Über hohe Hürden zur Schnupperlehre

Reto Zanettin | 
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Wissen sie, wohin die Reise geht? ­Schülerinnen und Schüler bereiten sich auf die Berufswelt vor. Bild: Keystone

Schüler wollen während ein paar Tagen einen Beruf kennenlernen und melden sich für eine Schnupperlehre an. Dazu müssen sie oft umfangreiche Bewerbungsdossiers einreichen. Die Firmen betrieben einen Selektionsprozess um die Besten, kritisiert der Lehrerverband.

Früher war nicht alles besser, aber manches einfacher. Die Berufswahl zum Beispiel. Wer einen Beruf aus der Nähe kennenlernen wollte, konnte dies relativ unkompliziert tun. Für die Zusage zu einer Schnupperlehre war oft nur ein Telefonat nötig. Doch diese Zeiten sind in manchen Firmen vorbei.

Die Hürden noch relativ tief angelegt hat der Schaffhauser Industriekonzern Georg Fischer. Hier reicht ein Telefon oder das Ausfüllen eines einfachen Internetformulars. «Es sind keine Bewerbungen für eine Orientierungsschnupperlehre nötig», teilt Mediensprecher Beat Römer mit. Der Schaffhauser Kantonalbank (SHKB) genügen das Interesse am Beruf, der Besuch der Sekundarschule A oder einer gleichwertigen Ausbildung sowie die Absicht, im Folgejahr eine Lehre zu beginnen.

Andernorts ist der Bewerbungsprozess für eine Schnupperlehre hingegen ziemlich anspruchsvoll. Als besonders auffälliges Beispiel hat sich das Wasserforschungsinstitut des Bundes, die Eawag, herausgestellt. Bei ihr können sich Schülerinnen und Schüler während zwei Tagen als Laboranten, Kaufleute sowie als ICT-Fachpersonen ausprobieren. Dafür müssen sie sich mit einem A4-seitigen, handgeschriebenen Aufsatz, Schulzeugnissen und einem Formular bewerben. Das Formular erstreckt sich über zwei Seiten. Es soll mit einem Passbild bestückt werden. Erfragt werden Personalien, besuchte Schulen, Name, Vorname, Geburtsjahr, Beruf und Arbeitgeber der Eltern. Unter «Allgemeine Angaben» sollen die Schüler über Hobbys und darüber informieren, ob «Krankheiten oder Behinderungen vorliegen, welche zu Problemen während der Ausbildung führen könnten». Offensichtlich wird das Anliegen, dass der Aufenthalt bei der Eawag nicht von Allergien oder Asthma beeinträchtigt wird. Insofern sei die Frage an und für sich zulässig, sagt Arbeitsrechtsexperte Gregor Ruh.

Umstrittener Eignungstest

Das Versicherungsunternehmen Baloise, die Confiserie Sprüngli, die Gewerkschaft Unia und andere Firmen: In aktuellen Lehrstelleninseraten wünschen sie neben Motivationsschreiben, Lebenslauf und Zeugnissen auch einen sogenannten Multicheck. Dieser Eignungstest gehört bei ihnen also ins Bewerbungsdossier. Pikant: Multicheck ist das Produkt eines privaten Anbieters, Gateway.one. Und der arbeitet nicht gratis. Ein Multicheck kostet zwischen 60 und 100 Franken. Freilich ist es möglich, dass die Betriebe diese Kosten nach einer Zusage übernehmen. Allerdings gibt es den Test für acht verschiedene Berufsgruppen. Unterschiedliche Tests braucht somit beispielsweise, wer sich als Kaufmann, als Mediamatiker und als Detailhandelsfachmann bewirbt. Entsprechend multiplizieren sich die Testkosten für Jugendliche, die in ihrer Berufswahl unsicher sind oder sich nach einer erfolglosen Bewerbung umorientieren.

Gateway.one verteidigt den Eignungstest, dieser erfasse Schulwissen sowie logisches Denken, Gedächtnis, Merkfähigkeit, Vorstellungsvermögen und Konzentration. Er informiere über Kompetenzen und Ressourcen und begünstige, dass Lehrbetrieb und Schulabgänger letztlich gut zusammenpassen.

Skeptisch ist hingegen Beat Schwendimann vom Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH). Dass zahlreiche Arbeitgeber bei der Bewerbung einen «Multicheck» verlangen, sei aus drei Gründen kritisch: «Erstens, dieser Test ist bloss eine Momentaufnahme. Zweitens, die Aussagekraft des ‹Multicheck› ist wissenschaftlich nicht belegt. Drittens, jeder Test kostet 100 Franken, was für Familien mit wenig finanziellen Mitteln eine Belastung ist.» Angeklungen ist damit, dass die Testkosten an der Chancengleichheit aller Jugendlichen kratzen. Reiche können diese Kosten eher übernehmen als Ärmere.

