«Ich bin immer noch ein wenig die Fremde»

Alfred Wüger | 
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Masha Karell spielt im Musical «Anna Göldi», das zurzeit in Neuhausen am Rheinfall in der SIG-Halle zu sehen ist, die Hauptrolle. Die dynamische Schauspielerin, die in Bern lebt, lud zum Gespräch ins Hotel Bellevue Palace.

«Treffpunkt Hotel Bellevue Palace, 13 Uhr», so hatte es im Mail von Mascha Karells Agentur geheissen, und pünktlich auf die Minute erschien sie dort vom Bundeshaus her, im Laufschritt, weil gerade ein heftiger Regen einsetzte. Sie trägt einen beigen Mantel, halbhohe flache Stiefel, Jeans und einen braunen Hut, eine Schulter- tasche. Wir treten ein in diesen Palast aus Luxus und grosser Welt und werden zu einem Tischchen geleitet, wo alsbald Berner-Rosen-Tee für die Dame und ein Kaffee serviert wird. «Ich habe mich hier mit Ihnen getroffen, weil es ruhig ist», sagt Masha Karell, und der Reporter denkt, dafür hätt’s auch irgendeine Kaschemme in einer Seitenstrasse getan. Aber wer würde tauschen wollen?

Ein lebendiges Frankfurter Kind

«Was haben Sie für eine Beziehung bekommen zur Anna Göldi? Ist diese Person Ihnen nahe gekommen, oder ist sie Ihnen fern geblieben?» Da es keine direkten Zeugnisse von Anna Göldi gebe, sagt Masha Karell, könne sie die Figur recht frei gestalten. «Ich versuche, in ihr nicht so sehr das Tragische zu sehen, sondern möchte das Bild eines Menschen vermitteln, der Träume hat. Sie stammte zwar aus einer armen Familie, hatte viele Geschwister und keine einfache Kindheit, aber sie konnte lesen und schreiben und hat ihr Leben in die Hand genommen.»

Ihre eigene Kindheit verbrachte Masha Karell als Antje Masha Karell-Kattge in Frankfurt am Main, in einer Gegend, die damals ein Arbeiterviertel war. Schon ganz früh allerdings hat sie gemerkt, dass sie eine Künstlerin ist. «Als Achtjährige kam ich in den Kinderchor der Frankfurter Oper, da habe ich Blut geleckt. Neben der Oper konnte ich dann auch im Sprechtheater spielen, da man dort immer wieder Kinder gebraucht hat.» Ihre Eltern seien ganz bodenständige Menschen gewesen. «Meine Familie hatte keine Beziehung zum Theater. Ich war ein lebendiges Kind, hatte eine Riesenfreude am Theater, und zum Glück haben mich meine Eltern in meinem Wunsch auch unterstützt.» Masha Karell hat einen älteren Bruder. Der sei allerdings nicht Künstler geworden, sagt sie und lacht.

Sprache und Musik prägen die Arbeit von Masha Karell bis heute. «Ich bin eine Grenzgängerin», sagt sie, die auch im Restaurant den Wetterhut nicht abgenommen hat, mit lebhaften Gesten. «Denn ich bin im Sprech- wie auch im Musiktheater tätig. Das ist in Deutschland und in der Schweiz sehr ungewöhnlich. In England oder Amerika hingegen ist es normal, dass jemand spartenübergreifend arbeitet.»

Masha Karell ist viel unterwegs. Aber obwohl sie das Glück hat, Rollenanfragen zu bekommen und auch einen guten Draht zu Katharina Rupp, der Schauspielintendantin des Theaters Biel/Solothurn, hat, geht sie nach wie vor zum Vorsprechen. Das gehört einfach zum Beruf dazu. «Aber natürlich würde ich mir wünschen, vermehrt in der Schweiz arbeiten zu können.» Hier, in Bern, hat sie inzwischen ihre Heimat gefunden, hier lebt sie mit ihrem Mann und drei Kindern. Gefunkt zwischen Masha und ihrem Gatten hat es – wie könnte es anders sein? – auf einem Set. «Mein Mann ist Chefkameramann beim Schweizer Fernsehen, und wir haben uns bei den Dreharbeiten auf einem Kreuzfahrtschiff kennengelernt. Wir drehten dort eine Reisedokumentation über Norwegen und Dänemark für einen deutschen TV-Sender – ich stand vor seiner Kamera. Es war Liebe auf den ersten Blick.»

