Protokoll einer misslungenen Vertuschung

Robin Blanck | 
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Wollten am letzten Donnerstag «proaktiv informieren»: Marco Schwaninger (Vorsteher «Alpenblick»), Katrin Huber (Stadtschulratspräsidentin) und Kirsten Brähler (seit dem 1. Januar zuständige Ephorin für das Schulhaus Alpenblick). Bild: Selwyn Hoffmann

Hartnäckig wurden Auffälligkeiten abgestritten, jetzt ist klar: Lehrpersonen im Schulhaus Alpenblick waren sehr besorgt über die Entwicklung einer Familie und befürchteten eine Radikalisierung. Ein Bericht über den langen Weg zur Wahrheit.

«Wenn etwas an die Öffentlichkeit gelangt, wird die Sache nur grösser und nützt den Schulen nichts.»
Auszug aus einem Schulratsprotokoll

Im Schreiben, das den Kindern des Alpenblick-Schulhauses am Morgen des 30. September 2016 ausgeteilt wurde, steht Folgendes zu lesen: «Es ist uns ein grosses Anliegen, Ihnen zu versichern, dass in der Schule Alpenblick keine Auffälligkeiten bestehen und keine Verunsicherung herrscht.» Der Brief ist eine Reaktion auf einen Artikel, der gleichentags in den SN erschien und Befürchtungen aufnahm, dass sich zwei Familien mit Kindern im Schulhaus radikalisieren. Im Elternbrief heisst es dazu weiter: Diverse Aussagen im erwähnten SN-Artikel «entsprechen nicht der Wahrheit und sind reine Vermutung». Und eine Anfrage von Nathalie Zumstein im Stadtschulrat im Zusammenhang mit einer Fachstelle für Radikalisierung sei «rein routinemässig» erfolgt, mit der Schule Alpenblick habe dies nichts zu tun. Abgeschlossen wird der Brief mit den Worten: «Mit gutem Gewissen können wir Ihnen bestätigen, dass es keinerlei Grund zur Sorge gibt», unterzeichnet von der damals zuständigen Stadtschulrätin Nathalie Zumstein und dem Vorsteher des «Alpenblicks», Marco Schwaninger.

Nur: Dass die Aussagen im Elternbrief nicht der Wahrheit entsprechen, wissen die beiden Unterzeichnenden zu diesem Zeitpunkt nachweislich. Und zwar schon seit über einem Monat.

Denn bereits am 24. August 2016 waren die Vorfälle im «Alpenblick» bis zum Stadtschulrat vorgedrungen und sind dort auch besprochen worden, wie die Protokolle, welche die SN gestern – nach langem und aufwendigem juristischem Seilziehen – erhalten haben, jetzt endlich beweisen.

Unter dem Titel «Auffälliges Verhalten einer muslimischen Familie» führen die Protokolle eine Zusammenstellung der Vorkommnisse auf: So habe eine Lehrperson aus dem Schulhaus Alpenblick «sehr beunruhigt über Beobachtungen berichtet» und mitgeteilt, dass sie und der Stellenpartner bei zwei Familien ein «ausgesprochen ungutes Gefühl» hätten. Die beiden erfahrenen «und sicher nicht ängst­lichen» Pädagogen möchten, «dass die Behörden Bescheid wissen, die Sache ernst nehmen und womöglich auch Massnahmen einleiten», heisst es ­explizit im Protokoll. Man werde die Familien im Auge behalten.

Was konkret die Beunruhigung ausgelöst hat, ist stichwortartig im Protokoll aufgelistet: So würden etwa die beiden Väter sich «weigern, den Lehrerinnen die Hand zu geben», die Kinder hätten ihr Verhalten in der letzten Zeit verändert, so trage das Mädchen nun Kopftuch und weigere sich, dieses zum Aufsetzen einer Perücke beim Schultheater abzulegen. Die Eltern seien öfter auf dem Schulhausareal präsent und «beobachten», was vor sich gehe. Dass dies zu Verunsicherung im Team geführt hat, bestätigen verschiedene mit dem Fall vertraute Personen später gegenüber den SN.

