«Anatolien übernimmt endgültig die Macht»

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Am Tag nach dem Entscheid zur Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei herrscht Alltag auf Istanbuls Strassen. Ein Stimmungsbericht.

von Jürgen Gottschlich

Die Normalität am Tag danach wirkt fast gespenstisch. Als wäre in der Nacht zuvor nicht gerade eine historische Entscheidung gefallen, gehen die Leute zur Arbeit, öffnen ihre Läden, singen die Nationalhymne in der Schule und füllen die Restaurants wie an jedem Tag. Auch in Kadiköy, einer Hochburg der säkularen Erdogan-Gegner in Istanbul, ist alles wie ­immer. Noch in der Nacht auf gestern waren wütende Wähler und Wählerinnen hier auf die Strasse gegangen und hatten laut auf Kochtöpfe schlagend gegen den Wahlbetrug protestiert. Doch davon ist an diesem Mittag nichts mehr zu spüren.

Im Gegenteil, auch die öffentliche Symbolik scheint noch auf Kontinuität statt auf Bruch zu setzen. Auf dem Hauptplatz von Kadiköy bauen Arbeiter gerade die Stände für eine Ausstellung über traditionelle türkische Handwerkskunst auf, die in wenigen Tagen eröffnet werden soll. Auf die Holzpalisaden rund um die Ausstellung befestigen Arbeiter munter grosse Porträts des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, als wäre nicht just die Republik Atatürks abgewählt worden. Ein vorbeikommender älterer Mann streicht geradezu zärtlich über eines der Porträts, vielleicht Routine oder doch bereits ein Abschiedsgruss?

«Wir warten erst einmal ab»

Viele in Kadiköy wollen an diesem ersten Tag von Recep Tayyip Erdogans neuer Republik noch gar nicht wahrhaben, was da gerade passiert ist. Der Wirt in einer Bierbar, der sich eigentlich ernsthaft Sorgen um seine Zukunft machen sollte, gibt sich ganz gelassen. «Wir warten erst einmal ab», sagt er. «Vielleicht ist Erdogan nach diesem knappen Ergebnis doch versöhnlich gestimmt und lässt ein paar Leute aus dem Gefängnis. Er kann aber natürlich auch gerade im Gegenteil die Repressionsschraube noch anziehen, alles ist möglich.» Diese Gelassenheit entspringt dem Gefühl, eigentlich doch gar nicht verloren zu haben.

Typisch dafür ist Zafer Titiz, ein pensionierter Zahnarzt, der zwischen Deutschland und der Türkei pendelt und am Ort seines Sommerhauses auf den Prinzeninseln vor Istanbul abgestimmt hat. «Dieses überaus knappe Ergebnis», meint er, «gibt Erdogan doch nicht die Möglichkeit, jetzt zu behaupten, er wäre der Alleinherrscher. Er wird Kompromisse machen müssen.»

Zafer Titiz hat in Deutschland die sozialdemokratischen HDF-Vereine mitgegründet, die mit der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP in der Türkei kooperieren. Er ist mit der Vorstellung von Kemal Kilicdaroglu, dem CHP-Chef und Oppositionsführer im Parlament, eigentlich ganz zufrieden. «Kilicdaroglu hat toll gekämpft und trotz aller Benachteiligungen und Manipulationen doch ein beachtliches Ergebnis erzielt.»

Türkische Medien feiern Erdogan

Noch in der Nacht hatte Kemal Kilicdaroglu angekündigt, gegen verschiedene Manipulationen bei der Wahl Einspruch erheben zu wollen. Insbesondere seien Millionen von nicht korrekt gekennzeichneten Wahlunterlagen verwendet worden, welche die Differenz von 1,3 Millionen Stimmen, mit denen Erdogan gewonnen hat, erklären könnten. Doch bereits gestern Mittag wies der Chef der Wahlkommission, Richter Sadi Güven, die Mani-pulationsvorwürfe zurück. Gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu sagte er: «Die Wahlunter- lagen ­waren völlig korrekt und so von uns in Auftrag gegeben.»

