«Manchmal muss ich weinen, wenn ich die Nachrichten sehe​​​»

Janosch Tröhler | 
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Zu Tausenden strömen die Menschen in Venezuela auf die Strassen. Die Proteste gegen die Regierung haben schon dutzende Todesopfer gefordert. Wir haben mit Menschen aus der Region über die Lage gesprochen.

 

Jürg Margreiter, 50, Schaffhausen

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Ich zog 1992 nach Venezuela und gründete ein Anlagebau-Unternehmen. Ich lernte die Venezolaner als freundliche und zuvorkommende Menschen kennen. Das Land galt damals als wirtschaftlich und politisch stabil, war aber bereits korrupt. Venezuela hatte sich hinsichtlich der erwarteten Erdöleinnahmen mit internationalen Krediten eingedeckt und verschuldet. Es gab wenige Reiche, viele Arme und eine kontinuierlich wachsende Mittelschicht. Die Schulbildung befand sich im Anfangsstadium, war entsprechend mangelhaft und für die einfache Bevölkerungsschicht weitgehend fremd.

Die an den einfachen Hütten vorbeifahrenden Wochenend-Touristen vermittelten den Eindruck, dass in den Grossstädten das Geld einfach verteilt wird. So entstand die Landflucht. Auf dem Land lebten viele in einfachen Hütten und tauschten mit den Nachbarn, was man gerade so brauchte. Oder man arbeitete gerade mal so lange, bis die unmittelbaren Bedürfnisse für eine Zeit abgedeckt waren.

Wir gehen davon aus, dass unser Wissen die einzige Wahrheit ist

Ich konnte erleben, wie durch Unwissen, Armut entsteht: Die Konsumgesellschaft generiert einen Bedarf, der gar nicht existiert. Da kommt also einer aus Europa und fährt an diesen Hütten vorbei. Er schaut sich um und meint: «Herrgott, du hast ja gar keinen Kühlschrank.» Also verschenkt er seinen alten Kühlschrank. Aber so kommt auch die Stromrechnung, und jetzt hat der Venezolaner ein Problem: Er ist arm, weil er die Rechnung nicht bezahlen kann. Das ist pure Ignoranz der westlichen Gesellschaft. Man kann nicht einfach sagen, so wie es bei mir zuhause ist, muss es überall sein.

Die ausländischen Fachkräfte wurden kaum oder gar nicht integriert. Wir gehen davon aus, dass unser Wissen die einzige Wahrheit ist und wir somit das Richtige tun. Um die globalen Unternehmen entstanden Parallelgesellschaften mit Clubs und Privatschulen. Es gab Deutsche und Schweizer, die nach Jahren gerade so viel Spanisch konnten, um sich ein Bier zu bestellen.

Mit dem Erdöl-Boom war plötzlich unheimlich viel Geld da. Man verlor die Perspektive, wer wie viel verdienen sollte. Die Löhne für staatlich angestellte Ärzte und Polizisten reichten nirgendwo hin. Also nahmen die Leute unzählige Arbeiten an oder liessen sich ihre Dienste zusätzlich bezahlen um eine ausreichendes Einkommen zu generieren. Dabei konnten sie diesen Verpflichtungen nur ungenügend nachkommen. Ebenso waren die Regierungsmitglieder unterbezahlt und wurden bestechlich oder griffen gar in die Staatskasse.

Mein Unternehmen hatte keine Arbeit mehr. Ich hatte 25 Festangestellte. Es ging nicht mehr.

Es gab zwei grosse politische Bewegungen. Einerseits die «Acción Democrática» (AD), die den Kapitalismus förderte, weil sie dachte, dass das Erdöl alle ernähren würde. Andererseits gab es die «COPEI», vergleichbar mit unserer CVP, die vermehrt auf die Weiterentwicklung der inländischen Industrie und den Ausbau von technischen Schulen achtete.