Gemäss Protokoll sprechen die Schulräte dann in der Sitzung darüber, was zu tun ist: Ein Mitglied des Schul­rates wisse, dass es in Zürich eine Fachstelle für Radikalisierung gebe, in Schaffhausen aber nicht. Schliesslich wird Nathalie Zumstein beauftragt, bei der Stadtpolizei und der Schaffhauser Polizei eine Nachfrage zu starten, ob man am Aufbau einer solchen Stelle sei – dies auch, weil das als «Beruhigung für die Lehrpersonen» eingestuft werde. Gleichzeitig will sich Zumstein auch bei der Zürcher Fachstelle informieren. Diese Protokollauszüge belegen, wie im Elternbrief die Fakten bewusst verheimlicht wurden. Am Rande: Im gleichen Sitzungsprotokoll ist darüber hinaus vermerkt, dass ein Schulratsmitglied im Zusammenhang mit dem «Alpenblick» auf «einen anderen, seit Jahren hängigen Fall» hinweist, bei dem er «von keiner Amtsstelle Hilfe erhält».

Die Causa Alpenblick ist ein Lehrstück über die Vertuschung: Erst auf juristischem Weg über eine Akteneinsicht konnte deutlich gemacht werden, dass der Öffentlichkeit die Wahrheit vorenthalten werden sollte. Und deshalb ist sie auch ein Lehrstück über die Lüge. Doch von Anfang an.

Erste Dementis

Ihren Ursprung hat die Affäre in den ersten Septembertagen 2016: Gerüchte über einen verweigerten Handschlag an einer Schaffhauser Schule machen die Runde. Die Recherchearbeit beginnt.

2. September 2016: Erste Nachfragen bei der Schulpräsidentin Katrin Huber ergeben: Man weiss von nichts, ist ahnungslos, was mit dem verweigerten Handschlag gemeint sein könnte. Später schreibt Huber in der von ihr zusammengetragenen Chronik: «Weil der Schulpräsidentin kein konkreter Vorfall bekannt war, der Anlass zur Sorge gegeben hätte, nahm sie die Anrufe entgegen, konnte aber keine Auskunft dazu geben.» Doch es gibt Hinweise, dass doch etwas an der Geschichte dran ist. Die Recherche geht weiter.

5. September: Erneute Nachfrage bei der Schulpräsidentin Katrin Huber: Diese äussert sich nur oberflächlich, analog dazu verläuft die Nachfrage bei der zuständigen Ephorin Nathalie Zumstein: Von einem verweigerten Handschlag oder ähnlichen Vorfällen will sie nichts wissen.

In den folgenden Wochen wird versucht, weitere Details und Hintergründe herauszufinden, sämtliche Anfragen werden von den Beteiligten des Schulhauses abgeblockt: Vorsteher Marco Schwaninger will nur auf schriftlich eingereichte Fragen antworten, am 12. September kommt die Absage: Man äussere sich nicht.

«Keine Probleme»

19. September: Die Zitate aus den Gesprächen mit Nathalie Zumstein und Katrin Huber werden per E-Mail vorgelegt, die Reaktion folgt am 20. September: Die Schulpräsidentin distanziert sich wie Ephorin Zumstein von allen Zitaten, die Fragen seien «unanständig und Belästigung pur», die zugestellten Zitate seien «völlig aus dem Zusammenhang gerissen» und «lediglich aufgrund penetranter und unsensibler Fragerei» zustande gekommen. Und Huber schreibt: «Ich halte noch einmal klipp und klar fest, dass es weder im ‹Alpenblick›-Gebiet noch sonst wo in den städtischen Schulen Probleme mit Familien einer bestimmten Kultur oder Religion gibt!»

Zur Erinnerung: Bereits am 24. August hat das Gremium, dem Huber als Präsidentin vorsteht, über die Beobachtungen der beiden Lehrpersonen im Schulhaus Alpenblick ausführlich gesprochen. Und das erste Mal mit dem Thema in Kontakt gekommen war Huber bereits in den Sommerferien, als sie von Nathalie Zumstein über die Vorkommnisse informiert worden war. Dennoch: Es wird weiterhin abgeblockt.