 

 

Gerade weil Masha Karell weiss, dass der Künstlerberuf nicht gerade familienfreundlich ist, sagt sie: «Meine Familie ist mein Ruhepol. Die Kinder sind schon gross, nur mehr mein jüngerer Sohn und die 13-jährige Stieftochter wohnen bei uns. Mein Mann ist mir eine grosse Stütze, dass ich meinen Beruf so ausüben kann.» Weil eben die Möglichkeiten, in der Schweiz zu arbeiten, beschränkt sind, steht Masha Karell oft im Ausland auf der Bühne. Auch nach dem Engagement in Neuhausen am Rheinfall geht es nach Deutschland, nach Hamburg und Stuttgart. Sie hat im Musical «Mary Poppins» eine Rolle bekommen. «In diesem Stück mitzuspielen, ist ein Kindheitstraum von mir», sagt sie. «Ich spiele dort die Miss Andrew, das böse Kindermädchen.» Auch dies ist eine spartenübergreifende Rolle mit Sprechtext und Gesangspartien, ideal für die Grenzgängerin Masha Karell.

Die vielen Reisen, das dauernde Unterwegssein nimmt die Schauspielerin in Kauf. «Ich liebe ja meinen Beruf», sagt sie. Masha Karell bezeichnet sich als Wahlbernerin und fügt enthusiastisch und temperamentvoll hinzu: «Ich liebe Bern. Gerade wenn man viel unterwegs ist, ist es wunderschön, an einen Ort zu kommen, der eine solche Ruhe ausstrahlt. Abgesehen davon bin ich natürlich dort zu Hause, wo meine Familie ist.» Masha Karell hat während der Ausbildung unter anderem auch in Wien gelebt. «In Österreich», sagt sie, «wird der Künstler unglaublich geschätzt. Morgens in der Bäckerei werden Sie mit dem Namen begrüsst, und die Frau hinter dem Ladentisch sagt: ‹Gestern haben Sie aber wirklich wunderbar gesungen und gespielt.›» In der Schweiz sei man in dieser Hinsicht viel verhaltener.

Schon immer schlecht in Dialekten

Trotzdem: Die Liebe zur Schweiz ist für Masha Karell kein Lippen- bekenntnis: Ihre Einbürgerung steht bevor. «Nur mit dem Berndeutsch hapert’s», sagt sie. «Aber ich war schon an der Schauspielschule schlecht in Dialekten. Ich bin immer noch ein bisschen die Fremde. Das habe ich mit der Anna Göldi gemeinsam.»

Aber nicht nur das. Masha Karell ist eine Frau mit Temperament, und dieses Temperament legt sie auch in die Figur der Anna Göldi. Das war nämlich eine starke und selbstbewusste Frau. «Die Zeichnung beider Frauencharaktere im Musical gibt einen Einblick über die Stellung der Frau in der damaligen Zeit», sagt Masha Karell. Frau Tschudi hat elf Kinder geboren, war also dauernd schwanger, und als Anna Göldi von Tschudi auch schwanger wurde, musste ein Grund gefunden werden, sie zum Sündenbock zu machen. Ehebruch durfte sich eine Amtsperson damals nicht leisten. Da passte es dann ganz gut, dass Miggeli, die kleine Tochter der Tschudis, eines Morgens plötzlich Nägel spuckte, die in der Milch gewesen waren. Wie hätte man es anders erklären sollen als mit Hexerei, als mit dem Wirken der «Hexe» Anna Göldi?

«Meinen Mann habe ich beim Drehen kennengelernt. Ich stand vor seiner Kamera. Es war Liebe auf den ersten Blick.»