1989 wurde Carlos Andrés Pérez (AD) zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt. Die Bevölkerung war die Korruption leid. Sie dachten, dass – nachdem er sich bereits in der ersten Amtszeit bereichert hat – nun nichts passieren würde. Aber Pérez griff noch mehr in die Kasse. Die Venezolaner sind gutmütig und halten sehr viel aus, doch damals begannen sie zu demonstrieren. Die Demonstration ist heute unter dem Namen «Caracazo» bekannt.

Das Militär putschte dann am 4. Februar 1992. Es wollte die Regierung absetzen. Diese schaffte es jedoch, die Generäle zu beschwichtigen. Aber man brauchte einen Schuldigen. Man griff also in die Masse an Offizieren und zog Hugo Chávez heraus und machte ihn für den Putsch verantwortlich. So wurde er zum Volksheld, auch wenn er für eine ganze Weile ins Gefängnis kam.

Pérez wurde dann doch abgesetzt und Rafael Caldera wurde wiedergewählt, nachdem er von 1969 bis 1973 bereits Präsident war. Er gewann die Wahl mit dem Versprechen, Chávez zu befreien. Das tat er auch. Ansonsten war seine zweite Regierungszeit nur mit noch mehr Korruption und Ungewissheit verbunden. Chávez verliess Venezuela und begab sich in die Obhut des Castro-Regimes, welches ihn auf die nächsten Wahlen in Venezuela vorbereitete und auf den Kommunismus einschwor.

Ausgerechnet bei den Wahlen 1998 gab es zwei sehr gute Kandidaten. Doch der Unmut in der Bevölkerung war zu gross, man erhoffte sich ein Ende der Korruption und militärische Ordnung, sodass Chávez gewann. Er zog erst einmal die Handbremse und stoppte alle Infrastrukturprojekte. Mein Unternehmen hatte keine Arbeit mehr. Ich sah mich gezwungen, zu reduzieren. Ich hatte 25 Festangestellte. Es ging nicht mehr. So kam ich 1999 mit meiner Frau und den beiden Kindern zurück in die Schweiz.

Wofür haben wir eine UNO, wenn sie nichts dagegen unternimmt?

Chávez gab erst den Armeeangehörigen das Stimmrecht, dann den mit Venezolanerinnen vermählten Ausländern das Recht auf die Staatsbürgerschaft. Später begann er mit Hilfe einer Gesetzesänderung, die kolumbianische Guerilla und Drogenmafia sowie Regime-freundliche Kubaner einzubürgern. In einem weiteren Schritt flog er sogar Chinesen für einen Urlaub ein, um sie über die Fremdenpolizei zu Papier-Venezolanern zu machen, ohne ihnen je ein Dokument auszuhändigen. Heute zählt das Land 29 Mio. Einwohner, obwohl niemals so viele dort leben. Diese Papier-Stimmen sind das Potential für Wahlmanipulationen. Meine Frau kann nicht wählen gehen, weil sie nicht für das Regime stimmen würde. Mit ihrer ID-Nummer kann sie aber online die Abstimmungen überprüfen  und muss mit ansehen, wie Ihre Stimme jedes mal dem Regime gutgeschrieben wird, ohne dass internationale Wahlprüfer wie die «Carter Gruppe» auf ihre Meldung von Manipulation der Wahlen eingehen.

Heute ist die die internationale Gemeinschaft aufgefordert, dieses kriminelle Treiben in Venezuela zu verurteilen. Wofür haben wir eine UNO, wenn sie nichts dagegen unternimmt? Kein Wunder, dass dann ein Trump kommt und wie ein halbstarker Rambo um sich schiesst, wenn wir als Gemeinschaft nicht bereit sind aufzustehen.

Die Situation ist unbeschreiblich. Es ist absoluter Terrorismus.

