«Wieso trifft es genau mich?»

Mahara Rösli | 
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Fina und ihre Mutter Katharina vereint im Kampf gegen Kinderkrebs. Bilder: Alexander Joho

Ein Weinländer Mädchen kämpft seit vier Jahren tapfer gegen ihren Blutkrebs. Nach diversen Behandlungen und Chemotherapien, einem Rückfall und diversen Einschränkungen zeichnet sich nun endlich ein Hoffnungsschimmer ab: Ein Stammzellenspender ist gefunden.

Irgendwo im Weinland feierte Fina* diesen Frühling ihren 10. Geburtstag – nicht zu Hause mit ihren Freunden, sondern im Kinderspital Zürich. Fina liebt Veranstaltungen, spielt gerne mit ihren Freundinnen und turnte bis vor zwei Monaten noch in der Mädchenriege. «Ein Jahr lang hat sie die Tage bis zu ihrem Geburtstag gezählt», sagt ihre Mutter Katharina*. Jetzt ist die Leukämie zurück. Fina ist auf einen Blutstammzellenspender angewiesen.

Die erste Diagnose

Fina ist sechs Jahre alt, als sie zum ersten Mal an akuter lymphatischer Leukämie (ALL) erkrankt. Schmerzen im Handgelenk und Stimmungsschwankungen – das sind die ersten Symptome ihres Krebses. «Ich war oft wütend, und meine Hüften und das Knie haben plötzlich geschmerzt», erinnert sie sich zurück. Sie sitzt im Garten, in eine warme Decke eingehüllt, ihre Mutter neben ihr. «Soll ich dir eine Jacke holen, du frierst ja?“, sagt sie und streicht über den Rücken ihrer Tochter. Fina ist blass, ein buntes Kopftuch bedeckt den vorderen Teil ihres Kopfes. Die lockigen Haare fallen aus.

Fina fährt fort: «Ich konnte mit meiner Hand nicht mehr schreiben und essen. Die Schmerzen waren zu stark.» Als sie dann noch an Fieber erkrankte, liess Katharina ihre Tochter ärztlich untersuchen. Erfolglos. Der Arzt findet nichts. «Ich blieb hartnäckig und habe nochmals einen Termin vereinbart.» Rasch bemerkt die Mutter, dass mit Fina etwas nicht stimmt, sie wird erneut untersucht. Dann geht es schnell. «Unser Hausarzt hat mich noch am selben Abend kontaktiert und gesagt, dass wir am nächsten Morgen in den Notfall des Kantonsspitals Winterthur müssen.» Den ganzen Tag hindurch wird Fina getestet. Die Ärzte nehmen Blutproben, tasten Finas Lymphknoten ab. Acht Stunden ist die Familie unwissend. «Ich dachte nicht an Krebs», sagt Katharina. Sie erinnert sich an den Abend des Spitalbesuchs zurück: «Fina wollte so schnell wie möglich nach Hause, da sie sich noch mit einer Freundin treffen wollte.»

Um 17 Uhr die Diagnose: Krebs. «Ich war fassungslos, stand unter Schock und weinte», sagt die Mutter. Fina fügt an: «Ich wusste gar nicht, was los war. Erst als Mama weinte, merkte ich, dass etwas nicht gut ist.» Fina wird für weitere Untersuchungen mit dem Krankenauto ins Kinderspital Zürich gebracht. Am folgenden Tag muss Fina bereits Cortison nehmen, zwei Tage später beginnt die erste Chemotherapie. Diese steht sie acht Monate tapfer durch. Darauf folgt mehr als eineinhalb Jahre lang eine Chemotherapie in Tablettenform. Fast täglich nimmt Fina Antibiotika. «Während dieser Zeit ging es ihr verhältnismässig gut. Denn diese Art von Chemotherapie ist deutlich niedriger dosiert», sagt die Mutter. «Sie hatte genügend Kraft, um in die Schule und Mädchenriege zu gehen.» Fina muss nur noch einmal wöchentlich ins Spital. Der Krebs geht zurück, das Mädchen scheint geheilt zu sein.

Ein später Rückfall

«Eine Leukämiezelle hatte sich irgendwo in meinem Körper versteckt und blieb dort zwei Jahre lang unentdeckt. Als die Zelle merkte, dass sie nichts mehr angreifen kann, hat sie sich wieder vermehrt», erklärt die nun 10-Jährige den erneuten Krankheitsausbruch. Sie wirkt gefasst. Fast drei Jahre lang war Fina krebsfrei, konnte ein «normales» Leben führen. «Ich durfte wieder zur Schule und hatte nicht täglich Schmerzen», sagt sie. Die Mitschüler waren ihr gegenüber rücksichtsvoll und trugen im Unterricht immer eine Maske. «Die einen Kinder verstehen meine Krankheit und stellen mir auch Fragen. Das finde ich schön», sagt Fina.