In den Wochen danach bleiben Versuche, Huber und Zumstein zu einem Interview mit den SN zu bewegen und transparent über die Lage im Schulhaus zu informieren, erfolglos.

Ein Auszug aus dem teilweise geschwärzten Schulratsprotokoll der Sitzung vom 7. September 2016: Der Ausschnitt belegt, dass der Schulrat bereits Ende August über die Brisanz der Vorfälle im Bilde war und diese verheimlichen wollte. Bild: SN Grafik

Irreführung per Elternbrief

30. September: Der Artikel «Das grosse Schweigen im ‹Alpenblick›» erscheint, in dem die bisherigen Erkenntnisse und die Weigerung der Schulräte, sich zu äussern, dargelegt werden: Im Kern geht es um das auffällige und teilweise als beängstigend empfundene Verhalten zweier muslimischer Familien mit Kindern im Schulhaus. Von einem verweigerten Handschlag geht man bei den SN zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aus.

Weil die Onlineversion der SN kurz nach Mitternacht abgerufen werden kann, wird noch in der Nacht auf den 30. September das bereits erwähnte Dementischreiben – der Elternbrief – aufgesetzt und am gleichen Morgen an die Schülerinnen und Schüler verteilt.

5. Oktober: Aufgrund der völlig verzerrten Darstellung im Elternbrief beantragen die SN, basierend auf dem Öffentlichkeitsgesetz, Akteneinsicht in die Protokolle des Stadtschulrates.

20. Oktober: Der Stadtschulrat lehnt das Einsichtsgesuch – wenig überraschend – ab.

9. November: Die SN ziehen die Ablehnung des Schulrates weiter und gelangen an den Erziehungsrat. In den folgenden Wochen werden Stellungnahmen eingereicht.

25. Januar 2017: Der Erziehungsrat heisst die Beschwerde der SN teilweise gut und gewährt Akteneinsicht in die verlangten Protokolle, der Rest der Dokumente soll nur geschwärzt ausgehändigt werden. Dann beginnt die Rekursfrist, während der eine Einsprache gegen den Entscheid erfolgen kann. Die Protokolle bleiben weiter unter Verschluss.

Anfang März: Der Schaffhauser Stadtschulrat beschliesst, keinen Rekurs gegen die Gewährung der Akteneinsicht einzulegen. Von diesem Moment an wissen die involvierten Schulräte, dass ihre irreführenden und wahrheitswidrigen Aussagen in absehbarer Zeit ans Licht kommen werden. Hektik macht sich breit.

Letzter Ausweg: Flucht nach vorn

Mittwoch, 22. März: Nur ein Mittel gibt es noch: die Flucht nach vorn. Am vorletzten Tag der Rekursfrist lädt die Schulpräsidentin kurzfristig auf den Folgetag zur Pressekonferenz ein.

Donnerstag, 23. März: Am Tag bevor die SN die Akten endlich ausgehändigt erhalten, gibt sich die Schulpräsidentin plötzlich sehr auskunftsfreudig: Man wolle Spekulationen zum «Alpenblick» ausräumen und Fragen beantworten. Auch ganz wichtig: Man wolle einen Schlussstrich unter die Causa Alpenblick setzen, was angesichts der bevorstehenden Veröffentlichung der Protokolle wenig erstaunt. Das Datum der Medienkonferenz ist natürlich kein Zufall: Präzise Nachfragen wären erst möglich, wenn die Schulratsprotokolle vorlägen, ohne dieses Vorwissen ist die Veranstaltung sinnlos – wie die Schulpräsidentin und ihre Mitstreiter nur zu gut wissen. Aber weil Schul­rätin Nathalie Zumstein im letzten Herbst abgewählt wurde, ist nun ­Deckung gefragt: Nachdem die Schulpräsidentin während Monaten Auffälligkeiten abgestritten und Interviews abgelehnt hat, berichtet sie nun ungerührt von solchen Vorfällen. Jetzt, am Tag bevor die Protokolle öffentlich werden, gibt es plötzlich doch ein auffälliges Verhalten einer muslimischen Familie. Huber sagt: «Im letzten Sommer haben sich zwei Lehrpersonen wegen des auffälligen Verhaltens und des ungewohnten Auftretens zweier Familien an die zuständige Schulrätin gewandt.» Es sei dabei aber in erster ­Linie um eine «Information der Vorgesetzten» gegangen, sagt Huber in die Mikros der eingeladenen Medien, die nicht recht verstehen, weshalb sich der Schulrat nun zu etwas äussert, das er als inexistent taxiert.

