Grosse Materialschlacht in der Höhe

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Im Sommer zieht es viele Menschen in die hiesigen Berge. Auf dem Bild ist ein Wanderer auf dem Weg zur Schesaplana oberhalb von Seewis auf 2965 Meter über Meer. Bild: Key

Für Ultraleichtwanderer zählt jedes Gramm. Sie packen ihre Ausrüstung mit der Briefwaage und geben für das Wenige viel Geld aus.

von Katja Fischer de Santi

Es fängt meist ganz harmlos an. Man wollte doch nur trocken auf den nächsten Hügel kommen und steht dann mit einem mehrfach beschichteten, ultraleichten, brutal atmungsaktiven Jäckchen vor dem Spiegel im Fachgeschäft. «Wiegt nur gerade 300 Gramm, und können Sie klein wie einen Apfel zusammenknüllen», flüstert der Verkäufer verschwörerisch. Willkommen in der Welt des Ultraleichtwanderns. Wo Gramme mehr zählen als Höhenmeter und das Packen des Rucksacks schon mal mehrere Tage in Anspruch nehmen kann.

Monatelange Recherche

Als Alexander Düren vor drei Jahren loszog, um in 34 Tagen von München nach Venedig zu wandern, hatte er einen nur elf Kilo leichten Rucksack dabei. Monatelang hatte er dafür recherchiert, verglichen und gewogen. Keinesfalls wollte er sich, wie bei ­seiner ersten längeren Wanderung, mit 19-Kilo-Rucksack am zweiten Tag mit Rücken- und Fussschmerzen zum Zeltplatz schleppen, wie der ­Kölner auf ­seinem Blog Bergreif.de schreibt. Doch elf Kilo waren Alex­ander Düren noch nicht wenig genug; seine Ausrüstungsdiät hatte erst ­angefangen.

Kocher wiegt nur zehn Gramm

Als der Webdesigner diesen Mai seine Wanderschuhe schnürte, um bis nach Nizza zu gehen, hatte er gerade mal ein fünf Kilo schweres Rücksäckchen zu schultern. Von seiner früheren Ausrüstung hat es allein die Zeckenzange ins ultraleichte Gepäck geschafft. Von den getrockneten Zahnpastatabs (11 Gramm) über den Dosenkocher (10 Gramm) bis zum Wanderhemd (190 Gramm) und den selbst geschneiderten Regenhosen (68 Gramm) hat Düren alles perfekt auf seine Bedürfnisse abgestimmt. Er wird schon fast nach Nizza schweben.

Mit zwei Kilo über die Alpen

Laut Definition beginnt Ultraleichttrekking (UL) erst unterhalb eines Basisgewichts von knapp fünf Kilogramm. Mit Basisgewicht ist der gefüllte Rucksack ohne Proviant gemeint. Weil aber fünf Kilo für echte Gewichtsfetischisten noch immer zu schwer wiegen, spricht man ab 2,5 Kilo von Super-Ultralighttrekking. Dieser Bereich bleibt nur absoluten Freaks und Spezialisten vorbehalten. Denn mit 2,5 Kilo gilt es, nicht einen Sonntagsausflug zu bewerkstelligen, sondern eine mehrtägige Tour im hoch­alpinen Bereich zu bewältigen. Ultralighttrekking verhält sich zum normalen Wandern wie ein Formel-1-Rennwagen zu einem Familienvan. Für Berggänger, die Plastikgeschirr, Dosenravioli und Ersatzwäsche mitschleppen, haben Ultraleichtwanderer nur ein müdes Lächeln übrig. Es gilt, an die Grenze des Machbaren zu gehen. «Lose Weight, Feel more» lautet eine Losung der Bewegung. Näher ran an die Natur im 265 Gramm leichten «Twin Tarp». Ein Zelt, das nur aus einem ultradünnen Nylontuch besteht. Aufgespannt an ebenfalls ultraleichten Carbonwanderstöcken. Unterboden, Windfang, Moskitonetz, Reissverschluss sind für den Ultraleichttrekker nur belastender Luxus, also weg damit. Herkömmliche Zelte werden in UL-Foren schon mal als «Bunker» beschrieben, Gepäckstücke über zehn Kilo als ultraschwer bezeichnet. Stattdessen wird geraten, die Isomatte auf die Kör­perform zuzuschneiden, das Wasser aus Plastikbeuteln zu trinken und auf Bambuszahnbürsten ­umzusteigen (Einspargewicht: zwei Gramm). Selbst überflüssige Etiketten werden von Leichtgewichtwanderern rigoros abgeschnitten. Es gilt die Reduktion auf das Notwendige. Für Aussenstehende hat das aber auch etwas Zwanghaftes. Die Ausrüstung ist nicht mehr Mittel zum Zweck, sie ist der Zweck selbst.

Ende der Gewichtsschraube erreicht

«Grammfuchserei» nennt Lukas Herrmann das, was er selbst jahrelang betrieben hat. Der 38-jährige Sportartikelverkäufer hat in den letzten Jahren viele, zum Teil monatelange Wandertouren in Europa absolviert. 14 Tage in den Dolomiten mit 4,4 Kilo, durch Bulgarien mit 6 Kilo. «Irgendwann ist das ­Gewichtsschraubengewinde am Ende. Die Gewichtsersparnis ist dann so gering, dass man mehr herausholt, wenn man unterwegs die Sohlen nach verklemmten Kieselsteinen absucht und diese entfernt», sagt Herrmann. In der UL-Szene gebe es Leute, die ­tagelang vor Tabellen hockten und Gewichte studierten und darob ­ kaum mehr zum Wandern kämen. ­Dabei: «Wer eine Tour mit drei Kilo Gepäck nicht schafft, schafft sie auch mit dreieinhalb Kilo nicht», sagt Herrmann. Wirklich Gewicht einsparen lasse sich bei den grossen vier: Rucksack, Schlafsack, Isomatte und Zelt.

Der gebürtige Berner, der heute in Frauenfeld lebt, hat einige Jahre in einem grossen Outdoorgeschäft gearbeitet. Er weiss, dass Ultraleichtwandern ein Trend ist, den die Hersteller nur zu gerne befeuern. Keine Marke, die heute nicht mindestens ein Leichtgewichtjäckchen im Angebot hat. Dünn wie Frischhaltefolie, so schwer wie ein iPhone und auch fast so teuer. Was die Geschäfte nicht davon abhält, sie auch Sonntagsausflüglern zu verkaufen.

Outdoorbranche magert ab

Weniger Gewicht ist ein starkes Verkaufsargument. Die Magersucht an der Ausrüstung ist einer der letzten Innovationsbereiche einer Branche, deren goldene Zeiten vorbei sind. Nicht zuletzt ist es aber auch den intensiven Diätprogrammen der Ausrüster zu verdanken, dass man heute auch für mehrtägige Wandertouren kein Konditionstier mehr sein muss. Rucksäcke mit 30 Kilo und mehr sind in den Bergen selten geworden. Mit leichtem Gepäck ist es möglich, bequemer, schneller und weiter zu wandern.

Diese Erkenntnis ist nicht neu. Schon 1924 publizierte ein Brite namens Arthur C. Comey ein kleines Heftchen mit dem Titel «Going Light». «Maximaler Komfort mit minimalem Gewicht ist unser Ziel», schrieb Comey. Und er schaffte es schon vor 100 Jahren ohne Hightechmaterialien, mit weniger als fünf Kilo Gepäck unterwegs zu sein. Inklusive Axt und Zigarren, versteht sich.

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