Im April verging kein Tag ohne Demonstration. Freunde und Verwandte schicken uns Bilder, wie die Menschen regelrecht abgeschlachtet werden. Leute verschwinden einfach. Eine Kollegin, die hier in der Schweiz auch immer an unseren Demos dabei war, ging nach Venezuela um ihre Familie zu besuchen. Sie wurde weggesperrt. Ärzte, die Oppositionellen helfen, werden weggesperrt. Unsere Regime-kritischen Verwandten und Freunde werden von den staatlich reglementierten Lebensmittelrationen – nicht mehr als Almosen – ausgeschlossen. Sie sind darauf angewiesen, dass wir ihnen Lebensmittel senden.

Lebensmittellieferung für Venezuela

Ich kann heute nicht nach Venezuela gehen, da ich mit grosser Wahrscheinlichkeit bereits bei der Einreise festgenommen werde. Auf meiner Facebook-Seite sind meine Beteiligungen an Demonstrationen für ein freies Venezuela ersichtlich. Zudem kann keiner meiner Verwandten mich am Flughafen abholen, ohne sich in Gefahr zu bringen, in einem der vielen politischen Gefangenenlager eingesperrt zu werden. Es ist einfach zu gefährlich. Ein Freund meinte: «Um Himmels Willen, komm ja nicht. Es ist uns nicht geholfen, wenn jetzt noch irgendjemand kommt. Das Venezuela, das du verlassen hast, gibt es nicht mehr.»

Die Situation ist unbeschreiblich. Es ist absoluter Terrorismus. Und es gibt zwei mögliche Szenarien: Man kann das Regime stürzen und fängt wieder bei Null an. Oder man schafft es nicht und stirbt. Leben oder sterben.

 

Nahum Gonzalez, 28, Schlattingen TG

Nahum Gonzalez

Ich komme aus Puerto La Cruz, ungefähr fünf Stunden von der Hauptstadt Caracas entfernt. Es war schön, an der Küste aufzuwachsen. Meine heutige Frau kam nach Venezuela um Spanisch zu lernen. Wir lernten uns am Strand kennen. Zwei Jahre lang besuchten wir uns regelmässig. Sie kam drei Monate zu mir, ich kam drei Monate in die Schweiz. Danach entschied ich mich, in die Schweiz zu ziehen.

In den letzten sechs, sieben Jahren wurde die Situation immer schlechter. Die Regierung will, dass alle gleich viel haben – einfach wenig. Sie will, dass die Menschen nicht reicher werden. Oder Studierte nicht weiter kommen. Man soll vom Staat abhängig bleiben.

Manchmal muss ich weinen, wenn ich die Nachrichten sehe.

Ich hätte nie gedacht, dass ich so um mein Land trauern könnte. Aber das tue ich. Ich muss hier im Internet nach Nachrichten aus Venezuela suchen. Wenn in der Stadt Menschen umgebracht werden, laufen im venezolanischen Fernsehen Filme oder Dokumentationen. Auch die Zeitungen dürfen nichts sagen. CNN hat jetzt eine App zur Verfügung gestellt, dass man live aus Venezuela übertragen kann. Die Regierung hat alle ausländischen Medien aus dem Land geschickt. Oft weiss ich mehr, als die Menschen vor Ort.

Manchmal muss ich weinen, wenn ich die Nachrichten sehe. Wenn ein Junger wie ich, 28 Jahre alt, stirbt, nur weil er Freiheit will. Ich kann nicht verstehen, wie man einen Menschen aus dem eigenen Land einfach umbringen kann, wenn er nicht einmal eine Waffe hat. Das macht mich traurig, wütend.

Ich gehe jedes Jahr nach Venezuela. Ich habe vor, auch dieses Jahr wieder hinzufliegen. Meine einjährige Tochter und meine Frau halten mich hier. Sonst wäre ich mit den anderen Jungen dort am kämpfen. Ich fühle mich schlecht. Sie kämpfen für ein besseres Land, ein besseres Leben und ich kann nichts anderes als auf Facebook und Instagram Informationen zu verbreiten. Ich habe keine Angst, dass mir etwas geschieht, wenn ich nach Venezuela ginge.