Und wie interpretiert Masha Karell diesen Vorfall mit den Nägeln? «In der Zeit, wo das Stück spielt, war ein Mädchen weniger wert. Von den elf Kindern haben sechs überlebt, und das Miggeli gehörte nicht zu Tschudis Lieblingskindern. Mirco Vogelsang hat den Fall in seinem Stück fast kriminalistisch aufgerollt, und vielleicht steckte sogar die Mutter hinter den Nägeln. Es gab damals viel Aberglaube, und Anna Göldi wurde zum Sündenbock gemacht.» Kurz: Das Stück hat einen offenen Schluss. Die reale Anna Göldi wurde inzwischen, posthum, rehabilitiert, im Jahr 2007.

Wer das Musical in der SIG-Halle in Neuhausen besucht, ist beeindruckt von der Intensität der Sologesangspartien. «Wie anstrengend ist dieses Singen, Frau Karell?» – «Das hat nichts mit Anstrengung, sondern mit Konzentration zu tun. Nach aussen soll es leicht wirken, aber natürlich erfordert es Konzentration und Kraft, eine Rolle zu erarbeiten und jeden Abend voll einzusteigen.»

Das Spielen ist kein Spaziergang

Die Komplexität der Figur Anna Göldi sei schon sehr gross, und der Stoff sei schwer, aber: «Sie war, mit 48, für diese Zeit relativ alt und hat viele Schicksalsschläge durchgemacht. Ich möchte zeigen, dass trotzdem Hoffnung in ihr steckte, und helfen, ihre Persönlichkeit zu begreifen.» Das Spielen in der SIG-Halle sei natürlich nicht so anstrengend wie das, was ein Formel-1-Fahrer leiste, aber es sei auch kein Spaziergang. «Insgesamt spielen wir acht Vorstellungen die Woche. Entspannen tue ich mich unter anderem gerne beim Joggen.» Ja, auch mal am Rheinfall, aber oft im Wald.

 

 

«Und nachts, träumen Sie da von der Rolle?» – «Während der Probenzeit träumt man nachts, ja. Man arbeitet bis zu 12 Stunden am Tag, steht am Morgen mit der Rolle auf und geht abends mit ihr zu Bett. Man entwickelt während dieser Zeit die Figur, und das arbeitet natürlich in einem.» In dieser Phase sei es sogar gut, wenn sie sich zeitweise zurückziehe. Dennoch ist Masha Karell auch während der Proben immer wieder nach Hause gefahren, um die Kinder zu sehen und in den Alltag zurückzukommen: «Sobald ich zu Hause bin, bin ich in einer anderen Welt – eine wunderbare Abwechslung zum Theaterleben.»

Mit dem Handy die Lobby knipsen

Masha Karell zu Hause am Flügel und lauthals ihren Part übend, ist das ein Bild, das stimmt? Nein, nicht so ganz. Sie sagt: «Natürlich gehö- ren Stimmübungen und Einstudie- rung der Partie zu Hause zur Arbeit dazu. Dadurch dass ich so viel unterwegs bin, viel arbeite und viel mit Musik zu tun habe, liebe ich allerdings zu Hause die Stille.»

Als Anna Göldi in Glarus beim Arzt und Fünferrichter Tschudi eine Anstellung fand, das war ums Jahr 1782, gab es in Bern noch kein Hotel Bellevue Palace. Dieses wurde erst vor rund 150 Jahren eröffnet. Masha Karell ist von der Architektur dieser ersten Adresse in Bern ganz hingerissen. Kurz bevor wir gehen, fotografiert sie den Raum, das Treppenhaus mit dem roten Teppich und die Gemälde an den Wänden mit ihrem Handy. Dann verlassen wir die opulente Umgebung und treten hinaus in den prosaischen Alltag, wo sich die Wege der Schauspielerin und des Reporters vor dem Bundeshaus dann wieder trennen.«In Österreich wird der Künstler unglaublich geschätzt. Am Morgen werden Sie in der Bäckerei mit dem Namen begrüsst.»

 

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