Fina mit einer ihrer «Glücksketten» aus Dutzenden zusammengetragenen Teilen. Die Kette ist eine Erinnerung an die überstandenen schweren Tage in der Klinik.

Seit Ende April dieses Jahres ist die Leukämie zurück; ein später Rückfall. Fina erzählt: «Mami hat mir ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk gemacht. Ich war mit meinen Freundinnen auf einer Kutschenfahrt. Als ich nach Hause kam, wurde mir schwindlig, und ich fiel in Ohnmacht.» Der Mutter gegenüber verschweigt sie diesen Vorfall zunächst. «Ich wollte unbedingt in die Mädchenriege», sagt sie und lacht spitzbübisch. Wieder wird das Spital zu Finas zweitem Zuhause. Dort wird sie täglich eine Stunde von einer Lehrerin unterrichtet, die mit ihr verpassten Schulstoff nachholt. Manchmal macht Fina auch Online-Unterricht, schaltet sich in ihre Klasse ein, hört mit. «Das mache ich aber nicht gerne, sehe immer, was ich alles verpasse.» Da Finas Immunsystem während der Chemotherapien geschwächt ist, darf sie ihr Spitalzimmer kaum verlassen. Sie schaut oft Filme oder lenkt sich mit Spielen ab. Hin und wieder kommt ein Spital-Clown vorbei. «Diese sind mega lustig», sagt Fina, «einmal haben wir sogar zusammen eine Wasserschlacht im Zimmer gemacht.»

Büschelweise Haare im Bett

Reifer als andere Kinder in ihrem Alter, war Fina schon früh gezwungen, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Sie hat viel darüber nachgedacht, wie ihr Leben aussehen würde, falls der Krebs wieder zurückkehrte. «Ich hatte immer wieder Angst. Vergessen habe ich ihn nie.» Die Mutter fügt an: «Eines Abends kam Fina zu mir und sagte: ‹Mami, ich hoffe nicht, dass es wieder die Leukämie ist. Aber wenn doch, dann schaffen wir das noch einmal zusammen›.» Die Mutter lächelt ihre Tochter liebevoll an und sagt: «Fina ist ein starkes Mädchen.» Als die Ärzte die Diagnose erneut feststellen, hat Fina einen Kloss im Hals. «Mein erster Gedanke war: ‹Ich will das nicht noch einmal durchstehen. Wieso trifft es genau mich?›.» Sie erzählt weiter: «Manchmal frage ich mich, wie mein Leben wohl ohne den Krebs gewesen wäre. Wäre ich dann anders?»

Momentan schläft Fina täglich mehr als elf Stunden und geht nur zur Schule, wenn sie am Morgen genügend Kraft hat. Seit der letzten starken Chemotherapie sieht Fina auf einem Auge nur noch verschwommen. Möglicherweise eine Spätfolge der unzähligen Chemotherapien, meint Katharina. Jetzt trägt Fina eine Brille. Geplagt von Krämpfen in den Waden und Schmerzen am ganzen Körper, kämpft sich Fina tapfer durch den Tag. «Manchmal habe ich keine Energie, die Treppe hoch zu laufen.» Vor zwei Monaten hat die Chemotherapie erneut begonnen; Finas Haare fallen wieder aus. «In Finas Bett liegen morgens büschelweise Haare. Zuzuschauen, wie sie ausfallen, das tut weh», sagt Katharina. Auch von ihr als Mutter wird viel abverlangt – psychisch wie auch physisch. «Mir würde es gut tun, andere Mütter zu kennen, die dasselbe durchgemacht haben. Einfach mit ihnen zu sprechen.» Die Tagesplanung sei schwierig, sagt sie: «Ich weiss nie, wann ich Fina wieder von der Schule abholen oder wann ich sie kurzfristig ins Spital fahren muss.» Katharina macht eine schwierige Zeit durch, kommt oft an ihre Grenzen. «Manchmal denke ich, das packe ich nicht. Dann schaffe ich mir kleine Momente, um Kraft zu schöpfen.» Sie fährt fort: «Ich versuche im Hier und Jetzt zu denken und nicht in die Zukunft zu schauen.» Auch ihr Bruder sorgt sich täglich. Diese Zeit empfindet auch er als schrecklich, er hat immer wieder grosse Ängste und Sorgen. Er kümmert sich gerne um Fina, hilft und unterstützt sie, wo er kann, und würde sie jederzeit kräftig verteidigen, falls nötig.