Meine Mutter hat bereits Lebensmittelvorräte angeschafft.

Alles muss sich ändern. Die ganze venezolanische Gesellschaft. Vom Militär bis zur Polizei. Ich habe mehr Angst vor denen als vor den Kriminellen. Die Art, wie die Menschen denken, muss sich ändern. Ich habe Freunde aus Facebook gelöscht, weil sie für die Partei sind. Ich hasse sie nicht. Wir sind zusammen aufgewachsen. Doch sie sind blind und schauen nur für sich. Sie sind zufrieden, wenn sie eine Schachtel mit zwei Kilo Teigwaren, Reis, Bohnen und einem halben Kilo Butter erhalten. Sie denken nicht an die anderen Leute. Wenn du gegen die Regierung bist, erhältst du keine Lebensmittel. Der Lohn reicht auch nicht, um im Supermarkt einkaufen zu gehen. Die Inflation ist viel zu hoch. Ich finde das nicht fair.

Ein paar meiner Freunde und Verwandten verschliessen einfach die Augen und leben ihr Leben. Vor 10 Jahren konnte man problemlos sein Essen kaufen. Jetzt entscheidet die Regierung, was du essen musst. Es ist wie in Kuba, einfach moderner. Es gibt Menschen, die sich nur von Mango ernähren. Am Morgen, am Mittag und am Abend… Weil sie kein Geld haben. Menschen verhungern. Das ist der Grund für die Kriminalität. Junge Väter kommen nach Hause und die Kinder haben Hunger. Doch die Väter sind arbeitslos, haben nicht studiert. Was bleibt ihnen anderes übrig?

Wer gehen kann, geht. Ein Freund lebt in Zug, ein anderer in Zürich. Der war in Venezuela reich und musste aus Caracas flüchten. Die Armen können nicht weg, andere bleiben und warten ab. Meine Mutter, mein Bruder, alle sind noch dort. Meine Mutter hat bereits Lebensmittelvorräte angeschafft. Sie erwartet, dass es diesen oder nächsten Monat richtig knallt.

Es tut weh, wenn dein eigenes Land immer kaputter und schlechter wird.

Vor einigen Wochen sind an einem Tag etwa 30 Menschen und 20 Militärs gestorben. Es gab eine Auseinandersetzung in einem Viertel von Caracas. Die Schwester eines Freundes rief an diesem Tag an und weinte. Sie sagte, es sei wie im Krieg. Nicht nur Tränengas und Gummischrot, sondern richtige Munition. Darüber spricht niemand. Die Regierung sagt, das sei alles von der Opposition inszeniert.

Es kann nicht sein, dass der Vize-Präsident das Land nicht verlassen darf, weil er als Drogenbaron gesucht wird. Er kann nicht einmal nach Kolumbien, weil die US-Drogenbehörde DEA ihn sonst verhaften würde. Es ist traurig, denn eigentlich ist Venezuela ein reiches Land. Wir haben Erdöl, könnten etwas mit dem Tourismus machen. Aber die Menschen sind zu Monstern geworden. Es ihnen egal, ob Leute sterben oder verhungern. Jeden Tag sterben im Spital Neugeborene, weil die Medikamente fehlen oder der Strom ausfällt. Die kleinen Kinder müssen in Kartonschachteln schlafen.

Es tut weh, wenn dein eigenes Land immer kaputter und schlechter wird. Ich wache nachts oft auf und denke: Es muss sich etwas ändern. Wenn sich nichts verändert, muss ein anderes Land etwas unternehmen. Das will ich aber nicht, weil in einem Krieg immer viele Unschuldige sterben.

