Ist der Rheinfall doch nicht der Grösste?

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Einzigartiges Naturschauspiel: Der Rheinfall besticht durch Schönheit und schiere Kraft. Für den «grössten Wasserfall Europas» könnte das dennoch zu wenig sein. Bild: Michael Kessler

Er gilt als der grösste Wasserfall Europas. In Norwegen und Island gibt es jedoch mächtige Konkurrenz.

von Laura Marinovic 

Eindrucksvoll rauschen seit der Eiszeit täglich mehrere Millionen Kubikmeter seines Wassers in die Tiefe. Schaffhauserland Tourismus und die IG Rheinfall preisen ihn auf ihren Internetseiten als «grössten Wasserfall Europas». Diesen Titel könnte der Rheinfall jedoch zu Unrecht tragen.

Tatsächlich gibt es mehrere Wasserfälle in Europa, die sich aus einer weitaus grösseren Höhe über Felsen hinabstürzen. Der Vinnufossen im Westen Norwegens etwa ist 860 Meter hoch, sein Landsmann, der Langfossen, 655 Meter. Und auch die Schweiz selbst hat mit den Seerenbachfällen einen Riesen vorzuweisen, der sich auf einer Gesamthöhe von 585 Metern jedoch in drei Abschnitte unterteilt.

Konkurrenz aus dem Norden

Ginge es nur darum, wie tief das Wasser fällt, stünde der Rheinfall weit hinten auf der Liste. Robert Boes, Professor für Wasserbau und Direktor der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) an der ETH Zürich, berücksichtigt bei der Grösse eines Wasserfalls vor allem Höhe und Wasserdurchfluss. Und jeder, der schon einmal von der Uferpromenade aus einen Blick auf den Rheinfall geworfen hat, kann die schiere Kraft des hinabstürzenden Wassers ­bezeugen.

Rund 373 Kubikmeter davon stürzen hier im Jahresdurchschnitt pro Sekunde aus einer Höhe von 23 Metern in den freien Fall. In Europa zählt der Rheinfall damit zu den wasserreichsten Fällen. Dennoch: Es existiert starke Konkurrenz. In Norwegen geht der Fluss Vefsna in den Laksforsen über. Mit 17 Metern Höhe ist dieser zwar niedriger als der Rheinfall, scheint das Neuhauser Wahrzeichen jedoch in einer anderen Hinsicht zu überbieten: Im Jahresdurchschnitt sollen laut norwegischen Tourismusseiten 700 Kubikmeter Wasser pro Sekunde über seine Kante hinabstürzen, fast doppelt so viel wie beim Rheinfall. Ist der Titel damit verloren?

Ånund Killingtveit von der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technik in Trondheim zweifelt an den genannten Zahlen. Seines Erachtens sind die Angaben der Tourismusseiten viel zu hoch gegriffen. 700 Kubikmeter pro Sekunde seien zwar durchaus üblich zu Hochwasserzeiten, entsprächen sonst jedoch nicht der Realität. Zwischen 1961 und 1990 habe der durchschnittliche Durchfluss des Laksforsen gerade einmal bei 230 Kubikmetern pro Sekunde gelegen, und auch heute sollte sich daran nicht viel geändert haben.

Wikipedia schlägt noch einen weiteren «leistungsstärksten Wasserfall Europas» vor: den Dettifoss in Island. Zwar sollen hier im Jahresdurchschnitt lediglich 193 Kubikmeter Wasser pro Sekunde herabstürzen, laut Reiseseiten übertrifft er den Rheinfall mit einer Höhe von 45 Metern jedoch deutlich.

Killingtveit verweist allerdings noch auf einen anderen Wasserfall – den Sarpsfossen, ebenfalls in Norwegen zu finden.

Grössere Wassermenge

Bezüglich der Fallhöhe leisten er und der Rheinfall sich mit jeweils rund 23 Metern ein Kopf-an-Kopf-Rennen, mit seiner durchschnittlichen Wassermenge lässt der Norweger den Neuhauser Fall jedoch alt aussehen. Im Jahresdurchschnitt rauscht der Fluss Glomma mit 577 Kubikmeter pro Sekunde zwischen den Häusern der Stadt Sarpsborg in die Tiefe – das sind ganze 200 Kubikmeter mehr als in Neuhausen.

Eindrucksvoller als der Rheinfall sieht der Sarpsfossen trotz dieser Massen jedoch nicht aus. Grund hierfür ist die Nutzung des Wasserfalls für die Stromgewinnung. «Normalerweise wird der Grossteil des Wassers in die Wasserkraftanlagen umgeleitet», sagt Killingtveit. Der Fall sei daher die meiste Zeit über nicht in seinem vollen Ausmass zu sehen. Erst wenn die Wassermengen während eines Hochwassers die Kapazität der Kraftwerke überstiegen, sei seine gesamte Kraft zu erkennen. Dennoch: Auch der Rheinfall dient der Energiegewinnung, wie Robert Boes betont. Der durchschnittliche Abfluss über die Turbinen des Kraftwerks liegt jedoch lediglich bei rund 20 bis 30 Kubikmetern in der Sekunde, weshalb der Rheinfall nur einen kleinen Teil seiner Kraft einbüsst. Kein Vergleich zum Sarpsfossen.

Schönheit des Rheinfalls

Was bedeutet all das für den Rheinfall? Darf er seinen Titel behalten?

Für Schaffhauserland Tourismus sind Wassermenge und Höhe nicht die entscheidenden Kriterien. «Wir berücksichtigen vor allem die Breite eines Wasserfalls», sagt Bea Käppler. Beim Rheinfall sind das 150 Meter.

Grundsätzlich lässt sich über die Frage der Grösse wohl streiten: Können die Wassermassen des Sarpsfossen oder die Fallhöhe des Dettifoss den Schweizer Wasserfall übertrumpfen? Es liegt wohl im Auge des Betrachters. Und in einem hat der Rheinfall gegen den Sarpsfossen definitiv gewonnen: Er ist zweifellos der Schönere. Der Lage zwischen aufragenden Felsen und dem Schloss Laufen in Kombination mit dem klaren, türkisblauen Wasser hat der Sarpsfossen, der eingeklemmt inmitten von Industriegebäuden und einer Brücke eher braunes Nass transportiert, nur wenig entgegenzusetzen.

Eindrucksvoller als der Rheinfall sieht der Sarpsfossen trotz seiner Wassermassen nicht aus.

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