Eine Alternative zum «Multicheck» sieht Schwendimann im «Stellwerk»-Test, der an Schulen eingesetzt wird und Leistungen in Mathematik, Deutsch, Französisch, Englisch und bald auch in Natur und Technik prüft. Je ein Test kostet 10 Franken.

Relativ hoch ist der Bewerbungsaufwand auch beim Schaffhauser Pharmaunternehmen Cilag. Lebenslauf und Schulzeugnisse werden verlangt, und optimalerweise legten die Schüler ein Motivationsschreiben bei, teilt Kommunikationschef Thomas Moser mit. Das Dossier kann per E-Mail eingereicht werden. Ähnlich läuft es bei der Grossbank Credit Suisse. Für einen Schnuppertag füllen die Jugendlichen ein elektronisches Formular aus, sie sollen dabei in zwei Freitextfeldern über ihren Antrieb berichten sowie einen Lebenslauf und die letzten drei Schulzeugnisse hochladen.

Beat Schwendimann ist Geschäftsleitungsmitglied und leitet die pädagogische Arbeitsstelle beim Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Der Verband beobachtet die Entwicklung hin zu hohen Hürden für Schülerinnen und Schüler schon seit Längerem. Die Berufswahlphase sei sehr entscheidend für die Schülerinnen und Schüler, sie benötigten ausreichend Zeit und Begleitung durch ihre Lehrpersonen.

Schwendimann sagt auch: «Dadurch, dass manche Unternehmen aber sehr früh einen Selektionsprozess um die Besten in Gang gesetzt haben, unterlaufen sie die offene und unverbindliche Berufserkundung durch die Schülerinnen und Schüler.» Das sei klar ein Nachteil für die Berufswahl.

Der Pädagoge denkt, junge Menschen sollten «frei von Zeitdruck unterschiedliche Berufe erkunden dürfen, um den am besten passenden Beruf zu finden». Dadurch reduziere sich die Zahl der Lehrstellenabbrüche, verbessere sich die Berufszufriedenheit und verringere sich der Fachkräftemangel.

«Wenn jemand positiv auffällt, motivieren wir mündlich beim Abschlussgespräch, sich bei uns zu bewerben.»

Beat Römer, Mediensprecher von Georg Fischer

Schwendimanns Aussage, es gebe einen gar früh einsetzenden Selektionsprozess, wird von den Unternehmen nur teilweise widerlegt. Sie wollen den Schülern zwar Einblicke in ihre Berufswelt geben, Interesse wecken, Begeisterung auslösen. Eine Auswahl von aussichtsreichen Kandidaten läuft jedoch durchaus. Bei der Eawag finden nach den Schnuppertagen Gespräche zwischen Betreuern und Schülern statt, «um die Präferenzen herauszufinden», teilt Denise Freudemann vom Wasserforschungsinstitut mit. Sehr geeignet erscheinende Schnupperlehrlinge würden zudem wieder kontaktiert, sobald die neuen Lehrstellen ausgeschrieben seien. Beat Römer, Mediensprecher von Georg Fischer, schreibt den SN: «Wenn jemand positiv auffällt, motivieren wir mündlich beim Abschlussgespräch, sich bei uns zu bewerben.»

Hoher Aufwand

Gefragt nach besonders positiven Erfahrungen schreibt Thomas Moser von Cilag: «Wir konnten den Schüler, die Schülerin für einen Beruf begeistern, sodass er respektive sie später bei uns die Lehre absolviert hat und immer noch bei uns arbeitet.» Die Organisation und Durchführung von Schnupperlehren sei jedoch «sehr aufwendig».

Bei der Eawag sind mehrere Personen involviert, und der Aufwand sei «relativ gross». Einen Mehraufwand, «welchen wir jedoch gerne auf uns nehmen», betreibt die Migros, wie der Kommunikationsverantwortliche Andreas Bühler sagt. Die positiven Erfahrungen überwögen aber. «So erscheinen die Berufserkunder/innen oftmals sehr motiviert und haben Freude, den Arbeitsalltag in den unterschiedlichen Berufen kennenzulernen.»

«Sehr gerne Zeit» nehme sich die Personalabteilung der SHKB für die Schnupperangebote, wie Sprecherin Ramona Pfund mitteilt. Aufwendig sei lediglich die vorgängige Koordination des Rundgangs durch die Bank, da es Vorschriften bezüglich Bankkunden zu wahren gelten.

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