Wenn ich Menschen hier erzähle, was in Venezuela los ist, reagieren die einen erstaunt. Andere sagen, das sei so weit weg und betreffe sie nicht. Wenn etwas in Frankreich passiert, kommt es riesig in der Zeitung. Wenn hingegen 100 Menschen in einem fernen Land sterben, gibt es eine kleine Meldung. Das ist ungerecht. Alle Menschen sind gleich.

 

Hans Meier*, Venezuela (Name geändert)

Hans Beier

Auf einer Reise kam ich zum ersten Mal nach Venezuela. Ich traf einen Schweizer, der eine Farm hatte, und fing an, bei ihm zu arbeiten. Es war damals ein sehr schönes und sicheres Land. Es gab genügend Arbeit und man verdiente nicht schlecht. Damals wusste ich noch nicht, ob ich dort bleibe. Nun sind es 35 Jahre geworden.

Ich habe Maschinenmechaniker gelernt. Mit einem Freund machte ich ein Geschäft in Caracas auf. Ich lernte jemanden kennen, der im Landesinneren eines Stück Land von den Indianern erworben hatte. Doch er hatte nur das Nutzungsrecht, durfte also keinen Zaun aufstellen und Tiere dort weiden lassen. Die Traktoren blieben deshalb in Caracas.

Irgendwann beschlossen wir, im Estado Guarico eine Finca zu kaufen und fingen richtig an. Das war 1990. Wir aus dem Nichts etwas erschaffen.

Vor vier oder fünf Jahren fingen die Schwierigkeiten an.

Venezuela lernte ich als vielfältiges Land mit unglaublich freundlichen Menschen kennen. Es hat Berge, Strände und Urwald. Man konnte das Auto überall hinstellen. Es wurde nie etwas gestohlen. Ich nahm es als das am besten entwickelte Land in Südamerika wahr. Ich dachte nie, dass es soweit kommen könnte.

Ich habe die politischen Veränderungen wahrgenommen. Das Problem war, dass die sozialen Unterschiede zu gross wurden. So nahm die Kriminalität immer mehr zu. Auch der Unterschied zwischen Stadt und Land ist gewaltig. Dank Chávez, Maduro und dem ganzen Sozialismus sind wir 30 Jahre in die Vergangenheit zurückgefallen. Auf dem Land sind es vermutlich sogar 50 Jahre. Dort geben sich die Menschen noch mit einem Bananenbaum und einem Wellblech-Häuschen zufrieden. Weil es keine Entwicklung gibt, sind auch die Schulen sehr schlecht. Es existieren nach wie vor Analphabeten. Unter meinen Arbeitern gibt es etwa einen Drittel, der nicht richtig mit dem eigenen Namen unterschreiben kann.

Das Dorf ist etwa 40 Kilometer von meiner Farm entfernt. Vor vier oder fünf Jahren fingen dort die Schwierigkeiten an. Die Chinesen bauten dort eine Eisenbahnlinie. Es begann alles mit den Syndikaten, also den Gewerkschaften. Die sind nicht vergleichbar mit denen in der Schweiz, die sich dafür einsetzen, dass es den Arbeitern gut geht. Die Syndikate bestimmen, wo es lang geht, wenn nötig mit Androhung von Gewalt. Das ist eine organisierte Verbrecherbande. Wer das Syndikat führt, verdient sehr viel Geld.

Wenn einer nicht gespurt hat, wurde er erschossen.

Ein General mit einem Orden von Chávez fing an, diese eine Gruppe mit automatischen Waffen auszurüsten. Das brachte anfangs etwas Ruhe, doch dann wollte diese Gruppe immer mehr. Sie handelten mit Drogen. Es entstand eine riesige Bande mit über hundert, meist jugendliche Mitglieder. Das waren 14- bis 20-Jährige, die keinen moralischen Kompass hatten. Es wurde richtig gefährlich. Die Bande hatte gute Kontakte in der Regierung, dass sie der Polizei oder dem Militär immer ausweichen konnten. Diese Bande hiess «Picure» unter der Führung von José Antonio Tovar Colina. Seine Männer machten, was er sagte. Wenn einer nicht gespurt hat, wurde er erschossen.

