft Machtmissbrauch, vor allem in der Politik und in der Liebe, und jeder, der sich das zuschulden kommen liess, war unter Verdacht, als Kind schon Übergriffen, mangelnder Abgrenzung oder Machtmissbrauch ausgesetzt gewesen zu sein. Als ob es nicht nette Familien gäbe, die «einfach so» mühsame Mitglieder produzieren.

Also, das lernt man alles ausführlich und wendet es an, und dann wird man plötzlich Mutter, Vater, was eine nicht abreissende Folge von «Nicht bei sich bleiben können», «Abgrenzung – das kannst du vergessen» und «Auch Säuglinge haben Macht und nutzen sie» nach sich zieht. Und dann hast du Teenager, und du musst wieder lernen, loszulassen, dich abzugrenzen und nicht übergriffig zu sein, auch wenn das Jungvolk dich rasend macht. Wenig später oder gleichzeitig hast du alte Eltern, die wollen sehr gerne unabgegrenzt sein, scheuen weder Übergriffe noch Machtmissbrauch – selbstverständlich gegenseitig –, sind aber auch flexibel in der Lage, dies als Zeichen von Nähe und Familiensinn zu deuten.

Und jetzt die gute Nachricht: Wenn du selbst älter wirst und sich nicht mehr so viele Leute für dich interessieren, dann endlich bleibst du mühelos ganz bei dir, musst keine Energie einsetzen, um dich abzugrenzen, und der Problembesitz wird dir problemlos überlassen. Arthrose und so Zeugs. Toll, nicht?

Gelesen in der Samstagsausgabe der NZZ, aus der Feder von Rolf Dobelli, dem Hansdampfalleswisser und Populärtexter mit Philosophenanspruch: «Das 5-Sekunden-Nein», ein Text über das Neinsagen. Er entwickelt seine Theorie an den Usanzen der Primaten, also Affen, und wir sollen aufpassen, wann und ob wir es ihnen gleichtun oder nicht. Affenmässiges macht ja Spass, aber Dobelli etwas weniger, denn er fordert uns wirklich auf, fast jegliches Ansinnen eines Gegenübers mit Nein abzuschmettern, da es «mehr Zeit kostet, es zu erfüllen, als es unter dem Strich bringt». Oder ein bisschen anders: Wir bewerten unvernünftigerweise Gründe, etwas einander zuliebe zu tun, höher als die aufzuwendende Zeit; und da es unendlich viele Gründe geben soll, aber nur wenig Zeit, soll man es sich angewöhnen, Nein zu sagen. – Der Mann ist wahrlich ein Gefühlsökonom, aber weiss er, dass er an der volatilsten aller Börsen handelt? Ärgerlich. Er darf sogar in der NZZ unter der Kopfzeile «Die Kunst des guten Lebens» schreiben. Und belegt dann seine Flachheiten mit einem Spruch von Warren Buffett, dass nämlich sehr erfolgreiche Menschen zu fast jeder Bitte Nein sagen würden.

Da bin ich doch lieber Affe. Die erinnern sich an gute Taten und reziprozieren. Egal, wie aufwendig es ist. Und der Dobelli, der wird irgendwann älter, und dann will er, dass jemand etwas für ihn tut, und der angesprochene Jemand sagt: «Dobelli, du warst mein Vorbild, ich habe von dir gelernt, dass man Nein sagen soll, sonst ist man für alle der Affe, und nein, ich kann dich nicht lausen, weil der Zeitaufwand grösser ist als mein Lustgefühl – du weisst, damals am 6. Mai 2017 hast du mir ein neues Leben geschenkt mit deiner Schreibe, und wenn ich dich jetzt so vor mir sehe, hab ich nicht das Gefühl, dass da noch viel zurückkommt, rein unter dem Strich, du verstehst, tschüs!»

Derweil gingen die Franzosen an die Urne, und ich vermute, Le Pen hätte nicht öffentlich sagen sollen: «Frankreich wird von einer Frau regiert werden, von mir oder von Frau Merkel!» Franzosen, die unter dem Matriarchat leben, offiziell? Hillary lässt grüssen.

Wobei – wie das gehen könnte, hat die vor ziemlich genau 300 Jahren ­geborene «Frau Kaiserin» Maria Theresia, die Habsburgerin (zur Kaiserin wurde sie offiziell nie gekrönt, aber sie hat das Staatswesen geleitet), gezeigt. In zahlreichen Publikationen wird anlässlich des Jubiläums beschrieben, wie sie über Jahrzehnte in Wien regierte – eine erstaunliche Persönlichkeit, nicht nur an den Werten der damaligen Zeit gemessen.

Julia Hänny war bis zur Pensionierung nach- und nebeneinander Ärztin und Familienfrau.

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