Für die Anhänger Erdogans spielen solche Vorwürfe ohnehin keine Rolle mehr. Sie geniessen ihren Sieg. Noch in der Nacht, als in Kadiköy, in Beyoglu und Besiktas, den Hochburgen der Erdogan-Gegner in Istanbul, gegen Wahlfälschungen protestiert wurde, versammelten sie sich vor einem der vielen Paläste des Staatspräsidenten am Bosporus. Dort, ausserhalb der Stadt, wo Präsident Erdogan die Wahlnacht verbrachte, huldigten sie lautstark ihrem Führer. Nachdem Erdogan zunächst bei einem Fernsehauftritt das Wahlergebnis sehr staatstragend kommentiert hatte, hielt er eine Stunde später vom Balkon des Palastes gegenüber seinen Anhängern eine ganz andere Rede, in der er den Beginn der neuen Zeit ankündigte und schon einmal die Einführung der Todesstrafe als nächs- ten Schritt in Aussicht stellte.

Erdogan und die ihm ergebenen Medien tun so, als hätte ihr Idol die Wahl mit grosser Mehrheit gewonnen. Die Zeitungen drucken Fotos, die aus- sehen, als hätte die Türkei die Fussballweltmeisterschaft gewonnen, so ausgelassen tanzen die Menschen auf der Strasse.

«Tatsächlich», sagt Mustafa M., ein Aktivist der kurdisch-linken HDP, «hat er die Wahl doch verloren. Statt 61 Prozent, welche die beiden Parteien AKP und MHP, die jetzt das Referendum unterstützt haben, bei der letzten Wahl erzielten, hat er gerade mal 51 Prozent geholt, also zehn Prozent verloren. Das ist doch kein Ergebnis, mit dem sich ein radikaler Systemwechsel wie die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie rechtfertigen lässt. Wir werden jedenfalls jetzt nicht aufgeben.» Die Ergebnisse in den kurdischen Gebieten geben ihm recht. Erdogan hat hier mit grosser Mehrheit verloren.

Die regionale Spaltung des Landes

Ein Blick auf die politische Landkarte der Türkei zeigt, dass die Spaltung der Bevölkerung nicht nur ethnische, sondern auch ganz klar regionale Züge trägt. Wie erwartet haben die kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei Erdogans Präsidialsystem klar abgelehnt. Nicht zu erwarten war dagegen, dass bis auf eine einzige Ausnahme auch alle grossen Städte des Landes dagegen gestimmt haben. Nicht nur die drei Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir, auch Adana, Antalya und Mersin haben mit Nein gestimmt. Die gesamte entwickelte Türkei entlang des Marmarameeres, an der Ägäis und an der Mittelmeerküste lehnt Erdogans Führerdiktatur teilweise mit über 70 Prozent ab. Mit ähnlich hohen Zustimmungsraten haben dagegen die unterentwickelte anatolische Provinz und die Schwarzmeerküste für Erdogan gestimmt.

Diese Spaltung, die sich schon bei vorangegangenen Wahlen angedeutet hatte, ist jetzt manifest geworden. Es gibt einen modernen säkularen Teil, einen islamisch-konservativen Teil und die kurdischen Provinzen. Gewonnen hat Erdogan lediglich im islamisch-konservativen Anatolien und bei den Wählern im europäischen Ausland, vor allem in Deutschland.

«Anatolien übernimmt nun endgültig die Macht im Land», meint deshalb ein Istanbuler Intellektueller, der eines der besten Antiquariate in der Stadt betreibt. «Meine Kunden werden verschwinden», befürchtet er. «Istanbul verändert sich weiter zum Schlechten. Offen gesagt», meint er, «ich kann mich nicht erinnern, schon einmal so frus-triert gewesen zu sein wie heute.»

Wahlbeobachter: Kritik unerwünscht

Nach seinem Sieg beim Referendum in der Türkei hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan jede Kritik der internationalen Wahlbeobachter scharf zurückgewiesen. «Dieses Land hat die demokratischsten Wahlen durchgeführt, wie sie kein einziges Land im Westen je erlebt hat», sagte Erdogan gestern Abend. An die Adresse der Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europa- rates gerichtet sagte Erdogan in einer kämpferischen Ansprache vor dem Präsidentenpalast in Ankara: «Kennt erst mal eure Grenzen.» Der Bericht der Wahlbeobachter sei politisch motiviert und werde von der Türkei nicht anerkannt. Beide Organisationen hatten die Wahlen scharf kritisiert. Insbesondere die Entscheidung der Hohen Wahlkommission am Sonntag, auch nicht offiziell zugelassene Wahlunterlagen als gültig zu werten, wurde als gesetzeswidrig gerügt.(sda)

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