«Picure» begann, die Farmer zu erpressen. Damals ging es noch: Man bezahlte und konnte arbeiten. Irgendwann wurde es der Regierung zu viel: Der «Picure»-Chef Colina wurde am 3. Mai 2016 erschossen. Auf einen Schlag waren hundert jugendliche Kriminelle ohne Führung. Es entstanden darauf zahlreiche kleine Banden. Statt besser, ist es jetzt viel schlimmer.

An einem Wochenende im letzten September, um 14 Uhr, drangen acht Maskierte in unsere Finca ein. Ich war nicht da, nur einer meiner Vaqueros (Cowboy) war noch vor Ort. Sie haben das ganze Haus ausgeräumt und auf einem meiner Lastwagen weggeschafft. Sie hatten auch das Handy des Vaquero geklaut und kannten meine Telefonnummer.

Am Sonntag rief mich einer der Band an. Ich solle bis am Dienstag 2 Mio. Bolivars bezahlen. Das sind etwa 3000 Dollar, das ist nicht so viel. Doch die höchste Note sind 100 Bolivars. Es ist also nicht einfach, zwei Millionen in bar aufzutreiben. Der Mann rief jeden Tag an und bedrohte mich. Ich bezahlte das Geld.

Er rief immer weiter an. Im November sagte er, ich solle nochmals 10 Millionen bezahlen. Mein Geschäftspartner und ich suchten einen Militär, der kein Chavist ist, denn denen kann man nicht trauen. Wir wurden tatsächlich fündig. Bei einer weiteren, gestellten Geldübergabe legten sich die Militärs auf die Lauer, erwischten bei der Schiesserei aber nur einen der drei Männer. Ich bekam wieder einen Anruf. Der Mann sagte, ich hätte einen grossen Fehler gemacht. Aber der Militär nahm die Sache in die Hand, ortete den Anruf und sammelte Informationen. Seither ist Ruhe.

Ich brauche Tabletten gegen den Bluthochdruck… Ich bekomme sie nicht mehr.

In der Zwischenzeit wurde es im Dorf so gefährlich, dass täglich Kinder von Geschäftsleuten entführt worden sind. Jede dieser kleinen Banden wollte überleben. Die Regierung unternahm dann schon was, weil in der Gegend sehr viele Nahrungsmittel produziert werden, oftmals auf Farmen von korrupten Politikern. Wenn diese Ernten ausfielen, merkte es das ganze Land. Die Banden verschwanden aus dem Dorf, aber sind nun einfach etwas ausserhalb. Ich bin in einer Whatsapp-Gruppe mit anderen Bauern. Jeden Tag kommen dort Meldungen von Erpressungen rein.

Ich war lange Zeit bewaffnet. Nachdem mein Sohn vor 16 Jahren auf die Welt kam, habe ich damit aufgehört. Ich sagte mir, dass das nichts bringt. Diese Kriminellen haben Kalaschnikows. Wenn ich da mit einer 9mm komme, mache ich mich lächerlich. Aber die letzten Male ging ich mit einem oder zwei schwer bewaffneten Militärs auf die Finca.

Die persönliche Sicherheit, nicht nur bei mir auf der Finca, sondern auch in Caracas, wo tagtäglich Leute entführt werden, ist nicht mehr gewährleistet. Es gibt keine Nahrungsmittel, zum Teil kein Wasser. Ich brauche Tabletten gegen den Bluthochdruck… Ich bekomme sie nicht mehr.

Ich käme in die Schweiz mit ein paar Franken Ersparnisse. Wir wären Flüchtlinge.

Es protestieren nicht nur die, die etwas zu verlieren haben, sondern auch die Ärmsten. Und Plünderer nutzen die Situation aus und machen, was sie wollen. Die Guardia Nacional schaut tatenlos zu.