Infektionen mit tödlichen Folgen

Seit April war Fina bislang über 35 Tage stationär im Kinderspital. Die Chemotherapie der vergangenen Wochen hat nicht wie erhofft angeschlagen. Katharina: «Vorerst muss Fina eine Antikörpertherapie machen, dann folgt die Stammzellentransplantation.» Gemäss dem Schweizerischen Roten Kreuz findet hierzulande jede vierte an einer Blutkrankheit leidende Person keinen Stammzellenspender; auch Fina musste lange warten, bis sich ein Spender abzeichnete. Katharina wünscht sich, dass sich mehr Menschen zwischen 18 und 40 für das nationale Stammzellenregister anmelden würden, um den Spenderpool zu vergrössern; zumindest sei für den Aufbau und die Führung des Registers eine Geldspende erstrebenswert.

Vor der Blutstammzellentransplantation haben beide Respekt. «Die Vorbereitung auf die Spende und die darauffolgende Isolation werden hart», sagt Katharina. Um das Knochenmark zu leeren, wird Fina drei Tage bestrahlt, gefolgt von drei Tagen starker Chemotherapie. Dabei wird ihr Immunsystem auf null heruntergefahren, jede noch so kleine Infektion kann dann tödliche Folgen haben. Nach der Blutstammzellentransplantation wird Fina sechs Wochen im Spital isoliert, danach muss sie ein halbes Jahr zu Hause bleiben. Die Mutter ist hoffnungsvoll: «80 Prozent aller Transplantationen verlaufen gut. An die restlichen 20 Prozent darf man gar nicht denken.»

*Namen der Redaktion bekannt

Leukämie – das Knochenmark als Hauptangriffsziel

Die akute lymphatische Leukämie (ALL) ist eine bösartige (maligne) Krebserkrankung, die häufigste Art von Leukämie bei Kindern; Erwachsene erkranken seltener daran. In der Schweiz erkranken pro Jahr gegen 250 Kinder neu an Krebs, ein Drittel davon betrifft Blutkrebs, wiederum 80 Prozent davon die ALL, also über 60 Kinder pro Jahr. Unbehandelt kann die ALL innerhalb weniger Wochen zum Tod führen.

Bei diesem Blutkrebs wird eine frühe Vorstufe der weissen Blutkörperchen, der Lymphozyten, entartet. Das heisst, dass die Blutzellen nicht mehr voll funktionstüchtig gebildet werden. Daraufhin vermehren sich diese «unreifen» Blutkörperchen, auch als lymphatische Blasten bezeichnet, unkontrolliert, greifen das Knochenmark an und verhindern die Bildung gesunder weisser Blutkörperchen. Via Blut und Lymphbahnen gelangen die Blasten in andere Bereiche des Körpers, können Organe befallen oder schädigen.

Die ALL ist keine Erbkrankheit, als Hauptursache gilt eine bösartige genetische Veränderung im Knochenmark, die das betroffene Kind im Laufe seines Lebens erfährt. Bis heute ist jedoch unklar, was den genauen Krankheitsauslöser betrifft. Vermutet werden ionisierende Strahlung, gewisse chemische Substanzen – aber auch Medikamente zur Behandlung von Krebserkrankungen sollen zum Teil für eine sekundäre ALL verantwortlich sein. Symptome sind unter anderem Blutarmut, als Konsequenz davon Blässe, Müdigkeit oder Kurzatmigkeit, dazu Gelenk- und Knochenschmerzen, länger anhaltende Blutungen, eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen, eine Anschwellung von Organen wie Milz, Niere oder Leber; ebenso verlieren viele Patienten den Appetit und nehmen stark ab.

Die Diagnose umfasst Blut- sowie Knochen- und Rückenmarkentnahmen. Mit Chemotherapien und zusätzlichen Therapien wird versucht, möglichst alle schädlichen Zellen schnell abzutöten. Die Heilungschancen liegen heute sowohl bei Kindern wie bei Erwachsenen bei 80 bis 90 Prozent. (ajo)

Wie eine Stammzellenspende abläuft 

Hanna Wetzel aus Schaffhausen war erst wenige Wochen für eine Stammzellenspende registriert, da wurde sie auch schon aufgeboten, weil es einen passenden Empfänger gab. Wir haben die junge Frau bei ihrer Spende begleitet.

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Kommentare (1)

Hanna Wetzel Fr 06.08.2021 - 17:08

Toller Artikel! Gut geschrieben und wichtiges Thema! Ich hoffe, Fina wird wieder ganz gesund. :)

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