Dass sich die beiden Lehrpersonen im letzten August «sehr beunruhigt» geäussert und verlangt hatten, dass die Sache ernst genommen und auch Massnahmen ins Auge gefasst werden, sagt Huber an der Pressekonferenz freilich nicht.

Dafür sagt sie, man habe Nathalie Zumstein darin unterstützt, dass sie sich bei der Schaffhauser Polizei nach einer Radikalisierungsfachstelle erkundige. Diese Kontaktaufnahme war aber noch im Elternbrief als Vorgehen bezeichnet worden, das mit dem «Alpenblick» «nichts zu tun» gehabt habe. Im Namen der beunruhigten Lehrpersonen erklärt Huber dann an der Pressekonferenz, man nehme die muslimische Familie als unauffällig und respektvoll wahr, sie verhalte sich so, «wie man es von ihr erwartet» – die Rede ist von jener Familie, die gemäss den Schulratsprotokollen weiblichen Lehrpersonen nicht die Hand bei der Begrüssung geben will.

Der verweigerte Handschlag

Aber über diesen besonderen Punkt hatte sich der Schulrat schon nach den ersten Medienanfragen Anfang September eindringlich unterhalten, wie die Protokolle nun unzweideutig beweisen: Die sich ahnungslos gebenden Schulräte Zumstein und Huber waren in der Sitzung des Schulrates überrascht, dass Medienanfragen zur Handschlagverweigerung eingegangen sind. Dazu heisst es im Schulratsprotokoll: «Über das Thema ­betreffend Handschlagverweigerung wissen nur die Schulbehörde und die Teams des Schulhauses Alpenblick. Irgendjemand hat die ‹Schaffhauser Nachrichten› informiert. Das darf nicht sein, denn die Schulbehörden stehen unter Schweigepflicht!» Danach äussert sich Nathalie Zumstein und erklärt, sie habe ebenfalls einen Anruf eines SN-Redaktors erhalten: «Sie hat ihm mitgeteilt, dass nichts passiert sei. Wenn etwas an die Öffentlichkeit gelangt, wird die Sache nur grösser und nützt den Schulen nichts», heisst es dazu. Dieser Passus zeigt eindeutig, dass man sich im Schulrat über die Brisanz der Vorfälle sehr wohl bewusst war und tunlichst vermeiden wollte, dass die breite ­Öffentlichkeit davon erfährt.

«Nie Anlass zur Sorge»

Aber das wird an der Pressekonferenz vom Donnerstag ganz anders dargestellt, es wird abtempiert und tiefgestapelt: «Wir wollen nichts vertuschen, wir stehen Ihnen für Fragen zur Verfügung», sagt Huber – und das, nachdem man während Monaten geschwiegen und Transparenz verhindert hatte. Man habe, so die Schulpräsidentin weiter, im Zusammenhang mit der Wortmeldung aus dem Schulhaus Alpenblick lediglich «Szenarien und Gedankenspiele» für den möglichen Fall einer Radikalisierung durchgespielt, aber es habe nie Anlass zur Sorge bestanden. Immerhin war die Sorge aber doch gross genug, dass man die Polizei beizog, welche dann nach der Kontaktaufnahme durch Nathalie Zumstein Ende August im Schulhaus vorbeikam, sich der Diskussion mit den Lehrpersonen stellte und Fragen beantwortete.

«Proaktiv informieren»

Dass die Schulpräsidentin an der nur unter dem Druck der Entlarvung einberufenen Pressekonferenz vom Donnerstag sogar noch sagt, «man wolle proaktiv informieren», ist der peinliche Tiefpunkt der Affäre, mit welcher die Beteiligten nicht nur ihre eigene Glaubwürdigkeit massiv beschädigt haben, sondern auch jene des Schulrates.

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