Die Polizei schiesst das Tränengas nicht in die Luft, sondern direkt auf die Brust. Es ist auch nicht mehr nur Tränengas und Gummischrot, sondern scharfe Munition. Eine junge Frau wurde mit einem Kopfschuss getötet. Aber die Menschen haben keine Angst mehr. Das Volk bleibt auf der Strasse, bis etwas passiert.

Meine Familie geht auch an die Proteste. Ich selber habe keine Angst, aber ich weiss, dass es dadurch mühsam wird. Man bekommt keine Lebensmittel mehr, muss alles auf dem Schwarzmarkt kaufen. Im Supermarkt gibt es keine Zahnpasta, keine Deos, kein Shampoo - einfach nichts. Alles ist unglaublich teuer geworden. Ich habe Familienangehörige, die nur noch einmal am Tag etwas essen. Es kann so einfach nicht mehr weitergehen.

Ich mache mir Sorgen um die Zukunft meiner Söhne. Was haben sie dort noch für Möglichkeiten? Sie können Deutsch, kämen in der Schweiz gut zurecht. Aber meine Frau und ich? Ich bin zu alt um wieder auszuwandern. Solange es geht, machen wir weiter. Ich kann die Farm und das Haus nicht verkaufen, weil der Staat alles beschlagnahmen würde. Ich käme in die Schweiz mit ein paar Franken Ersparnisse, die nicht reichen. Wir wären Flüchtlinge.

 

Seit Wochen halten die intensiven Proteste in Venezuela an. Staatschef Nicolás Maduro will eine neue Verfassung verabschieden, ohne dass das Parlament eine Mitsprache hat. Am Mittwoch wurde in der Hauptstadt Caracas ein 18-jähriger Demonstrant getötet, am Donnerstag der Studentenführer aus nächster Nähe erschossen.

 

Maduro kündigte bei einer Versammlung zum Tag der Arbeit am Montag im Zentrum von Caracas vor tausenden Anhängern an, er werde Kraft seines Amtes als Präsident eine 500-köpfige verfassunggebende Versammlung einberufen. Diese habe die Aufgabe, eine neue Verfassung zu erarbeiten und diejenige von 1999 zu ersetzen. Die Mitglieder dieser Versammlung sollten aus der arbeitenden Bevölkerung kommen, nicht aus den politischen Parteien. Es sollten die verschiedensten Bereiche der Gesellschaft vertreten sein, darunter auch Rentner, Behinderte und Angehörige sexueller Minderheiten.

Maduro sprach von einer «verfassunggebenden Versammlung des Volks». Nach seiner Ankündigung versammelte Maduro später seine Minister und die Befehlshaber der Streitkräfte im Präsidentenpalast Miraflores. Dort unterzeichnete er das entsprechende Dekret.

Während der Staatschef seine Rede im Zentrum von Caracas hielt, gingen in mehreren Vierteln der Hauptstadt sowie in anderen Städten zahlreiche Menschen aus Protest auf die Strasse. Am Abend schlugen die Regierungsgegner zudem in zahlreichen Vierteln von Caracas Krach mit leeren Kochtöpfen als Symbol für Hunger und Armut.

Mindestens 35 Tote

Seit dem Beginn der Protestwelle Anfang April wurden nach jüngsten Angaben der Behörden 35 Menschen getötet und mehr als 700 weitere verletzt.

Die Sicherheitskräfte gingen mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen tausende Regierungsgegner vor, die gegen eine von Maduro angekündigte Verfassungsreform auf die Strasse gingen. Seit Beginn der Protestwelle Anfang April wurden bereits 32 Menschen getötet.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft starb ein 18-jähriger Demonstrant bei Zusammenstössen mit Sicherheitskräften im Osten von Caracas. Wie der Bürgermeister der Stadtbezirks Baruta mitteilte, starb der junge Mann an einer schweren Nackenverletzung und Herzversagen.

Im nördlichen Bundesstaat Anzoátegui wurde der 33-jährige Studentenführer José López Manjares bei einer Versammlung an seiner Universität erschossen, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Der Schütze habe aus nächster Nähe mehrere Schüsse auf den jungen Mann abgegeben, anschliessend sei der Täter auf einem Motorrad geflüchtet.

In Caracas hatten sich am Mittwoch tausende Gegner des Staatschefs zu einem «Mega»-Protest versammelt, um gegen die von Maduro angestrebte neue Verfassung zu demonstrieren. Als die Demonstranten in die Innenstadt ziehen wollten, wo der Präsident gerade eine Rede vor tausenden Anhängern hielt, wurden sie von der Polizei und der Nationalgarde gestoppt.

Mehrere Demonstranten wurden von gepanzerten Fahrzeugen der Nationalgarde angefahren. Demonstranten warfen Brandsätze und Steine und zündeten Barrikaden an. Bei den Zusammenstössen geriet mindestens ein Demonstrant in Brand, wie Korrespondenten der Nachrichtenagentur AFP berichteten.

Gegenseitige Vorwürfe

In Venezuela gehen seit Anfang April Tag für Tag Demonstranten - Unterstützer und Gegner der Regierung - auf die Strassen und liefern sich gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften. Die Opposition kämpft für vorgezogene Parlamentswahlen und eine Volksabstimmung über die Absetzung des Staatschefs, dessen Mandat regulär im Januar 2019 endet. Maduro warf seinen Gegnern einen «bewaffneten Aufstand» vor.

Desolate Wirtschaftslage

Die Regierungsgegner machen Maduro auch für die schwere Wirtschaftskrise in dem ölreichen südamerikanischen Land verantwortlich. Die Inflation wird nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds in diesem Jahr auf 720 Prozent steigen.

Die Versorgungslage ist dramatisch. Nahrungsmittel, Medikamente sowie Dinge des täglichen Bedarfs wie Toilettenpapier und Seife werden vielerorts knapp. Immer wieder gibt es Plünderungen.

In Umfragen sprechen sich mittlerweile 70 Prozent der Befragten gegen Maduro aus, der nach dem Tod seines Vorgängers Hugo Chávez 2013 die Staatsführung übernommen hatte. (sda)

 

Am 20. April 2017 starteten wir einen Aufruf auf shn.ch. Wir suchten Venezolanerinnen und Venezolaner aus der Region, respektive Menschen, die einen Bezug zum südamerikanischen Land haben. Es meldeten sich zahlreiche Personen, von denen wir drei zu einem Gespräch in die Redaktion einluden. Die Gespräche fanden am 25. April (Jürg Margreiter), 27. April (Nahum Gonzalez) und 5. Mai (Hans Meier) statt.

Aus den Aufzeichnungen entstanden sogenannte Gedankenprotokolle, die die persönliche Sicht wiedergeben. Dabei handelt es sich um eine spezielle Form des Interviews, in denen die Aussagen der Gesprächspartner so bearbeitet werden, dass sie einen zusammenhängenden Text aus der Ich-Perspektive ergeben. Diese Gedankenprotokolle wurden von den Gesprächspartnern gegengelesen.

Hans Meier ist ein Pseudonym. Wir haben dieses Gespräch anonymisiert, weil er bald wieder nach Venezuela zurückkehrt. Die Gefahr, dass jemand aus der Regierung diesen Artikel gegen ihn oder seine Familie verwendet, ist gross. Deshalb haben wir uns gegen eine eindeutige Identifizierung entschieden.

In einem Konflikt wie in Venezuela werden von beiden Seiten teilweise oder komplett falsche Behauptungen und Bild- sowie Video-Material verbreitet. Die Redaktion hat deshalb die Aussagen soweit wie möglich auf Fakten geprüft. Die Videos aus Venezuela wurden von der Agentur Storyful verifiziert.

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janosch.troehler@shn.ch

 


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